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Westeuropa auf dem Wege zur Staatenfamilie ?

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Den Haag, 26. April

Das Wort „Ordnung“ hat heute in weiten Kreisen des niederländischen Volkes seinen guten Klang verloren, seit es an die Reglementierungen der Besetzungs- und der Nachkriegszeit erinnert. Der auch in Holland heute um sich greifende staatliche Interventionismus wird von der in der Zeit der liberalen Weltwirtschaft groß gewordenen holländischen Unternehmer- und Kaufmannsschichte als „Kommandowirtschaft" und Erschwerung der Privatinitiative empfunden. Er wird für die nur langsame Erholung der Niederlande von Kriegseinwirkungen verantwortlich gemacht. Ist es ein Wunder, daß in einem Lande, das durch großen Freiheitssinn und seine liberale Wirtschaftsauffassung allgemein bekannt war, die Gedankengänge eines „Neo- li be r a 1 i s m u s“, wie sie in dem Werk „Civitas Humana" des Genfer Gelehrten Wilhelm Roepke vertreten werden —- das Buch wurde bereits in die niederländische Sprache übersetzt —, große Zustimmung finden? Der „dritte Weg“ des Genfer Professors liegt in der Mitte zwischen der absoluten freien Volkswirtschaft und dem „Dirigismus“ der Planwirtschaft.

Die Gründung einer neuen liberalen Partei in den Niederlanden, die sich „Volkspartei für Freiheit und Demokratie“ nennt, ist bereits als eine Reaktion auf die „Kommandowirtschaft“, wie Roepke die staatliche Planwirtschaft zu nennen pflegt, aufzufassen. Die neue Partei hat, den veränderten Zeitumständen Rechnung tragend, die christlichen Grundlagen der europäischen Kultur sowie auch gewisse hieraus resultierende Forderungen sozialer Natur in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Es mag sein, daß auch manche Unternehmer aus dem katholischen Lager neben den vielen politisch obdachlos gewordenen ehemaligen Linkswählern, sich dieser neuen Partei zuwenden. Der Liberalismus des 20. Jahrhunderts muß sich aber hierüber vollständig im klaren sein, daß er nicht durch eine Rückkehr zum historisch-ökonomischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts einen Damm gegen das drohende Chaos der Welt aufzuwerfen vermag.

Ohne Anerkennung der sozialen Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber den wirtschaftlich Unselbständigen und Schwachen und damit der Freiheit und Menschenwürde auch der nichtbesitzenden Klassen, gibt es keinen Liberalismus als wirklichen Vertreter- der Freiheit.

Der Kampf zwischen Staatsinterventionismus und freier Verkehrswirtschaft soll noch in diesem Jahre durch ein neues Gesetz, das eine Gliederung der Wirtschaft in vertikal geordnete Betriebsgruppen vorsieht, entschieden werden. Es ist der „dritte Weg" und er nähert sich in großen Zügen der katholischen Soziallehre und dem Grundsatz der Subsidiarität. Nicht mehr die „Kommandowirtschaft“ des Staates, nicht mehr die der menschlichen Natur wesensfremden Züge einer staatskollektivistischen Wirtschaftsauffassung, sondern der Gedanke der Einheit in der Vielheit der wirtschaftlichen Erscheinungsformen, bewirkt durch die richtige Hinordnung und Verbindung der Teile zum Ziel, das bonum commune, sollen dem schon zwei Jahre im Stadium der Vorbereitung und Beratung befindlichen neuen Wirtschaftsgesetz den Weg zum sozialen Frieden und wirtschaftlichen Erfolg weisen.

Die Niederlande formen heute keine abgeschlossene Einheit mehr in der Vielheit der europäischen Staatenfamilie. Die histo- rishe Entwicklung und die technische Evo lution der letzten 100 Jahre haben die Völker der ganzen Welt, nicht nur Europas, immer näher zueinandergebracht. Es ist daher naheliegend, daß der Gedanke der europäischen Föderation auch in Holland immer mehr Anhänger gewinnt. Anläßlich der im Februar dieses Jahres in Utrecht abgehaltenen katholischen Akademikertagung stand auch die Theorie und die Verwirklichung des föderalistischen Gedankens als Hauptthema auf der Tagesordnung. Zwei Weltkriege und das Versagen des Völkerbundes haben den souveränen Machtstaat, eine logische Folge des Liberalismus des ,19. Jahrhunderts, für einen Aufbau einer neuen, besseren Staatenwelt als unfähig erwiesen. Der wirtschaftlich bedingte, immer mehr zunehmende Einfluß Amerikas, mit seiner Tradition an föderalistischem Gedankengut /zwingt zu größerer Nüchternheit gegenüber der Kleinstaaterei Europas. Die Voraussetzungen für die Durchführung des Marshall-Planes, gemeinsame Planung aller beteiligten Länder, werden das treibende und aktive Element des föderativen Gedankens in Europa bilden. Die wirtschaftlichen Lebensinteressen nehmen auch in der Politik heute einen so beherrschenden Platz ein, daß eine Trennung sozialökonomischer und politischer Probleme im öffentlichen Leben genau so wenig mehr möglich ist, wie die Trennung sozialer und ökonomischer Probleme im Leben der Wirtschaft.

Mit dem Versuch,'die Niederlande, Belgien und Luxemburg unter dem Titel Benelux zu einer wirtschaftlichen Einheit zu organisieren, wurde die erste Etappe auf diesem Wege zurückgelegt. Kaum ein Jahr später erreichte man im März dieses Jahres mit dem auf 50 Jahre geschlossenen politischen Vertrag von Brüssel die zweite

Etappe, diesmal bereits zusammen mit' Frankreich und England. Der durch diesen Vertrag aufgestellte gemeinsame permanente konsultative Rat, der die fünf Vertragspartner auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet vereinigt, weist bereits in die Zukunft einer geschlossenen westeuropäischen Staatenfamilie. Organ dieser neuen Gestaltung ist der Wirtschaftsrat, Rat der Außenminister der fünf Länder, der bei einstimmigen Beschlüssen ein entscheidendes, bei mehrstimmigen nur ein beratendes Votum für die beteiligten Staaten hat und dann jedem die Freiheit des Entschlusses vorbehält. Es wird sich erweisen müssen, daß der Weg der sozialen Technik und konstruktiven wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der letzten Endes allen Völkern zugute kommt, leichter zum Ziele eines Weltfriedens führt als diplomatische Aktionen allein. Der Vertrag nimmt nach dem Vorschlag S p a a k s gegenseitige Hilfe bei einem militärischen Angriff von außen und Stützpunkte auf Gegenseitigkeit und gemeinsame Beratungen der Kriegsminister in Aussicht.

Ordnung oder Chaos lautete die Devise der Haager sozialen Woche. Der im M a i in der gleichen Stadt stattfindende föderative europäische große Kongreß wird vielleicht schon die dritte Etappe auf dem Wege zur Genesung Europas darstellen. Mehr als 10.000 Teilnehmer aus aller Welt werden von den fünf großen einladenden Organisationen („United Europe Movement", Präsident Winston Churchill, „Conseil Franęais pour l’Europe Unie“, Präsident EdouardHerriot, „Ligue Independante de Cooperation Europ enne, Präsident Paul vanZeeland, „Union Europeenne des Federalistes“, Präsident Dr. B. B r u g- mans und ,’Nouvelle Equipe Internationale" der christlich-demokratischen Parteien Europas) dieses Kongresses erwartet. Diese Tagung wird um so größere Bedeutung haben, als auch die Teilnahme einer großen Zahl von Abgeordneten der englischen Labour Party angesagt ist, die Andeutung eines starken Rechtskurses, der aus der Mitte der englischen Regierungspartei einsetzt und möglicherweise überhaupt das bestehende Kräfteverhältnis im englischen Parlamentarismus .nach rechts verschieben wird. Die tausende Gäste aus aller Welt werden gemeinsam mit dem in seiner europäisch-humanistischen und christlichen Tradition so tief verwurzelten niederländischen Volk vielleicht der Schicksalsfrage dieser Zeit eine unmißverständliche Antwort im Sinne eines erneuten und einigen Europas geben.

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