Heilige Allianz im Revolutionszeitalter

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Als schlichtes Schreiben war die Deklaration der herrschenden Monarchien zur Sicherung eines europäischen Friedens abgefasst - Wirkung zeigt sie dennoch bis heute.

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Als schlichtes Schreiben war die Deklaration der herrschenden Monarchien zur Sicherung eines europäischen Friedens abgefasst - Wirkung zeigt sie dennoch bis heute.

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Junge Huren, alte Nonnen /Hatten sonst schon viel gewonnen, / Wenn, von Pfaffen wohl beraten, / Sie im Kloster Wunder taten. / Jetzt geht's über Land und Leute / Durch Europens edle Weite! / Hofgemäße Löwen schranzen, / Affen, Hund' und Bären tanzen - / Neue leid'ge Zauberflöten - / Hurenpack, zuletzt Propheten! Man wird den Autor dieser mit April 1818 datierten Invektive gegen den tanzenden Wiener Kongress und die Heilige Allianz schwerlich erraten: Es ist der Weimarer Geheime Rat und Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe, der hier seinem Ärger Luft machte. Mit den Initialen der Baronin Juliane von Krüdener nannte Goethe die Urheberin der pietistisch-reaktionären Wende im schwankenden Charakter des Zaren Alexander I. Zwei triumphale Einzüge in Paris und die Huldigungen beim Englandaufenthalt 1814/15 waren ihm zu Kopf gestiegen. Nach dem Sieg über Napoleon geriet er vollends unter den Einfluss der Baronin, deren erotischer Roman Valérie einst Aufsehen erregt hatte. Der Zar, noch während des Kongresses unsteter Lebemann, gab sich zerknirscht religiösen Übungen hin. Öffentlicher Höhepunkt war die Militärparade bei Châlons-sur-Marne zu seinem Namenstag im September 1815: An sieben Altären wurde der Gottesdienst nach orthodoxem Ritus zelebriert. Baronin Krüdener schritt in schwarzem Kleid voran, Alexander folgte barhaupt. Für die Gäste der seltsamen Zeremonie wurde durch den gefeierten Koch Talleyrands, Carême, aufgetischt: Schtschi, die Kohlsuppe der russischen Bauern und Soldaten, ging unter den je 28 Hors d'oeuvres, Vorspeisen und Hauptgerichten unter.

Mystizismus und Farce

Solcherart eingestimmt verfasste der Zar das Gründungsdokument der Heiligen Allianz: "Im Namen der allerheiligsten und unteilbaren Dreifaltigkeit" sollten die Monarchen Österreichs, Preußens und Russlands in brüderlichem Geist als "Familienväter ihrer Völker und Heere" regieren. Die führenden Staatsmänner, Metternich und Castlereagh, die auf eine solche Ideologisierung ihrer Gleichgewichtspolitik gerne verzichtet hätten, mokierten sich über die religiösen Phrasen als Mystizismus und Farce. Trotzdem setzten Kaiser Franz, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Alexander am 26. September 1815 ihre Namen über die als schlichtes Privatschreiben abgefasste Deklaration.

Alle Monarchen waren zum Beitritt eingeladen, mit Ausnahme des (nichtchristlichen) Sultans - der Papst verweigerte sich wegen der Säkularisierungen. Großbritannien stand trotz der Unterschrift des Prinzregenten Georg (IV.) der Politik der Heiligen Allianz in der Folge reserviert bis ablehnend gegenüber. 1818 reisten die Monarchen persönlich nach Aachen zum Nachfolgekongress. Der Abzug der Besatzungstruppen aus Frankreich wurde beschlossen; das Bourbonenkönigtum Ludwigs XVIII. fügte sich in die Pentarchie der Großmächte. Die Namen der verbündeten Monarchen sind bis heute in Namen Aachener Straßen und mit dem Kongreßplatz präsent. Beim Aachener Treffen wurden schon nach dem Wartburgfest 1817 Maßnahmen gegen Burschenschafter und "Demagogen" besprochen. Karlsbader Beschlüsse (1819) und Wiener Schlußakte (1820) errichteten ein rigides Polizei- und Zensursystem; der Konstitutionalismus in den Staaten des Deutschen Bundes wurde eingeschränkt. Legitimität und Restauration missrieten zur Reaktion.

Die aktuelle Beurteilung des Wiener Kongresses folgt vielfach der Vorgabe des Friedensnobelpreisträgers Henry Kissinger, der schon in seiner Dissertation 1954 die Kongressdiplomatie rechtfertigte und 2014 die Perspektive vom Westfälischen Frieden zur - fragwürdigen - gegenwärtigen Weltordnung spannte.

Offengelassene Fragen

Die vom Kongress offengelassenen nationalen und politischen Fragen blieben jedoch treibende Kraft. Der Deutsche Bund blieb kleinstaatlich zerstückelt, nur Informationsbureau und Mainzer Zentraluntersuchungskommission arbeiteten im Sinn des Überwachungsstaates effizient gegen den liberalen "Zeitgeist". Die Folgekongresse von Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822) unter Metternichs Regie bekämpften Revolten in Neapel und Piemont, dann in Spanien durch harte militärische Interventionen. Noch heute wird der Brünner Spielberg als "Kerker der Nationen" präsentiert. Auch die Festungen Kufstein und Munkács halten die Erinnerung an die letztlich aussichtslose Repressionspolitik der Habsburgermonarchie gegenüber Italienern (Silvio Pellico), Ungarn, Polen und Griechen wach. Spanien, von wo der zeitgenössische Begriff des Liberalismus seinen Ausgang nahm, wurde ebenso wie Portugal Schauplatz jahrzehntelanger Bürgerkriege infolge dynastischer Wirren. Den Befreiungskampf Griechenlands (1821/29) hatte die Allianz nicht mehr unter Kontrolle, ebenso wenig wie sie das in der Julirevolution 1830 etablierte französische Bürgerkönigtum als Herrschaft der Bourgeoisie verhindern konnte. Es folgte die revolutionäre Ablösung Belgiens vom Königreich der Niederlande. In Italien formierte sich aus der Untergrundorganisation der Carbonaria die Giovine Italia Giuseppe Mazzinis. Das Junge Deutschland schloss sich als literarische Opposition der öffentlichen Meinung zusammen; Freiheitsbewegungen solidarisierten sich als Junges Europa. Seit 1804 untergrub die "serbische Revolution" das Osmanische Reich, das in der Orientkrise der 1830er-Jahre seine Schwäche offenbarte. Die staatliche Wiederherstellung Polens wurde zum einigenden Programm für die nationalen Bestrebungen gegen Russland.

Selbst im Zarenreich zeigte der Dekabristenaufstand nach dem Tod Alexanders 1825, dass westliche Ideen auch hier Fuß gefasst hatten; Gogols Satiren offenbarten die Hohlheit der russischen Gesellschaft. Da half es nicht, dass im böhmischen Münchengrätz 1833 die monarchische Allianz der Ostmächte erneuert wurde. Der Vektor der Zeit zielte auf die neuerliche Revolutionswelle von 1848/49, die mit der russischen Intervention gegen den ungarischen Freiheitskampf die letzte Aktion im Sinne der Heiligen Allianz sehen sollte. Sie endete unrühmlich im Krimkrieg.

Unter dem Banner des Fortschritts

Es sollte zu denken geben, dass gerade in diesem Raum die gegenwärtigen Konflikte an der Ostflanke Europas virulent werden. Der enttäuschte Zar Nikolaus I. schalt Kaiser Franz Joseph als den "Vollstrecker der englisch-französischen Launen und eifrigen Freund der Türkei". Der politischmilitärische Bund der Ostmächte war gespalten, Preußen stellte sich im Ringen um die Hegemonie im Deutschen Bund gegen Österreich.

1815 war das Geburtsjahr Bismarcks: Das Deutsche Kaiserreich 1866-1870/71 wurde auf "Eisen und Blut" gegründet. Italiens Risorgimento wendete sich statt zur Republik zur Monarchie - Spätfolgen der an den nationalen Fragen gescheiterten Politik der Heiligen Allianz. Das späte 19. Jahrhundert sah die weltweite Expansion des Imperialismus. Von der globalen Perspektive der Allianz der konservativen europäischen Großmächte konnte seit der Monroe-Doktrin 1823 nicht mehr die Rede sein. Südamerika, das sich von Spanien und Portugal löste, und die Vereinigten Staaten von Nordamerika gingen eigene Wege. Die Kongressordnung Europas konnte das Jahrhundert des Bürgertums, der Nationen und des Kapitalismus, des Liberalismus und der Demokratie, der Wissenschaft und Technik, der politischen und sozialen Revolutionen unter dem Banner des Fortschritts nicht aufhalten.

Klügere Konservative als Metternich haben die Aussichtslosigkeit eines durch staatliche und militärische Gewalt erzwungenen Stillstands erkannt. Alexis de Tocqueville richtete seinen Blick auf die Demokratie in Amerika und definierte das Ancien Régime aus der Perspektive der Revolution und versäumter Reform. Jacob Burckhardt fasste seine Baseler Vorlesungen in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen zusammen, veröffentlicht nach der Pariser Commune von 1871, im Rückblick auf "dreiundachtzig Jahre Revolutionszeitalter". 1789 und die Folgen der Großen Revolution, welche die Monarchen und Diplomaten 1815 für gebändigt hielten, wirkten weiter in die Zukunft Europas und der Welt.

200 Jahre Wiener Kongress

bis 31.10., Bundeskanzleramt

Mo-Sa 10-17 Uhr

www.bka.gv.at

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