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Zwischen berstenden Blöcken

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Als Kolumbus 1492 Amerika entdeckte, war dieser riesige Kontinent nichts anderes als eine immens große, aber weltabgeschlossene Insel, auf der die Einwohner ein von der Welt unberührtes Eigendasein führten. Heute, ein halbes Jahrtausend später, gibt es keinen Punkt mefhr auf dieser Erde, auf dem man leben kann, ohne in den Strom der politischen Ereignisse hereiragezogen zu werden. Österreichs Außenpolitik muß daher in Funktion zu den Weltereignissen gesehen werden. Der Ost-West-Konflikt war seit dem Ende des zweiten Weltkrieges die bedeutsame Konstante in der Weltpolitik. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Supermächten unserer Zeit, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, ist auch vorderhand und weiterhin der wichtigste Faktor, der für die weltpolitische Verflechtung jedes einzelnen Staates seine Rolle spielt. Wir waren bisher gewohnt, diese beiden Staaten als die unbestrittenen Führungsmächte der beiden Blöcke zu betrachten. Gegenstand dieser Ausführungen wird eine Beobachtung der Bewegungsvorgänge in beiden Lagern, im östlichen wie im westlichen, sein, die erkennen läßt, daß das System der außenpolitischen Beziehungen in der Welt von morgen eine differenziertere und komplexere Struktur aufweisen wird.

Es gilbt zwei bedeutsame Gründe dafür, warum sich gerade für Österreich eine Beobachtung der Ost- West-Beziehungen aufdrängt. Der erste Grund ist ein geographischer. Wir leben nicht auf einer weitabgewandten Insel. Ina Gegenteil. Typisch für unsere Position ist die haarscharfe Grenzlage an der Schnittlinie zwischen Ost und West. Unsere ideologische Einstellung, unser weltanschauliches Bekenntnis zur freien okzidentalen Lebensform verbindet uns mit der westlichen Welt. Aber nur 40 Kilometer ostwärts von Wien beginnt die Welt unserer Nachlbam, mit denen wir in guten Beziehungen zu leiben wünschen, für die eine andere gesellschaftspolitische Ordnung, die kommunistische, maßgelbend ist.

Wir können uns diesem geographischen Faktum der Lage zwischen Ost und West nicht entziehen. Ob wir es wdlllen oder nicht, jede Veränderung der Ost-West-Beziahun- gen schafft Situationen, mit denen auch Österreich konfrontiert’wird.

Eine solche Veränderung bahnt sich derzeit an.

Der gesprengte Block

Der Grund, warum sich der bipolare Zustand der Weltpolitik zusehends seinem Ende nähert, liegt darin, daß in beiden Blöcken politische Entwicklungen eingesetzt haben, die auf eine Polyzentrierung der Kräfte sowohl in dem einen wie auch im anderen Block schließen lassen.

Unter Stalin war der Kommunis mus ein festgefügter monolithischer Block. Der Polyzentrierungsprozeß im Weltikommunismus wurde offenkundig, als die Differenz zwischen Peking und Moskau in den Formen scharfer öffentlicher Polemiken aus- getraigen wurde. Es ist für uns gewiß nicht einfach zu unterscheiden, wieviel an dieser Kontroverse dogmatischen, wieviel davon einfach machtpolitischen Charakters ist.

Der dogmatische: An Stelle einer einzigen marxistisch-leninistischen Wahrheit, die Moskau durch mehr als 45 Jahre hütete, gibt es nunmehr zumindest eine zweite, die von einer anderen großen „Gegenkirche”, die sich in Peking befindet, vertreten wird. Es kann aber eines Tages auch mehrere Teilkirchen geben. Der Ausdruck „Dogmatismus”, „Sektierertum”, „Spalter” sind oft gebrauchte Vokabeln und deuten an, wie sehr den am Streit Beteiligten die Gefahr der Sektenibildung bewußt ist.

Realitäten und Zahlen

Nun 1st aber diese Auseinander- setzung gewiß nicht nur ein ideolo- gischer Machtkampf. Es liegen ihr auch andere, wirksame Realitäten zu- grunde. Beide Regime können, sowohl was die Anzahl der Menschen als aucti die Größe des Territoriums an- langt, den Anspruch erheben, Groß- mächte ziu sein. Die Sowjetunion ist der flächenmäßig größte Staat der Welt. 22,4 Millionen Quadratkilometer, auf denen 224 Millionen Menschen wohnen, die VcOksrepublik China umfaßt 9,7 Millionen Quadratkilometer Fläche, auf der schätzungsweise 720 Millionen Menschen zusammengedranigt leben. Vor große Probleme isit China durch die demo- graphische Entwicklung gestellt. Die Bevölkerung wächst jährlich um 10 bis 15 Millionen Einiwohner. Der Unterschied im ökonomisch-tech- nischen Standard zwischen den bei- den Ländern 1st immens. Die So- wjetunion ist seit dem ziweiten Weltkrieg zur ziweitgrößten Wirt- schaftsmacht aufgestiegen. Sie hat seit dem Jahre 1917 gigantische wirtschaftliche und technische Fort- schritte gemacht. Sie hat ihre revo- lutionäre Phase überwunden. Durch in den Besitz der Atombomfbe und die Anzahl der konventionellen Streit- kräfte ist sie heute die zweitgrößte Miliitärmacht der Welt. Das Verhal- ten der sowjetischen Führer in | einigen internationalen Krisen hat i gezeigt, daß sie sich der Verantwor- i tung, die ihnen durch die Verfügung über die modernsten Waffen auf- erlegt ist, bewußt sind.

Hie Europäer — hie Asiaten

China befand sich zur Zeit der j Machtübernahme durch Mao, 1949, noch in einam halbfeudalen und halbkoloniälen Zustand und ist heute noch in der revolutionären Phase seines Aufbaus. Die eigenen Schwierigkeiten hindern es aber nicht, siįindungs- und kraftbewußt zu sein und in der asiatischen Welt die Führerrolle anzustreben. China erhebt heute vor allem einen ideologischen Monopolanspruch, der die chinesische Form des Kommunismus für die Befreiung der kolonialen und halbkolonialen Länder erhebt.

Nicht unerwähnt möchte ich die zu Tage getretenen rassischen Antagonismen lassen. Die Russen sind Europäer. Dies gereicht ihnen in der Auseinandersetzung mit den Chinesen zum Nachteil. Es hat bereits mehrere Konferenzen gegeben, bei denen China den Ausschluß der Sowjets mit der Begründung verlangt hat, daß sie keine „Farbigen” seien, und, was schwerer wiegt, den Vorwurf erhoben, daß die Sowjetunion keine asiatische Macht sei.

Und so entstehen an Stelle eines einheitlichen Zentrums mehrere Brennpunkte der Bewegung. Kein kommunistisches Land kann mehr beanspruchen, alleiniger Hüter marxistisch-leninistischer Rechtsgläubigkeit zu sein. Die kommunistischen Parteien beanspruchen das Recht „auf den eigenen Weg” zur Verwirklichung der kommunistischen Revolution. Dieses Recht „auf den eigenen Weg” führt auch dazu, daß die kommunistischen Staaten mehr und mehr als selbständige nationale Faktoren der Außenpolitik in Erscheinung treten und eine differenzierte Außenpolitik betreiben.

Prüfstein Vietnam

Wir sind in diesen Wochen Zeugen einer großen diplomatischen Friedensoffensive zur Beendigung des Vietnamkonfliktes. Diese nach allen Richtungen vorstoßende Aktivität illustrierte deutlich, daß es keine bipolare Regelung eines Konfliktes mehr gibt. Vor zehn Jahren hätte eine Verständigung Moskaus mit Washington vermutlich genügt, um den Konflikt zu beenden. Heute ist dies nicht mehr möglich. Beweis, daß es kein kommunistisches Führungsmonopol mehr gibt; Beweis für die politische Präsenz Chinas im asiatischen Raum.

Im Vietnamkonflikt stehen wir heute vor einer bedeutenden Wendung. Sollten die Friedensbemühungen erfolglos bleiben, müssen wir mit einer neuen Stufe militärischer Aktivität miit allen Risken, die eine solche Steigerung nach sich zieht, rechnen. In einem solchen Falle stünden wir wieder einmal am Ende einer Periode der Entspannung. Die Vereinigten Staaten würden sich vor eine sehr schwerwiegende Belastung ihrer Beziehungen zur Sowjetunion gestellt sehen. Moskau hat in diesem Konflikt keine freie Hand. Hanoi, selbst wenn es geneigt wäre, Schluß zu machen, weiß um seine geographische Nähe zu Peking, die nicht ohne politische Konsequenzen ist. Der Polyzentrismus erschwert und erleichtert also zugleich die Situation.

Der pluralistische Westen

Es ist eine eigenartige Koinzidenz, daß sich in dem Maße, in dem sich das kommunistische Lager auf eine polyzentristische Auffächerung hin entwickelt, der Westen sich seinerseits einer pluralistischen Struktur nähert. Ebensowenig wie die kommunistischen Regime auf Grund der geschilderten Entwicklung aufhören werden, kommunistisch zu sein — ein solcher Schluß wäre nicht nur voreilig, er wäre falsch —, ebensowenig braucht man anzunehmen, daß das westliche Bündnis, das seinen Wert erwiesen und in den letzten 15 Jahren seine Probe bestanden hat, deshalb zerfallen wird, weil einzelne westliche Länder zu verschiedenen. politischen Problemen eine uneinheitliche Stellung einnehmen.

Für uns Österreicher am augenfälligsten, weil unsere Interessen am meisten berührend, sind die Gefahren, die sich aus der wirtschaftlichen Spaltung Europas durch EWG und EFTA einerseits, anderseits durch de Gaulles Verhältnis zu Großbritannien ergeben.

General de Gaulle mag eine Reihe von Gründen gehabt haben, um den Eintritt Großbritanniens in den Gemeinsamen Markt zu verhindern. Eine der wesentlichen Befürchtungen des französischen Staatspräsidenten war die, daß Großbritannien auf Grund seiner besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten eine Art angelsächsisches Bindeglied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten werden könnte. Das hieße in seiner Vorstellung, daß Europa nicht eine eigenständige und unabhängige Politik betreiben, sondern nur noch als Annex der Vereinigten Staaten dienen würde. Schon in seiner Erklärung am 15. Mai 1962 warnte de Gaulle vor einem integrierten Europa, dessen „Föderator” der Präsident der Vereinigten Staaten wäre. Und ebenso vehement wendet sich de Gaulle gegen ein supranationales Europa und betont, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein anderes Europa möglich sei, als das „der Staaten”. Alles andere seien Mythen, Phantasie, Schein und Fiktionen.

Noch keine Zauberformel

Die de Gaullesche Europaformel, die einzig die „Staaten” als die real wirkenden Kräfte in der europäischen Politik anerkennt, tritt so anderen Europavorstellungen gegenüber, die eine sukzessive Abgabe von Souveränitätsrechten an übergeordnete europäische Organe vorsieht, wobei die juridische Formel von der eines europäischen Staatenbundes bis zu einer bundesstaatlichen Konstruktion reicht. Die politische Zauberformel freilich für ein dergestalt geeintes Europa, von der man annehmen könnte, daß sie die Zustimmung aller europäischen Partner findet, ist bis heute noch nicht gefunden. Ein Partner Europa, wie er Kennedy vorschwebte, als er seine Interdepedenzerklärung vom 4. Juli 1963 abgab, existiert nicht.

Diese politische Grundsatzfrage über die Konstruktion der westeuropäischen Gemeinschaft, die sich in den Meinungsverschiedenheiten über die wirtschaftliche Integration manifestiert, tritt auch deutlich in der Diskussion über die Konstruktion der militärischen Allianz zutage. Das atlantische Bündnis wird 1969 auslaufen. Wir können bereits heute mit Bestimmtheit annehmen, daß de Gaulle, der sehr bestimmte Vorstellungen über die Reform der NATO hat, spätestens zu diesem Zeitpunkt. eine Revision des Vertrages verlangen wird.

Alles fließt…

Daraus kann ersehen werden, daß die westliche Welt vor einer Reihe schwerwiegender Probleme steht, für die sich in naher Zukunft keine Lösungsmöglichkeiten abzeichnen. Wir müssen daraus den Schluß ziehen, daß die Periode des Dualismus in den Beziehungen zwischen Ost und West zu Ende geht. Die bipolare Welt hört als Organisationsprinzip in den Ost-West-Beziehungen zu bestehen auf. In beiden Lagern gibt es außenpolitische Zielsetzungen und Vorstellungen, die sich von denen der jeweils führenden Supermächte unterscheiden. Frankreich ist in der Frage der Anerkennung Chinas einen eigenen Weg gegangen, während die Vereinigten Staaten bisher an ihren Vorstellungen ihrer Chinapolitik weiterhin festhielten. In den Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa gehen heute die Jugoslawen, Rumänen und Polen ihre besonderen Wege. Es ist ein weltweiter Auflockerungsprozeß im Gange, der uns in der Auffassung bestärkt, daß der globale Status quo vermutlich nicht mehr länger aufrechterhalten wird. Dieser Prozeß wird freilich Jahre benötigen. Wir werden keineswegs von einem Tag auf den anderen spektakuläre neue Situationen erleben. Daß wir uns auf eine pluralistische AVelt zubewegen, bedeutet lediglich, daß sich in beiden Blöcken gewisse Bindungen lockern und vielfach eigenständige Verhaltensweisen zutage treten, die das Zweifrontendenken, wie es zur Zeit des kalten Krieges der Fall war, zum Verschwinden bringen.

Und Österreich?

Alle diese Entwicklungen berühren auch uns.

Die Grundmaxime jeder österreichischen Außenpolitik für die nächsten Generationen lautet: Wahrung der Unabhängigkeit des Landes und Sicherung der Integrität des Staatsgebietes. Österreich wird nirgendwo politisch oder militärisch Anschluß suchen. Wirtschaftlich müssen die Beziehungen unseres Landes zu bestehenden oder in Entstehung begriffenen Integrationsgebilden so geregelt werden, daß sie mit den eingegangenen internationalen Verpflichtungen im Einklang stehen.

Eine Analyse der weltpolitischen Vorgänge kann uns nur in der Auffassung bestärken, daß Österreich im Jahre 1955 einen guten Weg gewählt hat. Das heißt nicht, daß die Neutralität für uns immer ein bequemer Wag sein wird. Die Schwierigkeiten, die sich aus der Herbeiführung eines wirtschaftlichen Arrangements mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergeben, machen uns dies deutlich genug. Aber wenn der Weg Österreichs in der Neutralität auch nicht immer der bequemste sein wird, so glaube ich sagen zu können, daß er für diesen Staat, der an der Grenzlinie zwischen Ost und West liegt, jener ist, der den österreichischen Interessen stets am besten dient.

Die Frage, in welchem gesellschaftlichen System wir heute und künftig leben, bleibt vom Status der Neutralität völlig unberührt. Das österreichische Volk hat sich durch klare politische Entscheidungen für die westliche Form der Demokratie und gegen den Kommunismus als Weltanschauung und Gesellschafts system entschieden. An dieser Option des österreichischen Volkes darf sich auch in Hinkunft nichts ändern.

Und noch ein letzter Gesichtspunkt: Die für die österreichische Außenpolitik Verantwortlichen werden diesem Lande nur dann ein glückliches Schicksal gestalten, wenn Österreich stets den Eindruck hinterläßt, die Verpflichtungen aus der Neutralitätspolitik ernst zu nehmen. Die österreichische Regierung, die jetzige und die künftigen, darf daher keine Handlungen setzen, aus denen der Schluß gezogen werden könnte, daß wir die Politik der Neutralität nicht folgerichtig und mit allen Konsequenzen, die uns dieser Status auferlegt, betreiben. Es genügt nicht, daß wir den Anschein einer Neutralitätspolitik erwecken: unsere Politik muß vielmehr so gestaltet sein, daß sie Vertrauen bei allen Mächten, die an der Aufrechterhaltung der österreichischen Unabhängigkeit interessiert sind, erweckt. Nur wenn wir eine eindeutig erkennbare, eine klar definierte, eine in jeder Hinsicht verläßliche Außenpolitik betreiben, wird es möglich sein, Österreich als stabilisierenden Faktor in Europa und in der Weltpolitik überhaupt zu erhalten. Wir müssen auch 1975 und 1985 unseren Platz in der Welt von morgen sichern. Wir können nicht erwarten, daß die Welt in zwanzig Jahren frei von Krisen und frei von Spannungen sein wird. Wir können nicht erwarten, daß der Kommunismus in den nächsten zwanzig Jahren als gesellschaftliches System verschwunden sein wird. Wir können nicht erwarten, daß das gesellschaftliche System, das wir selbst als das richtige erkannt haben, überall in der Welt sich durchgesetzt haben wird. Die Welt von 1985 wird von Menschen bewohnt werden, von denen wir nicht wissen, welche gesellschaftspolitische Option sie treffen, welches politische System sie in ihren Staaten verwirklichen.

Die Zeit erfordert eine aktive, eine dynamische Außenpolitik. Eine Außenpolitik, die in der Überzeugung gründet, daß es kein Problem mehr auf dieser Erde gibt, mag es sich in geographisch noch so entfernten Zonen abspielen, das uns unberührt läßt. Eine Außenpolitik, die sich der kollektiven Verantwortung der Völker für alle Weltvor- gänge bewußt ist. Eine Außenpolitik, die vor dem Phänomen Atombombe mit ihren erschreckenden Konsequenzen nicht hilflos resigniert. Eine Außenpolitik, die in ihre Konzeption das Wissen einbezogen hat, daß die nukleare Drohung, die seit Hiroshima über uns liegt, die Menschheit bis an ihr Ende als finsterer, stummer Schatten begleiten wird.

Österreich wird bestehen, wenn wir uns den Mut, die Kraft und die Fähigkeit Zutrauen, zu jeder Zeit, in jeder Situation mit der gesamten Menschheit im großen Weltprozeß die Verantwortung zu teilen, die Verantwortung, die uns zukommt: die Verantwortung einer zivilisierten europäischen Nation.

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