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Hoffnungen und Enttauschungen

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Die Jugend hatte durch Jahre auf das erlösende Wort gewartet, nicht mehr auf einen Führer, den Herren neuer Kriege, sondern auf ein System der Ordnung. Mit welcher Freude wurde 1944 der Aufstieg des MRPS begrüßtl Schimmerte nicht in seinem Programm „Freiheit, Hoffnung, Leben“, der soziale und politische, der Friede Europas auf? Aber die Bewegung blieb in der Formel einer Partei stecken. Und später, der Sieg der englischen Arbeiterpartei, verhieße er etwa nicht den Jungsozialisten die Schaffung einer freiheitlichen und doch sozialen Gesellschaft? Die Bürokratie ersetzte jedoch recht schnell den ursprünglich revolutionären Schwung, und der westliche Sozialismus erschöpfte sich im Nationalismus, den man bereits überwunden wähnte. Damit wurden Schumacher und Bevin die Vollender des bürgerlichen Zeitalters, sie sind nicht die Schöpfer, sondern nur die Nachahmer.

Alle politischen Parteien und Programme sprachen zur Not noch den Verstand an, niemals das Gefühl, das nun einmal notwendig ist, damit eine Jugend sich mit ihrem Idealismus und ihrer Einsatzbereitschaft an eine Idee hingibt. Durch Jahre hatte man hoffen dürfen, im Begriff „Europa“ das Leitmotiv einer europäischen Renaissance zu finden. Nichts Größeres gab es nach den Zerstörungen, nach all den Irrtümern der Nationalstaaten, als die von allen erkannte geistige Einheit Europas durch eine politische zu vervollständigen. Aber die europäische Idee ließ den mystischen Aspekt außer acht. Vom famosen Rat der europäischen Völker bis zum Europarat selbst wurden alle Methoden des klassischen Parlmentarismus angewendet. Schillernde Abenteurer und routinierte Politiker, die in den Wandelgängen der Abgeordnetenhäuser bekannt waren, erhofften sich durch eine internationale Aureole eine Stärkung der eigenen Position. In unzähligen Entschließungen, Kommissionen, Expertensitzungen wurde die einzige Idee immer mehr gelähmt, die nicht nur die zwei Generationen versöhnt, sondern der Geschichte Europas eine andere Richtung gegeben hätte.

Die politische Jugend, welche noch In Montreux und Den Haag die Galerien füllte und sich zu Europa als einem politischen und sozialen Progmnm bekannte, verstummte. Ihr blieb der Kampf um Einfluß und Positionen vielfach unverständlich, Sie könnt Ihr großes Hoffen mit dem tatsächlich Erreichten nicht in Einklang bringen. Aus einer Atmosphäre der Unzufriedenheit und des vergeblichen Wartens wuchs die Sammlung derer, die im Sommer 1950 die Grenzpfähle niederbrannten, und im November zu Tausenden nach Straßburg gekommen waren, um für ihr Europa zu demonstrieren. Aber noch deutlicher spiegelte sich an jenem Abend neben der Erwartung die Angst vor der Zukunft ab, die nur noch von den Gesetzen des Krieges beherrscht zu sein schien. Der französische Jungsozialist, der deutsche Student, der junge saarländische Minenarbeiter, die belgischen und holländischen Katholiken, für einen Augenblick verbunden, würden sie über die ideologischen und nationalen Gegensätze hinweg zu einer Einheit der Doktrin und des Handelns vorstoßen? Und man mußte sich weiterfragen, ob es dieser ersten wahrhaft internationalen europäischen Masse gelingen würde, aus sich heraus die unumgänglichen Postulate einer Tiefenwirkung zu schaffen. In ihnen spiegelt sich noch in erster Linie eine negative Vorstellung, nicht mehr für Staaten einzutreten, die weder politisch noch sozial imstande waren, ihnen eine Befriedigung zu gewähren und eine organische Gliederung und Entwicklung der Kriegsgenerationen zuzulassen.

Nur noch wenige erwarten ein Wunder oder appellieren an die Kräfte der Vernunft. Gelähmt von den Perspektiven künftiger Auseinandersetzungen, macht sich ein Defaitismus breit und wird bereits die kollektive Demission des Abendlandes akzeptiert. Die Hoffnungen 6ind bereits auf andere Kontinente gerichtet, denn neben der Unmöglichkeit eines gesicherten Lebens scheint es auch an großen Charakteren zu fehlen, die als Vorbild dienen könnten.

Ein Gespräch in dieser Beziehung wird dem Verfasser unvergessen bleiben. Führende Vertreter politischer Jugendorganisationen suchten einige Persönlichkeiten von solcher moralischer und politischer Autorität, daß die Jugend in ihnen die tatsächlichen Lenker des europäischen Schicksals erkennen würde. Nach Stunden vergeblicher Diskussion, während man Namen um Namen aufzählte und immer wieder Einwendungen machte, unterbrach man dieses Gespräch. Und im Schweigen erwuchs eine beinahe metaphysische Angst um die Zukunft einer Kultur, der sich die Anwesenden auf das tiefste verbunden fühlten. Alle diese Systeme und Regierungen, Parteien, Politiker und Staatsmänner tauchten auf und wurden wieder zerrieben. Enttäuschung begleitete ihr Verschwinden.

Nur noch ein Glaube blieb, jener, in dem Europa groß geworden war und seine tiefsten Werke geschöpft hatte. Allerdings ist es nicht mehr der konventionelle Glaube, der in der Selbstverständlichkeit seines Daseins ein Asyl bietet, sondern ein revolutionäres Fordern, das Fragen stellt

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