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Das ausbleibende Edio

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Wenn die Welt die abschüssige Bahn weiter verfolgt, der sie sich nun schon weitgehend überlassen hat, muß man sich von heute an darüber klar sein, daß die Voraussetzungen in raschem Verschwinden begriffen sind, durch die und dank derer geschaffen wurde und zur Wirksamkeit kam, was immer wir zutiefst bewundern, was immer an Wunderbarstem bis heute entstanden ist.

Paul Valery, Die Politik des Geistes, Wien 1937, Seite 49

Der Gedanke einer Einigung Europas ist so alt wie Europa selbst. Als Europa Grie-chenlahd war, hieß diese Einigung Attischer Seebund; als Europa Rom war, hieß sie das Imperium; als Europa anfing, die heutige Ausdehnung zu nehmen, hieß sie Heiliges Römisches Reich. Der große Minister des vierten Heinrich von Frankreich, Sully, plante, die führende Stellung einer Nation auf dem Festland in einer europäischen Einigung zu verankern. Leibniz widmete sein halbes Leben dem Traume, die geistige Einigung Europas durch eine Versöhnung der protestantischen Kirchen mit der katholischen zu fördern. Die europäische Gemeinschaft, die Napoleon auf den Schlachtfeldern nicht gelang, wollte nach seinem Sturze die Heilige Allianz auf dem Gebiete von Regierungs-maximien erreichen. Einer der leidenschaftlichsten Vertreter jenes Nationalismus, der die Haiige Allianz zu Fall gebracht hatte, Mazzini, rechtfertigte die revolutionäre Erhebung, der er anhing, während seines Schweizer Exils durch die Herausgabe einer Zeitschrift, welche die Idee propagierte, nur durch Herstellung der nationalen Freiheiten könne die notwendige Einigung Europas verwirklicht werden. Und je weiter dann im Laufe der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die nationale Aufsplitterung dieses Kontinents fort-schrjtt, desto eifriger besorgt zeigten sich die Regierungen um Aufrechterhaltung des sogenannten europäischen „Konzerts“. Die Briten nannten es europäisches „Gleichgewicht“. Aber immer wieder erwies sich der nationale Zersetzungsprozeß stärker als das Streben nach einem europäischen Bund, und beide Kriege haben nur jenen gefördert. Dennoch hat nach dem ersten Kriege; Briand den Mut aufgebracht, die Fahne! einer europäischen Union zu erheben, und unbeirrt durch all diesen“ stürmischen Gegenwind in der europäischen Entwicklung ist nun auch Churchill in die Fußstapfen Briands getreten.

Vorläufig, wie es scheint, mit keinem bessern Erfolg als sein französischer Vorgänger. Es ist eine Tatsache, die man auf das tiefste bedauern muß, vor dem man aber die Augen nicht verschließen kann: die politischen Chancen für eine allgemeine europäische Einigung sind gering in diesem Augenblick. Als Briand mit seinem Vorschlag . eines europäischen Staatenbundes hervortrat, gab es noch drei ungefähr gleich starke Großmächte auf dem Festland, von der Sowjetunion abgesehen, daneben ein allmählich zum Rang einer Großmacht aufrückendes Polen und den festen Block der Kleinen Entente. Aus diesen Elementen hätte sich eine Union aufbauen lassen. Wenn man sich erinnert, daß damals der Völkerbund noch einen vorwiegend europäischen Charakter hatte, daß sein Sekretariat in Genf residierte^ daß es ein allseits anerkanntes Minderheitenschutzrecht gab, daß man auch noch von einer restlichen Tradition jener europäischen Diplomatie sprechen konnte, die einst als politisches Elitekorps über den Frieden wachte und kriegerische Konflikte zu lokalisieren verstand, daß das Prinzip der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit gewisse — wenn auch langsame — Fortschritte machte, daß auch immer wieder ernste Anstrengungen in der Richtung einer allgemeinen Beschränkung der Rüstungen unternommen wurden urH daß über die geographische Ausdehnung Europas zu jener Zeit noch keine Zweifel bestanden, so bot die damalige politische Atmosphäre positive Voraussetzungen für einen europäischen Zusammenschluß Heute ist von jenen führenden Festlandstaaten, an die sich der Briandsche Vorschlag in erster Linie wendete, nur mehr Frankreich in weltpolitischem Sinne- als Großmacht anzur sehen, mit der sich etwa noch Italien über eine engere Zusammenarbeit verständigen könnte; daneben gibt es ein zerstückeltes Deutschland, dessen künftige Struktur ganz im Dunkel liegt, und ein Mitteleuropa, das seit Jahrhunderten noch keinen solchen Grad der Zerrüttung aufgewiesen hat; der neue Völkerbund hat seinen Sitz in den Vereinigten Staaten aufgeschlagen und hl der modernen Weltdiplomatie hat das Festland Europa aufgehört, eine aktive Rolle zu spielen; seit dem Dreißigjährigen Krieg war die allgemeine Unzufriedenheit und Unsicherheit kaum jemals größer als heute; von Schiedsgerichtsbarkeit zur Bereinigung der zahllosen Konflikte will niemand etwas wissen und alles neigt der Bestimmung durch die Macht zu; aus jeder Ritze dieses alten Kontinents schießt erneut nationale Gehässigkeit empor; und wer wagte nunmehr eine authentische Auskunft über die Grenzen Europas zu geben? „Erhebe dich, Europa!“ rief Churchill am 19. September in der Zürcher Aula. Aber — wo ist denn dieses Europa, das da aufgefordert wird, sich zu erhoben? Was ist dieses Europa noch? Ist es überhaupt noch ein politischer Begriff, da es selbst als geographischer bedenklich ins Schwanken geraten ist?

Schon am 4. Oktober kam Churchill in Blackpool nochmals darauf zurück, daß nur die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa einen neuen Krieg verhindern könne. Als erste Voraussetzung einer solchen Union bezeichnet Churchill die deutschfranzösische Verständigung. Das ist klar gesehen und mutig gesprochen. Vorläufig werden aber die Anhänger einer solchen Verständigung in Frankreich wenig geschätzt und in Deutschland als Narren behandelt. Andere sind der Ansicht, mit einem europäischen Zusammenschluß müßte im Donauraum begonnen werden. Allein hier, wo bis zum Jahre 1918 eine solche Union bestanden hat, hat die nationale Ab-schließung alte wertvolle Verbindungen beschädigt oder aufgehoben. Der kürzlich in Paris vollzogenen Unterzeichnung der Friedensverträge mit Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Finnland folgte ein Schwärm von Protesten auf den Fuß, die man als Kriegserklärungen mit ungeladenen Gewehren bezeichnen kann. Unter solchen Auspizien eine Gesellschaft zur Förderung der Vereinigten Staaten von Europa in Leben rufen, wie es Churchill eben i tat, heißt dem stolzen Wahlspruch Wilhelms von Oranien huldigen, nach welchem man auch ohne Hoffnung etwas unternehmen und auf dem einmal Unternommenen beharren soll, auch ohne etwas erreicht zu haben. Damit die Idee eines europäischen Staatenbundes überhaupt einer offiziellen Diskussion erst einmal nähergerückt werden könnte, gäbe es nach “unserer Auffassung eine einzige Voraussetzung, neben der alle anderen sekundärer Natur wären, nämlich eine Verständigung zwischen Großbritannien und Rußland über die Art, die Aufgaben und die Ausdehnung eines solchen europäischen Staatenbundes. Denn wollte eine dieser beiden großen europäischen Hankenmächte ohne vorherige Verständigung mit der andern die Einigung Europas betreiben, so würde sogleich die andere darin den Versuch einer ihr feindlichen Blockbildung' erblicken. Das weiß man in England sehr gut und deshalb hat dort die Labour Party ihre Mitglieder verpflichtet, sich gegenüber der von Churchill gegründeten Organisation „Männer des guten Willens“, die sich die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa zum Ziele setzt, ablehnend zu verhalten. Schon nach der Züricher Rede Churchills schrieb die „Times“: „Many will see his speech a call not for a United States of Europe but for a United States of Western Europe“ („Viele werden in seiner Rede einen Aufruf nicht für die Vereinigten Staaten von Europa, sondern für die Vereinigten Staaten von Westeuropa sehen“). Und weiter: „Mr. Churchills Rede beruhte in der Tat auf der Annahme, daß Europa bereits zwischen Osten und Westen geteilt ist.“ Das wäre natürlich der allerschlimmste Aus-' gangspunkt für eine Einigung Europas. Und was hier die „Times“ rund heraussagte, ist der eigentliche Grund, weshalb die kühne Initiative Churchills in der' öffentlichen Meinung des Festlandes so gut wie ohne Echo blieb. Sogar .die Presse in jenen Ländern, in denen es heute wirklich eine Preßfreiheit gibt, begnügte sich damit, die Churchillschen Reden von Zürich und Blackpool sowie die Gründung der Gesellschaft „Männer des guten Willens“ kommentarlos zu registrieren. Keine europäische Regierung hat auf das Schweigen verzichtet, das unter diesen Verhältnissen als beste Taktik erschien. Wenn es in der politischen Atmosphäre, in der sich gegenwärtig Europa befindet, irgendeine Chance für eine Einigung Europas gäbe, so müßte der erste Schritt von einer europäischen Festlandsregierung erfolgen, die nicht im Verdacht stünde, in einseitiger Weise britische oder russische Interessen zu vertreten. Aber wo wäre heute eine solche? Vielleicht könnte es am ehesten noch Italien sein, wenn dieser Staat nicht jetzt von einer neuen nationalistischen Welle “erfaßt würde.

Nein, die politischen Sterne stehen trotz zeitweiser günstiger Konstellationen bei den Londoner Konferenzen leider zur Stunde nicht vielversprechend für eine allgemeine europäische Einigung. Vielleicht gerade deshalb wird unter einem unpolitischen, rein kulturell-ethischen Aspekt diese Einigung von den besten Geistern als ein: im höchsten Maße erstrebenswertes Ziel empfunden. Denn wer wollte es leugnen,' daß es einen europäischen Geist gibt und daß sich dieser in Verwirrung, Not und Bedrängnis befindet? Alle, die diesem Geiste angehören, drängt es heute, sich, weitab-von allen politischen Vorstellungen, in einer heiligen Gemeinschaft zusammenzusdiließen. Was sie bindet, liegt jenseits aller Politik und ihr Bekenntnis heißt:

Wir glauben an eine höhere Ordnung, an ein dem Menschen eingeborenes Sittengesetz, an die unendliche Entwicklung des menschlichen Geistes, an die Erreichbarkeit eines . dauernden Friedens und an die Unzerstörbarkeit unserer innern Welt, die auf den Rechten der Persönlichkeit und auf der christlichen Lehre ruht.- Wir verurteilen jede Form der Gewalt im privaten wie im öffentlichen Leben und alle auf Macht, Vorherrschaft und Unterdrückung aus-, gehende Tätigkeit, besonders auf wirtschaftlichem Gebiete, sei es, daß eine solche von einzelnen, von Gruppen oder von Regierungen ausgeübt wird. Wir sind daher entschlossene Gegner jeder Übersteigerung der Staatsidee, aller Intoleranz und Gehässigkeit, kapitalistischer Willkür . und Ausbeutern. Alles da, was wir verurteilen, wollen wir mit allen Mitteln des Geistes und der Überredung, niemab mit Gewalt, bei jeder Gelegenheit mutig erkämpfen. Auf diese Weise glauben wir mitzuwirken am Aufbau einer Welt, die glücklicher ist als die heutige.

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