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Wandlung des Diplomaten

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Der zweite Weltkrieg, der das Antlitz Europas in so vielen Teilen wesentlich veränderte, hat unbemerkt auch eine europäische Institution einem Wandlungsprozeß unterworfen, die bisher alle Katastrophen zu überdauern vermochte: die europäische Diplomatie. Durch Jahrhunderte gehörten die Diplomaten zum Gesamtbild Europas. Durch Jahrhunderte waren sie, gleich den Generalstäblern, die großen Könner ihres Metiers, die cdlein die hundertfältigen Riten ihres Berufes beherrschten und deshalb allen Regimen unentbehrlich waren: diese be-, dienten sich ihrer, dhne auf ihre persönliche politische Einstellung besonderes Augenmerk zu richten. Wer die Personallisten der deutschen Diplomatie innerhalb der letzten fünfzig Jahre überprüft, wird entdecken, daß im auswärtigen Dienst des deutschen Kaiserreiches, der Weimarer Republik, in Hitlers Drittem Reich und der Bonner Republik die gleichen Namen auftauchen. Die polnischen, tschechischen, ungarischen Diplomaten in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg stammten zum überwiegenden Teil aus dem Dienst der alten Monarchie. Und wie viele Diplomaten gab es, die Ludwig XVI. gedient hatten, dann der Republik, Napoleon und wieder den Bourbonen. Chateaubriand, der berühmte „ėcrivain" und Ministerpräsident der französischen RestaurationsperiojJe, war unter Napoleon Legationsrat in Rom gewesen, und kehrte unter Ludwig XVIII. an den gleichen Ort als Gesandter zurück.

Dieses Phänomen erklärt sich aus der Mentalität der Diplomaten. Durch ihre Erziehung waren sie dazu gebracht worden, über die innerpolitischen Vorgänge ihres Landes so gut wie keine persönliche kritische Meinung zu haben — oder zu mindestens zu äußern —, sondern sich immer als Vertreter des Landes zu fühlen, ohne Rücksicht, welche politische Richtung dort am Zuge war. Bismarcks berühmtes Wort: .Meine Diplomaten müssen wie Unteroffiziere einschwenken, wenn ich es kommandiere“, erhellt besser als alle Erklärungen diese Erscheinung. Gleichgültig, wer in ihrer Heimat herrschte, war und ist es die Aufgabe und Pflicht der Diplomaten: zu beobachten, zu berichten, die politischen Interessen ihres Landes zu vertreten und — an letzter Stelle — zu repräsentieren. '

Hier nun wird ersichtlich, daß die Institution der europäischen Diplomatie innerhalb Europas in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einem wesentlichen Wandel gehorchen wird: es gibt keine selbständige Außenpolitik der europäischen Staaten untereinander. Die Zeit der Allianzen, der Pakte untereinander, die Zeit der Kämpfe einer gegen den anderen innerhalb Europas ist vorbei. Europa ist auf dem Wege, eine Einheit zu werden, ja es ist bereits, zumindest auf militärischem Gebiet, eine politische Einheit. Damit ist die Zeit der Diplomatie in ihrer bisherigen Form vorbei. Denn diese Diplomatie war ein Kind der Zerrissenheit Europas.

Die Einrichtung der ständigen Diplomaten entstand, als die Einheit Europas zerbrach, als sie gegen Ende des Mittelalters in eine Vielfalt von Staaten auseinanderfiel, die einmal in Bündnissen miteinander verbunden waren und ein anderes Mal sich als bittere Feinde gegenüberstapden, Sie hegten Mißtrauen gegeneinander und mußten es daher für notwendig halten, genauestens über die politischen Verhältnisse des anderen Staates unterrichtet zu sein, ihn unter ständiger Beobachtung zu halten und die eigenen politischen Interessen sofort und an Ort und Stelle vertreten zu sehen. Italien, dessen historisches Schicksal es immer war, dem allgemeinen Schicksal Europas um Jahrzehnte voraus zu sein, das Italien der Renaissance, in dem der Kampf aller gegen alle herrschte, das ein „Konzert der Mächte“ im kleinen darstellte, ist der Erfinder der ständigen Diplomatie. 1446 — ein besonderer

Augenblick der Geschichte — ernannte der Herzog Francesco Sforza von Mailand den Messer Nicodemo da Pontre- moli zu seinem ständigen Vertreter in Florenz. Er ist der erste ständige Gesandte in einer langen Reihe von europäischen Diplomaten. Die übrigen italienischen Staaten ahmten bald das Beispiel von Mailand nach, zuerst untereinander, dann über Italien hinausgreifend. Im 16. Jahrhundert folgten die übrigen europäischen Mächte. Zu vorteilhaft hatte es sich für alle Staaten erwiesen, überall „privilegierte Spione“ zu besitzen. Das 17. Jahrhundert, das Zeitalter Richelieus und der furchtbaren Zerrissenheit Europas, zeigte die Diplomatie in weiterer Ausbildung. Das 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Allianzen und der Kabinettspolitik, sah sie auf ihrem Höhepunkt. Das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des Wiener Kongresses, gab den Diplomaten mit den Beschlüssen eben dieses Kongresses ihr endgültiges internationales Statut. Die letzte große Zeit der europäischen Diplomaten war die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, da Europa zerfallen war in Sieger und Besiegte, in Allianzen und Bündnisse, in „Große“ und „Kleine Ententen“, in „Achsen“ und sonstige politische Gruppen. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges hörte das „Konzert der Mächte innerhalb Europas auf, das freie Europa ist eine politische Einheit. Von allen Aufgaben der europäischen Diplomaten ist innerhalb Europas — anscheinend — nur mehr eine einzige geblieben: dis Aufgabe,

ihren Staat zu repräsentieren. Eine sehr kostspielige Aufgabe.

Die Bezüge der Diplomaten waren zu allen Zeiten, gemessen an den Bezügen sonstiger Staatsbeamter, hoch. Dies ist nur zu begreiflich. Der Diplomat war und ist im Interesse seines Staates zu einem repräsentativen Leben verpflichtet. Er mußte große Gesellschaften geben, die Unsummen verschlangen, aber — notwendig waren. Denn auf diesen Veranstaltungen hörte das anscheinend so des- interessierte Ohr des Diplomaten so manches, was für seinen Staat zu wissen von eminentem Interesse war, stellte sich der Kontakt mit Ministem und sonstigen

Mächtigen der Welt her. Aber trotz der großen Bezüge hören, seit es ständige Diplomaten gibt, auch ihre Klagen über chronischen Geldmangel nicht auf. Viele Staaten halfen sich in der Weise, daß sie nur Personen mit großem Privat- vermögen in ihre auswärtigen Dienste aufnahmen. Der berühmte venezianische diplomatische Dienst sah in seinen Reihen nur die Söhne reichster Familien der Lagunenstadt. Das kaiserliche Deutschland verlangte bis knapp vor dem ersten Weltkrieg vor jenen, die sich um Aufnahme in das Auswärtige Amt bewarben, den Nachweis eines jährlichen Privateinkommens von 12.000 Goldmark, einer heute unwahrscheinlich klingenden Somme. Dos .Foreign Office in London dagegen verlangte .nur" ein Privat- ieinkommen, das um ran Drittel geringer war. Audi zum alten k. u. k. auswärtigen Dienst wurden nur Bewerber zugelassen, die über ein entsprechendes Privatvermögen verfügten, weshalb fast ausschließlich reiche Hocharistokraten im Außendienst der Donaumonarchie anzutreffen waren, so daß der österreichisch- ungarische Botschafter in Washington, Constantin Dumba, eine seltene Ausnahme darstellte.

Die großen Vennögen sind in Europa verschwunden, kein europäisches Außenamt kann noch von den jungen Leuten, die sich um Aufnahme bewerben, einen solchen Nachweis verlangen. Das feh lende Privatvermögen muß durch um so höhere staatliche Bezüge ausgeglichen werden. Was dies aber für die Staaten, besonders die kleineren und ärmeren, bedeutet,- kann man an dem Beispiel Österreichs ersehen, das seine Gesandten und Botschafter, um ihnen ein nur halbwegs standesgemäßes Auftreten zu ermöglichen, mit Staatsbezügen von 30.000 und 40.0000 Schilling ausstatten muß, wozu noch die Ausgabe für Dienstwohnung, Dienstauto und Dienerschaft hinzuzurechnen ist — Beträge also, die ein Mehrfaches der Bezüge des österreichischen Bundespräsidenten darstellen.

Diese hohen Bezüge brachten es ’mit sich, daß einzelne Staaten ihren diplomatischen Dienst einschränkten und einen Gesandten gleichzeitig bei mehreren Staaten akkreditierten. So ist der österreichische Gesandte in Stockholm auch bei Norwegen, Finnland und Dänemark beglaubigt, der österreichische Gesandte in Paris auch in Dublin, der österreichische Gesandte in Kairo fast bei allen Staaten des Vorderen Orients und in Abessinien. Dieser Zustand aber zeigt mehr als anderes auf, wie die heutige Diplomatie nicht mehr die alten Aufgaben, sondern nur mehr die der ‘Repräsentation zu erfüllen hat.

Welchem Schicksal eine solche Diplomatie entgegengeht, kann aus der Geschichte der deutschen Diplomatie zwischen 1867 und 1945 und der fremden Diplomaten in Deutschland während des gleichen Zeitraums ersehen werden.

Der Norddeutsche Bund, der 1867 begründet wui;de, beließ seinen Mitgliedern das aktive und passive Gesandtschaftsrecht, von dem fast alle weiterhin Gebrauch machten. Nur die immer sehr auf die Finanzen bedachten Hansastädte lösten ihre auswärtigen Vertretungen auf, so Lübeck seine Gesandtschaften in Paris, Kopenhagen und London, mit der Begründung, daß sie politisch bereits wertlos seien und nur überflüssiges Geld kosteten. Die Gründung des deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 — das ein Staatenbund mit einem erblichen Präsidium, welches den Titel „Deutscher Kaiser“ führte, war — beließ ebenfalls den Mitgliedstaate da aktiv und passive Gesandtschaftsredit. Gesandte im Ausland unterhielten allerdings nur mehr wenige Staaten, vor allem Bayern, das eigene Vertretungen in Wien, Paris, Petersburg, Bern, Rom und am Vatikan besaß, aber auch Sachsen und Württemberg. Politisch waren sie bedeutungslos, denn der bayrische Gesandte in Petersburg konnte doch neben dem deutschen Botschafter keine eigene, selbständige Politik betreiben. Und ebensowenig der sächsische Gesandte in Wien oder der württembergische in Brüssel. Alle diese Gesandtschaften waren höchstens noch als ein Akt höfischer Courtoisie aufzufassen. Ähnlich war die Bedeutung der Gesandtschaften, die auswärtige Mächte bei den deutschen Staaten unterhielten. Besonders Rußland hatte ein ganzes Netz von Vertretungen über Deutschland ajis- gebreitet: in Berlin, München, Dresden, Stuttgart, Hamburg, Weimar, Baden- Baden, Darmstadt, Altenburg befanden sich kaiserlich-russische Gesandte. Von den 18 Vertretungen, die es 1914 in München gab, hatte nur eine einzige eine — allerdings hervorragende — Bedeutung, die päpstliche Nuntiatur. Eine Bedeutung, die sich schon durch die Personen, die an ihr wirkten — der spätere Kardinal Friihwirth, der spätere Kardinaldekan Marchetti-Selvaggiani, der spätere Papst Pius XII. — kundtat. Die eminente Bedeutung der Münchner Nuntiatur aber lag nicht darin begründet, daß sie sich m. der bayrische Hauptstadt befand,

sondern daß sie die einzige in ganz Deutschland, somit die inoffizielle Nuntiatur für das deutsche Kaiserreich war.

Noch bedeutungsloser waren die Gesandtschaften, die die deutschen Staaten untereinander unterhielten. Bis 1918 gab es 104 (!) deutsche Binnenvertretungen, die den betreffenden Staaten enormes Geld kosteten, sehr beliebt waren (da sie gar keine Arbeit verursachten), aber politisch keinen Nutzen brachten. Eine geringe Ausnahme bildeten nur die Gesandten der deutschen Staaten „bei Preußen und beim Reich", und dies deshalb, weil sie Mitglieder des deutschen Bundesrates waren, der eine Art „House of Lords" darstellte, nicht aber dank ihres diplomatischen Charakters.

Die Weimarer Republik räumte mit dem aktiven und passiven Gesandtschaftsrecht der deutschen Staaten großzügig auf. Nur Bayern konnte sich eine Zeitlang eine Sonderstellung retten und besaß sowohl einen eigenen Gesandten beim Heiligen Stuhl als auch einen französischen Gesandten und einen Nuntius in München. Sonst gab es außerhalb Deutschlands nur mehr Gesandte des Reichs; so waren mit der oben geschilderten Ausnahme alle auswärtigen Gesandten nur mehr beim Reich akkreditiert. Was aber trotz verarmter Weimarer Republik blieb, ' waren die deutschen Binnengesandten, die deutschen Gesandten .beim Reich", denen 1932 eine Art

Gegenstück in der Schaffung einer „Gesandtschaft des Reichs bei Bayern“ folgte.

Die Bonner Bundesrepublik hat mit allen diesen Erscheinungen endgültig aufgeräumt, sie allein besitzt das aktive und passive Gesandtschaftsrecht. Sie hat mit den Vertretungen der deutschen Staaten untereinander wie auch im Ausland und bei der Zentralregierung aufgeräumt, sicherlich nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern vor allem auch, weil in einem wirtschaftlich und politisch geeinten Deutschland diese Art von Diplomatie keinerlei Sinn mehr hätte, nicht einmal mehr den der Repräsentation.

Das künftige Schicksal der europäischen Diplomatie wird dem der deutschen Einzelstaaten freilich nicht ganz gleichen. Vor allem wird es noch Jahrzehnte dauern, bis Europa eine solche politische Einheit darstellen wird, daß nur mehr gesamteuropäische Gesandtschaften bei den außereuropäischen Staaten akkreditiert sein werden. Vielmehr werden nach wie vor eigene Diplomaten die Staaten des Kontinents in Washington, London, Moskau usw. vertreten. Auch beim Heiligen Stuhl wird nach wie vor jedes europäische Land eine eigene Vertretung besitzen. Dagegen wird sich eine Institution, ähnlich der deutschen „Gesandten beim Reich“, einstellen, sobald es eine europäische Zentralregierung geben wird. Einmal gab es schon ähnliches, als alle Mitgliedstaaten des Völkerbundes bei ihm eigene Gesand'schaften unterhielten. Aber auch europäische .Binnen‘-Diplomaten wird es nicht nur vorübergehend, sondern sehr lange, wahrscheinlich immer, geben, da ihre Aufgaben, zum Unterschied von den deutschen, nicht nur solche der Repräsentation oder der .Courtoisie“ sein werden ... Sie beginnen sich bereits deutlich abzuzeichnen. Das „Foreign Office“ in London ist eines der wenigen Außenämter, das die Teilung in diplomatischen und konsularischen Dienst noch so strikt einhält, daß ein Uberwechseln von einem Zweig in den anderen unmöglich ist. Fast alle übrigen europäischen Staaten dagegen haben dieses Prinzip längst fallengelassen. Es ist möglich, von dem konsularischen in den diplomatischen Dienst hinüberzuwechseln und umgekehrt. Die politische Bedeutung der europäischen Gesandtschaften in Europa tritt immer mehr in den Hintergrund; außer der gleichgebliebenen Pflicht der Repräsentation müssen die Vertretungen dagegen immer mehr Aufgaben konsularischen Charakters übernehmen, sie müssen sich mit einem Wort (außer Visaerteilungen) also mit dem sozialen und wirtschaftlichen Schutz der eigenen Angehörigen im fremden Lande befassen. Diese soziale Aufgabe wird eine der kommenden der europäischen Diplomatie in Europa sein. Die übrigen liegen auf dem kulturpolitischen und wirtschaftlichen Sektor. Wohl wirken vielfach an den Gesandtschaften Kultur- und Handelsattaches, aber doch nur in beschränktem Maße und mit solch beschränkten Mitteln, daß vielfach halboffizielle oder ganzstaatliche Pressedienste einerseits und Handelskammern andererseits gezwungen sind, sich einen eigenen „Außendienst“ aufzubauen. Im Interesse des gegenseitigen Kulturaustausches und der Kulturförderung, im Interesse der gegenseitigen vjirtschaft- lichen Erschließung aber wäre es von ungeheurer Wichtigkeit, daß alle Staaten ihre kulturelle, ihre wirtschaftliche und soziale Diplomatie ausbauen und Mittel, die vielfach für eine heute nicht męhr so notwendige Repräsentation aufge bracht werden, für diese Zwecke zur Verfügung stellen. Das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gefälle Europas ist derart groß, daß sich hier das neue und vielleicht größere Wirkungsfeld der kommenden europäischen Diplomatie eröffnet.

Aus dem diplomatischen Korps Europas sind in den letzten Jahrhunderten die politisch fähigsten Köpfe hervorgegangen, ein Metternich; ein Kaunitz, ein Bismarck. Zu oft nur haben die Mitglieder dieses Elitekorps ihre besten Kräfte, ihren ganzen Scharfsinn verwenden müssen, um die Zerrissenheit Europas zu vergrößern und die Uneinigkeit des Kontinents aufrechtzuerhalten. In aller Unordnung war ihr einheitlicher Lebensstil einer der wenigen Dinge, die noch ein einheitliches Europa vortäuschten. Jetzt eröffnet sich für die Diplomaten Europas endlich die Möglichkeit, ihre großen Kräfte für die neuen Aufgaben, die ihnen bevorstehen, einzusetzen und durch ihre Arbeit die Einheit Europas überhaupt erst Wirklichkeit werden zu lassen. Sie sind nicht überflüssig geworden, sondern sind auf neuen Gebieten notwendiger denn je.

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