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Der Kongreß tanzt nicht mehr

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Die Geschichte von den fünf Türen des herrlichen Kongreßsaales im Hause Ballhausplatz Nr. 1 ist allgemein bekannt. Die Türen sollen gebaut worden sein, weil keiner der fünf Monarchen, die am Wiener Kongreß von 1814 teilgenommen haben, bereit gewesen sein soll, seinen Kollegen den Vortritt beim Betreten des Saales zu überlassen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß sich die Geschichte so verhalten hat. Viel wahrscheinlicher ist, daß der Architekt die fünf Türen ge-

baut hat, . um die strenge klassizistische Regelmäßigkeit, welche den ganzen Saal beherrscht, zu verstärken. Zwei der Türen führen nirgends hin; wenn man sie öffnet, steht man vor einer Mauer — eine nette Symbolik für einen Saal, in dem Gipfelpolitik gemacht wurde Wie alle Legenden besitzt aber auch die von den fünf Türen einen allgemeineren Grund und tiefere Bedeutung. Der Streit um den Vorrang tauchte tatsächlich unzählige Male auf dem Wiener Kongreß auf. Der Kongreß war einberufen worden, damit das Napoleon abgenommene Europa neu aufgeteilt werde. Da mag mancher Teilnehmer sich durch die Erlangung formeller Präzedenz eine Beeinflussung der Zuteilungen versprochen haben.

Mit den Besitzverhältnissen wurden aber damals auch die Beziehungen der Staaten untereinander neu geregelt, und so kam es auf dem Wiener Kongreß zur eigentlichen Entstehung der heute üblichen Formen, Rechte und Pflichten im Verkehr der Staaten untereinander. All das ist damals wenig systematisch festgelegt worden; außerdem kam es seither zu immer neuen Anwendungen und Auslegungen. Daher hat das UNO-Komitee für internationales Recht vor einiger Zeit beschlossen, Antang März dieses Jahres eine internationale Zusammenkunft in Wien abzuhalten, auf der die bisher so unvollständigen oder überhaupt ungeschriebenen Gesetze des internationalen diplomatischen Verkehrs kodifiziert werden sollen. Dieses Unternehmen wurde, wie üblich, von der Presse sensationell aufgeputzt und „Zweiter Wiener Kongreß“ genannt. Vom Unterschied zwischen den beiden Kongressen bekommt man eine Vorstellung, wenn man bedenkt, daß wegen dem im Jahre 1814 100.000

Fremde hergekommen waren und daß sich der Wiener Hof die sechsmonatige Bewirtung der hohen Gäste und die öffentlichen Festivitäten anläßlich des Kongresses 30 Millionen Gulden hat kosten lassen — ungefähr das Vierfache dessen, was heute für die gesamte österreichische Außenpolitik in einem ganzen Jahr ausgegeben wird. Der Aufwand erfüllte den Zweck, einen günstigen Hintergrund für eine der größten außenpolitischen Aktionen Österreichs in der Geschichte zu schaf

fen, um die Monarchie wieder in den Besitz der von Napoleon geraubten Länder und Gebiete zu bringen. Die Spesenrechnung ging damals auf — Österreich erhielt alles zurück. Bis auf weiteres.

Ausgehverbote für Diplomaten

Der Kongreß im März 1961 wird uns bedeutend weniger kosten — und einbringen. Es werden immerhin 500 bis 600 Diplomaten und Experten des internationalen Rechtes aus 110 Ländern herkommen. Sie werden nicht über die Neuaufteilung Europas beraten, sondern zum Beispiel darüber, ob es richtig ist, daß in manchen Ländern akkreditierten Diplomaten sich nicht außerhalb der Hauptstadt des betreffenden Landes frei bewegen dürfen, weiter, wie weit und auf welche Weise ihnen Immunität vor den Gesetzen des Gastlandes einzuräumen ist (zum Beispiel bei den heute so häufigen Autounfällen), ob sie inländische Angestellte sozialversichern müssen, ob und unter welchen Umständen ein Staat überhaupt diplomatische Beziehungen mit einem anderen aufnehmen kann, wie groß die Höchstzahl der Angestellten einer ausländischen Vertretung sein soll, wie viele Nebenbüros diese errichten darf (Dinge, die insbesondere durch die Entstehung neuer Staaten in Afrika und Asien aktuell geworden sind) und dergleichen mehr.

Sparsames Österreich

Seit dem Kongreß von 1814 haben sich die Methodik und Systematik der internationalen Beziehungen enorm entwickelt. Österreich gehört heute nicht weniger als 96 internationalen Organisationen an, von denen jede irgendeinen Sektor der internationalen Zusammenarbeit betreut. Wir tragen zum Funktionieren der UNO und

ihrer Spezialorganisationen finanziell mit 29 Millionen Schilling im Jahr bei, das sind 0,43 Prozent der Gesamtausgaben der UNO. Der Kassenverwalter unseres Außenministeriums weist mit Recht darauf hin, daß durch diesen und andere sogenannte „Durch- lauF’beträge ein falscher Eindruck vor der Öffentlichkeit vom Umfang der dem Außenministerium zur eigenen Verwendung verbleibenden Gelder entsteht. So muß das Außenministerium auch für die Erhaltung, Instandsetzung und Neubauten der Gebäude unserer Vertretungen im Ausland — heuer mit 10 K Millionen Schilling — auf- kommen. Weil die Brasilianer sich eine funkelnagelneue Hauptstadt — „Brasilia" — errichteten, muß Österreich dort — so wie alle anderen Staaten mit diplomatischen Vertretungen in Brasilien — seiner Gesandtschaft ein neues Haus bauen lassen; es kostet uns

Außenpolitik als Wissenschaft

Die Länder müssen heute ihre soviel inhaltsreicher und komplizierter gewordenen internationalen Aufgaben mit umfangreicherer Organisation und qualifizierteren oder, sagen wir, geschulteren Menschen als zur Zeit des Wiener Kongresses lösen. Der Angestellte des höheren auswärtigen Dienstes muß die Eigenschaften, die vordem seinem Stande unerläßlich waren und auch heute noch sind; Sprach- und politische Kenntnisse, Takt, Umgangsformen, mit den Kenntnissen der weltpolitischen und weltwirtschaftspolitischen Maschinerien, Umständen und Prinzipien verbinden. Das Wissen um die internationalen Sachverhalte des Ost-West-Komplexes, der Integration, EWG-EFTAs, der Entwicklungsländer und so weiter und all diese wieder in ihren Bezügen zueinander ist heute bereits eine Wissenschaft, und auch die Methoden sind wissenschaftliche. So unterhält das Außenministerium eine eigene Afrikakommission, der hohe Beamte, politische und wirtschaftliche Experten und Afrikanisten und die zwei Abgeordneten Toncic und Strasser angehören. Die Kommission ist bemüht, durch systematisches Sammeln von Daten, Erfahrungen und Kenntnissen, durch politische Kontakte und Reisen in den afrikanischen Ländern die Schwerpunkte der österreichischen Außenpolitik in Afrika auszuloten. Die Notwendigkeit solchen Vorgehens sowie der vom außenpolitischen Personal verlangten Qualitäten wird leider noch nicht von allen unseren maßgebenden Menschen erfaßt. Mancher von ihnen neigt dazu, skeptisch zu fragen: Lohnt sich denn all die Mühe und Arbeit und der Aufwand für ein so kleines, machtloses Land, wie wir es sind? Dazu kann man nur sagen: Es muß sich lohnen! Es ist die einzige Art, auf die wir heute nicht nur gemeinsam mit anderen Ländern den Frieden erhalten und die Wohlfahrt aller fördern, sondern auch unsere eigene Existenz schützen können.

Unsere Außenpolitik steht heute auf den Beinen zweier scheinbar völlig entgegengesetzter Axiome. Sie heißen: Selbstbescheidung und hohe Aktivität. Aus unserer Machtlosigkeit ergibt sich Selbstbescheidung und Verzicht auf jede Einflußnahme in den Bereichen der großen Mächte. Ja, infolge der Entwicklung in der großen Poli

2 Vt Millionen Schilling — kein enormer Betrag für einen Neubau. Österreich besitzt übrigens viel weniger Vertretungen im Ausland als andere Länder von gleicher oder gar geringerer Größe. Nachstehend die Zahlen unserer Vertretungen in Lateinamerika, Asien und Afrika sowie die der- Vertretungen anderer kleiner Länder mit folgenden Einwohnerzahlen: Schweiz: 5 Millionen Einwohner; Schweden: ungefähr 7 Millionen; Dänemark:

3 k« Millionen; Niederlande: zirka 10 Millionen; Norwegen: 3 K Millionen; Griechenland: 7k£ Millionen Einwohner. Aus der folgenden Aufstellung sind die einzelnen Staatsbudgets sowie die prozentuellen Anteile der jeweiligen Auswärtigen Dienste (m i t „Durchlauf“beträgen für UNO usw. und ohne diese) ersichtlich. Daraus läßt sich zum Beispiel entnehmen, daß das kleinere Dänemark, dessen Staatsbudget die Hälfte des unsrigen ausmacht, trotzdem um zwei Millionen Schilling mehr für auswärtige Angelegenheiten ausgibt. Alle jedoch werden 1961 viel, viel mehr Vertretungen im Ausland haben als wir.

tik bedürfen die Großmächte durchaus nicht Österreichs als „Brücke“; in jedem Fall können wir diese Funktion nicht als Grundlage unserer Außenpolitik für uns in Anspruch nehmen, es sei denn, daß sie uns bei dieser oder jener Gelegenheit von beiden Seiten angetragen wird. Dergleichen hat sich ergeben, als der Sitz der Atomenergiekommission nach Wien verlegt wurde; sicherlich würde es unserer eigenen Sicherheit enorm nützen, wenn die Mächte beschlössen, das Generalstabs- quartier einer internationalen Atomkontrolle gleichfalls in Wien aufzurichten, aber man kann schweT verlangen, daß sie es nur uns zuliebe tun. Um so mehr kann man sich freuen, wenn unser Land als geeigneter neutraler Diskussionsboden, wie nun für den bevorstehenden Diplomatenkongreß, in Anspruch genommen wird.

Wenig Bedarf für Vermittler

Umgekehrt jedoch bedarf gerade ein kleiner, neutraler Staat wie der unsere eines hohen Maßes an unprätentiöser Aktivität, um der immer für Neutrale vorhandenen Gefahr der Isolierung zu entgehen. Ein so kleines Land, knapp an der Grenzscheide zweier antagonistischer politischer Welten, muß jede Möglichkeit benützen, um sich vor aller Welt in Evidenz zu halten, um nicht vergessen und damit zum wirtschaftlichen oder politischen und schließlich militärischen Kampfboden für die Austragung

von Gegensätzen der Großen zu werden. Wir verfügen heute über zwei Bereiche für unsere internationale Aktivität: Wir nehmen im Europarat am geistigen Ringen um die politische Einigung Europas teil, wir tragen in der UNO den uns zukommenden Teil der Verantwortung an der Sicherung des Friedens und im OECD an der Solidarität und Entwicklungshilfe für die benachteiligten Länder.

Es bedarf auch verschiedener innerer Voraussetzungen, damit wir der Gefahr, zu einem Vakuum und Kampfboden für andere zu werden, entgehen. Da sind: eine auf demokratischer Basis und ständiger lebendiger Auseinandersetzung immer fester werdende nationale Einigkeit, ein ständiges Streben nach kulturellem, wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt, ein Sichfrei- machen von Vorurteilen und Unduldsamkeit, von atavistischen Restvorstellungen, wie sie sich bei uns noch immer zum Beispiel in Ressentiments gegenüber nationalen und anderen Minderheiten und in’ einer Laxheit gegenüber demokratischer Verpflichtung äußern oder unter der Oberfläche schwelen.

Ebenso müssen wir uns aber auch von einem verantwortungs- und gedankenlosen Leugnen der Verpflichtung zur Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit freimachen, das aus einer Zeit stammt, in der manche unter uns glaubten, in und mit diesem Land nichts zu besitzen, das zu verteidigen sich lohne. Da wir uns neutral erklärt haben und nicht bereit sind, unser nationales Schicksal irgendeiner fremden Macht, sondern nur uns selbst anzuvertrauen, müssen wir — bei allem leidvollen Wissen um kriegerische Gewalt — auch bereit sein, es zu verteidigen. Es fällt den Großen heute leichter, ihre Gegensätze anstatt mit den eigenen Atomwaffen durch mit konventionellen Waffen ausgerüstete, abhängige Länder auszutragen. Somit wird ein kleines Land, das nicht alle seine Möglichkeiten zum Ausbau seiner Selbstverteidigung in Anspruch nimmt, außenpolitisch und strategisch zum Niemandsland. Da wir uns von den Militärblöcken und -interessen der Großen freihalten, wird uns niemand der Aggressions- und Kriegsfreundlichkeit verdächtigen können, auch wenn wir alles tun, damit sich jeder einen Angriff gegen uns dreimal überlegt. Das wird uns und niemand hindern, am allgemeinen Friedenswerk mitzuarbeiten, sondern eher nur darin bestärken.

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