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Straßburger Spiegel

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Mit dieser Formel dürfte wohl am besten die Arbeit der ersten Hälfte der Session 1950 des Europarates in Straßburg gekennzeichnet werden. Aber auch die Lage Europas im allgemeinen läßt sich damit charakterisieren.

Unwillkürlich drängt sich ein Vergleich mit Griechenland auf, als bereits Philipp von Mazedonien seine Eroberungsplänö in die Taten umzusetzen begann, während die Stadtstaaten sich in gegenseitiger Eifersucht, nach endlosen Streitigkeiten, erschöpften und selbst das einst mächtige Athen den Luxus innerer Parteikämpfe zuließ. Jeder einsichtige Grieche wie jeder Europäer der Gegenwart mußte jedoch zu der Schlußfolgerung gelangen, daß nur die politische und wirtschaftliche Einheit die immer stärker werdende Gefahr von außen bannen könne. Aber die Reden eines De-mosthenes verhallten ebenso ungehört wie die flammenden Worte eines Andre Philipe in Straßburg.

An Stelle der großen Entscheidung, des historisch-revolutionären Aktes, den sich noch sehr viele Europäer in diesem Sommer erwarteten, wurde die fruchtlose Diskussion gesetzt, die Analyse an Stelle der Synthese, und die Projekte verdrängten die befreiende Tat.

Nach den mageren Ergebnissen des Europarates 1949 konnte man die Hoffnung aussprechen, daß die europäischen Politiker nach den Ereignissen der Weltpolitik 1950 die Notwendigkeit einer föderativen Gestaltung des Kontinents erkennen und diesem höheren Programm zuliebe ihre staatlichen und parteipolitischen Interessen vergessen würden.

Dabei konnte die zweite Tagung des Europarates unter wesentlich günstigeren Voraussetzungen beginnen, als dies noch 1949 der Fall war. Die Erstarkung Europas in wirtschaftlicher Hinsicht ist weiter fortgeschritten, und der Schuman-Plan eröffnet vollkommen neue politische und wirtschaftliche Aspekte. Die europäische Zahlungsunion ist endlich geschaffen und eine Reihe von Abkommen mußte naturgemäß die Zusammenarbeit der europäischen Völker fördern. Besonders jedoch erschien die Aufnahme der deutschen Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied vorteilhaft für eine endgültige Regelung in staatsrechtlicher Hinsicht. Die deutsche Bundesrepublik trat damit erstmalig nach dem Krieg außenpolitisch offen in Erscheinung, und es war die Möglichkeit gegeben, das bisherige Provisorium in diesem Teile Europas durch eine europäische Föderation zu ersetzen.

Aber die Sitzungen des Europarates in Straßburg spiegelten viel mehr die Meinung der Außenministerien wider als die Wünsche der Völker. Eine Atmosphäre der Skepsis und des Fatalismus beeinflußte Straßburg, wesentlich verschärft durch die Ereignisse in Korea. Wohl rollte sich ein glänzendes Schauspiel des klassischen westlichen Parlamentarismus ab, aber hinter den Worten kam die konstruktive Seite zu kurz.

Gewiß, man sprach europäisch, das heißt jede politische Tendenz Europas hatte Gelegenheit, die Argumente der Gegenseite vielfach deutlicher und sichtbarer als bisher kennenzulernen und zu studieren. Praktische Vorschläge verschiedenster Natur — so in erster Linie jener für die Schaffung eines europäischen Gesetzbuches der Sozialversicherung — werden, wenn sie die Klippe des Ministerrates glücklich umschifft haben, sogar sehr fruchtbare Erfolge zeigen. Aber auch der Völkerbund in Genf konnte in seinem Kampf gegen Rauschgift oder Mädchenhandel den europäischen Völkern manchen Nutzen bringen, und die außergewöhnlich sinnvolle Tätigkeit des Internationalen Arbeitsamtes in Genf hat auf dem praktischen Gebiete die Tätigkeit des Völkerbundes sinngemaB ergänzt.

Derartige Konventionen hätten aber auch durch eine Kommission internatio-neler Experten abgeschlossen werden können. Dem Europarat war jedoch die Aufgabe gestellt worden, die politische Binheit .Europas zu begründen, und gerade in diesem Punkt sind keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. Auf der einen Seite vertraten England und die skandinavischen Staaten die Ansicht, daß vorläufig von einer politischen Autorität internationalen Charakters selbst mit beschränkter Gewalt nicht gesprochen werden kann. Großbritannien setzt damit seine traditionelle Politik fort; es will keine weitgehenden Engagements dem Kontinent gegenüber eingehen. Auf der anderen Seite versucht es jedoch, jede über eine bloße Koalition hinausgehende Verbindung der kontinentalen Mächte zu verhindern. Und doch kann es auch Großbritannien nicht gleichgültig sein, ob am Kontinent eine Reihe oft nicht mehr lebensfähiger Mittel- und Kleinstaaten jeder politischen und wirtschaftlichen Krise ausgesetzt bleiben oder sich ein geeinter Raum bildet, der auf alle Fälle Englands Unterstützung verlangen und seine Mittlerrolle zu einer atlantischen Gemeinschaft in Anspruch nehmen würde.

Aber Erwägungen solcher Art zählen meist wenig, wenn gefühlsmäßige und historische Erinnerungen eine an und für sich schon steife Bürokratie paralysieren. England hofft anscheinend noch immer, seine durch Jahrhunderte erprobte Politik als Schiedsrichter der europäischen Verhältnisse aufrechterhalten zu können.

Sicherlich sind sich einige weitsichtige englische Politiker bewußt, daß damit den Tatsachen der Gegenwart nicht genügend

Rechnung gelragen wird. Aus Sicherheitsgründen — wie aus wirtschaftlichen — können sie einer engeren Zusammenarbeit Großbritanniens mit dem Kontinent nicht ausweichen. Diesem Umstände Rechnung tragend, propagieren die englischen Sprecher die sogenannte „funktionelle Methode“, das heißt sie erklären sich einverstanden, für ganz bestimmte Sektoren des militärischen oder wirtschaftlichen Lebens der Gründung übernationalen Organisationen zuzustimmen. Aber auch in diesem Fall werden Reserven verschiedenster Natur angeführt. Einem sehr problematischen Gerichtshof für Menschenrechte konnte England noch zustimmen. Aber schon das klassische Beispiel der „funktionellen Methode“, der Schuman-Plan, fand nicht die Zustimmung der englischen Regierung, wenngleich in letzter Zeit auf der Insel vielfach Stimmen laut werden, diese Haltung zu revidieren.

Die skandinavischen Staaten schlössen sich vorbehaltslos der englischen Auffassung an. Beziehungen besonderer Art, sei es wirtschaftlicher oder kultureller Natur, wie die gleiche Form des sozialistischen Regimes machen den Gleichklang dieser Politik verständlich. Auch Holland, dessen europäische Politik außer Frage steht, ist nicht gewillt, eine zu starre Position gegenüber England einzunehmen.

Aber nicht nur Staatsinteressen spielten ihre Rolle, sondern auch die Parteipolitik bestimmte nachdrücklichst die Motive einzelner Delegationen und Abgeordneten in Straßburg. Besonders die oft zwiespältige und schwankende Haltung der westländischen Sozialisten läßt sich dadurch erklären. Die Hoffnungen, die Erwartungen aller Sozialisten richten sich auf das sozialistische Experiment Englands, wo endlich einmal der humanitäre Wohlfahrtsstaat begründet werden soll. Darf man diese kühne sozialistische Planung Europa entziehen, die allein imstande scheint, das Wort vom sozialistischen Europa zu verwirklichen?

Die Beobachter erwarteten von den christlichen Demokraten gewisse Initiativen und originelle Ideen. Aber die Parteien Bidaults, Adenauers, Degasperis konnten nicht zu jener Harmonie und Geschlossenheit gelangen, um der politischen christlichen Vertretung einen entsprechenden Eindruck zu versichern. Sie nahmen eine oft resignierte Haltung ein, als ob die schwere Verantwortung in den Ländern ihre Tätigkeit international nicht zur vollen Entfaltung reifen lasse. Freilich, die christlich-demokratischen Delegierten arbeiteten brav und sachlich in den Kommissionen, s\e lieferten wertvolle Beiträge, ihnen verdankt man wichtige Ausführungen über die Schulfragen, das Elternrecht, den Eigentumsbegriff. Besonders in der sozialen Kommission wurde von dieser Seite wertvolle-und wichtige Arbeit geleistet.

Aber es fehlte die Phantasie und Kühnheit, die erforderlich sind, um aus diesem Sammelpunkt des christlichen Europa ein Zentrum der Aktivität zu schaffen.

Der etwas zu hastig gebaute Europa-Palast in Straßburg ist jetzt in Ruhe versunken. Die fieberige Atmosphäre der Wandelgänge ist verweht.

In gelassener Hoheit blickt die Kathedrale, das Meisterwerk mittelalterlicher Architektur, der Ausdruck des abendländischen Glaubens, über den Rhein, dem Schicksalsstrom zweier Völker und Europas. Abseits der verworrenen Atmosphäre der Straßburger Tagung kristallisieren sich hier ewige Werte. Um sie zu retten, müssen alle Kräfte aufgebaut werden. Im Herbst werden die Beratungen in Straßburg wieder beginnen. Es ist jetzt wohl hoch an der Zeit, daß sich dann auch die Christen besinnen und aus der Stagnation aufwachen, jenseits der Erwägungen personeller Natur, gewisser programmatischnationaler Unterschiede sich zum einheitlichen Handeln bekennen, damit die einzig noch bestehende geistige Kraft Europas auch ein großes politisches Ziel befruchtet: die Einheit Europas.

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