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Der Kanzler des Gleichgewichts

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Das bedeutete zunächst eine Entspannung im Verhältnis der Ostmächte, vor allem Rußlands und Preußens, was auch die Haltung des Westens stark mitbestimmte. Neben Talleyrand hatte auch, (der Führer der englische „Friedensdelegatiifn“, H. R. Stewart Lord Castlereigh, sein klares Kontinentalprogramm. Es gipfelte in dem Bemühen, eine gewisse „balance of poicer“ ' zwischen den Mächten herzustellen, um die Unmöglichkeit neuer Hegemoniebildungen zu sichern. Deshalb förderte er die Stärkung Preußens im Westen als tatsächliche „Wacht am Rhein“ gegen Frankreich und die — etwas künstliche — Bildung eines ..Vereinigten Königreichs der Niederlande“, um Frankreich von der Rhein- und Scheidemündung fern*-zuhalten. (Der Herrscher dieser damaligen „Beneluxstaaten“ bezeichnete sich ja selbst als die „Schildwacht Englands auf dem Festland“.) Gleichzeitig sah man bestimmte Sicherungen vor, um einem weiteren Vordringen Rußlands gegen die europäische Mitte zu begegnen. Hier fand sich Castlereigh mit Metternich zusammen, der Preußens Forderungen in der sächsisch-polnischen Frage so weit als möglich berücksichtigte; die zweite deutsche Großmacht sollte eben auch ein entscheidendes Gegengewicht gegen den drohenden Osten bilden. Diese maßvolle Haltung bestimmte die führenden Politiker auch Frankreich gegenüber, so auch im Verzicht auf die damals durchaus mögliche Rücknahme des Elsaß, mochten auch die sogenannten „Reichspatrioten“ von Humboldt bis Stein, von Arndt bis Görres und zu der jungen Fürstengeneration diese Rückgliederung nachdrücklich fordern. Metternich wollte den Bourbonen nicht „von vornherein in Gegensatz zu seinem Volke bringen“, wollte überhaupt ein lebens- und bündnisfähiges Frankreich bewahren, weil er immer wieder dem wachsenden Schatten des „monolithischen“ Rußland über Europa begegnete.

Und diese Haltung bestimmte den „Chanceliier de Balance“ noch zu einem viel ernsteren, viel schmerzlicheren Verzicht, nämlich zur Absage an die Wiederherstellung des Reiches, des Sacrum Imperium Ro-manum. Auch hier war die Vorsorge für Sicherung und Erhaltung des Gleichgewichts maßgebend: Einmal sollte eine allzulange Grenze den österreichischen Raum nicht noch über das Fichtelgebixge und den Bodensee, also weiter nach Westen

ausweiten, und zum anderen hatte das Kaisertum durch die nicht mehr durchführbare Restituierung all des verlorenen reichsunmittelbaren und geistlichen Gebietes zu viel an echter Substanz eingebüßt. Und .noch ein Gedanke: Ein starkes deutsches Reich hätte einen neuen Faktor dem Staatensystem der Pentarchie hinzugefügt, es hätte das geschichtliche Gleichgewicht völlig verschoben, hätte Englands Widerstand aus wirtschaftlichen, Frankreichs und Rußlands Widerstand aus machtpolitischen Gründen schon im Augenblick seines Wiedererstehens hervorgerufen. An seine Stelle trat der „Durchl. Deutsche Bund“, der am 8 Juni 1815 sein „Grundgesetz“

unter dem Segen der „allerheiligsten und untheilbaren Dreyeinigkeit“ stellte „als eine feste und dauerhafte Verbindung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands und die Ruhe und das Gleichgewicht Europas“.

Es war Europa...

Eine ähnliche Lösung war auch für die Erneuerung Italiens geplant — Metternich wollte sich durchaus nicht mit der „relation geogra-phique“ jenseits der Alpen begnügen, sondern es sollte eine „Lega d'Italia“ unter dem Präsidium des Papstes geschaffen werden. Manches Opfer wurde den größeren Konzeptionen an Stelle opportunistischer Gegenwartslösungen gebracht, unter anderem verzichtete Österreich auch

auf eine Wiederherstellung seines Einflusses am Oberrhein, man dachte vorübergehend an die Bildung eines „Königreichs Burgund“ unter Erzherzog Karl, dem Sieger von Aspern. Dieses realistische Sich-Versagen hatte gerade in der modernen Geschichtsbetrachtung volle Anerkennung erfahren: „Auch Österreich ging als führende europäische Macht aus der Revolutions- und Napoleon-

Zeit hervor, nicht unmäßig gestärkt, aber klug konsolidiert... Es u>ar Europa, war sein größtes und mannigfaltigstes Stück; es lebte von Europa, durch Europa, für Europa“ (Golo Mann).

Auch der Deutsche Bund trug in seiner defensiven Struktur zur Sicherung der europäischen Mitte bei, sein föderativer Aufbau hat in früheren Jahrzehnten von Seiten des nationalen Liberalismus mehr Kritik erfahren, als er verdient hat und als auf ihn überhaupt zutraf. Schon die Tatsache der „auswärtigen Mitglieder“ gaben ihm ein geradezu europäisches Gepräge, waren doch der englische König als (neuer) König von Hannover, der König der Vereinigten Niederlande als Großherzog von Luxemburg und der König von Dänemark als Herzog von Holstein durch ihre Gesandten dauernd in Frankfurt vertreten. Übrigens in einem Frankfurt, das für den damaligen Bund eine weit harmonischere Mitte bildete als dies bei der gegen-

wärtigen „Bundeshauptstadt“ der Fall ist. Und das ausgewogene Urteil, das heute der „Deutsche Bund“ findet, läßt sich ohne Bedenken auch auf eine andere Organisation anwenden, die all den Verträgen ein noch höheres moralisches Gewicht verleihen sollte, wir meinen die „Sainte Alliance“ des Zaren Alexander I. Dieses patriarchalische Herrscherbündnis begegnete ja gleich

nach seinem Entstehen der kritischen Skepsis der praktischen Politiker, aber war es wirklich nur „ein tönendes Nichts“, eine „Theaterdekoration“, wie sie die meisten abtun wollten? War ihre Sprache zwischen der Kühle der Aufklärung und dem machthungrigen Empirismus des weiteren 19. Jahrhunderts nicht bemerkenswert, wenn es hieß, die Monarchen gelobten einander, „ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu begründen, die die unvergängliche Religion des Erlösers lehrt“? Auch in den politischen Beziehungen zu jeder anderen Regierung sollten allein die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens walten. Solch metaphysische Haltung trug ihren Wert in sich, mochten auch die anderen Mächte ihre Distanz in der vielfältigsten Weise begründen; sogar Amerika wurde zum Beitritt eingeladen, lehnte aber höflich ab, die Tage Monroes waren ja nicht sehr weit.

Eine Wiederherstellung der Ordnung

Schließlich sei noch ein Seitenblick auf die gesellschaftliche Bedeutung des Wiener Kongresses gestattet: Diese vornehmste Gipfelkonferenz der Neuzeit war sicher das glanzvollste Ereignis des 19. Jahrhunderts. Mit- und Nachwelt haben die geradezu überwältigende Gastfreundschaft des letzten römischdeutschen Kaisers und ersten Kaisers von Österreich gepriesen. Trotz der durch zwei Kriegsjahrzehnte völlig erschöpften Finanzen seines Reiches ließ sich der hohe Gastgeber die Fülle'der geschmackvollen'Empfänge. Theaterpremieren und 'Redouten die runde Summe von 16 Millionen Gulden kosten. Ausgehendes Empire und lebensfrohe Romantik schufen hier gemeinsam einen erlesenen Alltagsstil, der nach harten Verhandlungen und ermüdender Detailarbeit die Abende festlich erleuchtete, mochte man sich nun zur neuen Tanzform des Wiener Walzers entschließen oder in irgend einem der gleich gastlichen Adelspalais einem Klavierkonzert Ludwig van Beethovens lauschen.

So ist das Urteil über die eben kurz skizzierten Ereignisse mit wachsendem Abstand zu ihnen immer klarer und gerechter geworden. Heute findet Verlauf und Ergebnis des Wiener Kongresses, aber auch Gründung und Bestand des Deutschen Bundes inmitten aktueller Bemühungen um eine Neuordnung Europas volle Anerkennung. Denn damals wurde ein Europa geschaffen, dessen letzte Solidarität über alle Erschütterungen und Neugestaltungen eines Jahrhunderts hinweg doch bis zum Jahr 1917 Bestand behalten. Selbst ein so getreuer, nationalbewußter Schüler Rankes wie Max Lenz bewertete diesen historischen Bestand hoch, wenn er zu Anfang unseres Jahrhunderts schrieb: „Die fünf Mächte, deren Kämpfe und Bündnisse Europas Geschichte im 18. Jahrhundert beherrscht hatten, hielten auch jetzt wieder den Erdteil in ihrer Hand. Die Prinzipien, auf die sie gegründet waren, hatten sich nicht bloß erhalten, sondern waren nur stärker geworden und tiefer in ihr Gefüge eingesenkt, um so tiefer gerade, je mehr diese Mächte in Gefahr gestanden hatten.“ Und diese Würdigung sei noch durch das Urteil Golo Manns in seiner „Geschichte Europas im 19. Jahrhundert“ ergänzt: Er feiert den Zaren Alexander, Metternich, Castlereigh und Talleyrand als die „Großen Vier“ dieses europäischen Gipfeltreffens und schließt seine Darstellung mit den Sätzen: „Das Werk des Wiener Kongresses war Wiederherstellung der Ordnung, nicht Wiederherstellung des Alten. Zu einem guten Teil war es Neuordnung oder Übernahme, Rationalisierung, Modifikation des von Napoleon Geschaffenen.“

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