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Eine und einige Welt unter dem christlichen Kosmokrator

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Man hat Karl V. den letzten Vertreter der mittelalterlichen Kaiseridee genannt. Das stimmt insoweit, als er aus dem Gedanken vom Heiligen Reich schöpfte, das die christlichen Staaten allesamt einbegreifen sollte. Dieser erlauchte und erleuchtete Herrscher fußte aber noch weiter zurück im Römischen Imperium, und vor allem seine zumeist tragisch gescheiterten Pläne wie seine Taten weisen auf unsere Gegenwart und, darüber hinaus, auf die Zukunft hin. Die Aufgaben, die er sich gestellt hatte, sind im Kern den Heutigen ebenso gesetzt, wie sie es späteren Geschlechtern sein werden; sie lauten: stabile Ordnung; Friede zwischen den Nationen; aus christlicher Verantwortung Zucht des Leibes und der Seele; Ehre dem in der Kunst, in Dichtung und Wissenschaft schöpferischen Menschengeist; bei allem Abscheu vor unnötigem Blutvergießen mutiger Kampf den Kräften, durch die alles das bedroht wird, was dem Leben Freude und Würde verleiht. In der Ferne winkt als Ziel die eine, einige Welt, der Jesus, die große Sonne, als nie mehr verlöschendes Licht erstrahlt.

Derlei Erstreben war erhaben und zugleich den nur grob-irdischen Zwecken Verhafteten ein Gelächter, es war höchst allgemein-human und doch spanisch-romantisch; es war die Fehde, die der oberste Monarch des Abendlandes, der Enkel des Letzten Ritters, dem Widergeist seiner und jeder Zeit ansagte, während rings umher die Masse der Sancho Pansa entweder verständnislos über den gekrönten Don Quichotte den Kopf schüttelte und ihm dennoch tölpisch-treue Gefolgschaft leistete oder ihm, geführt von mancherlei unholden Zauberern, alle erdenkbaren bösen Streiche spielte.

War nun der Kaiser, der von den 58 Jahreri seines bewegten Daseins nur 18 in Spanien zubrachte und der dessen Sprache erst als Jüngling gut, als heranreifender Mann vollendet zu gebrauchen lernte wesenhaft, wenn nicht gar ausschließlich ein Spanier? Läßt man die Ahnentafel diese Frage beantworten, dann wird man das beinahe ganz bejahen. Fünf seiner acht

Urgroßeltern, zehn seiner 16, 18 seiner 32, 35 seiner 64 und noch 67 seiner 128 Ahnen gehören der Iberischen Halbinsel an (die Portugiesen sind für jene Zeit von den Spaniern schwer abzusondern; sie waren von den Kastiliern kaum mehr verschieden als diese von den Aragoniern und alle bisher Genannten von den Katalanen). Je weiter zurück, um so mehr verschiebt sich indessen das Bild. Allein nicht auf einer nur zahlenmäßigen Erwägung beruht unsere Ansicht, daß in Karl V. das Spanische mindestens durch die burgundisch-niederländischen Erbfaktoren teils in Schach gehalten, teils durch sie ergänzt und bestärkt wurde. Man muß in genealogischbiologischen Untersuchungen noch sorgsamer als sonst wägen und nicht zählen. In Karls V. Aszendenz spielen zwei burgundisch-niederländische Vorfahrengruppen eine gewichtige Rolle. Die eine als Vermächtnisträgerin der feinsten, raffiniertesten europäischen Gesittung, gestützt auf in jeder Hinsicht wirkensmächtige Persönlichkeiten, die andere, streckenweise mit der ersten verschmolzen, als Spenderin einer verhängnisvollen Belastung. Glorreiche Regentenfähigkeiten stammen von den Burgunderherzogen, die zweimal nahe Vorfahren Marias, der väterlichen Großmutter des Kaisers, waren, und von den bedeutenden französischen Königen aus den Linien des Altstamms der Kapetinger und des Zweiges Valois Die Kunst des Herrschens, der geregelten Staatsverwaltung, moderner Kriegsführung und dem aufblühenden Kapitalismus gemäßer Wirtschaftspolitik wie der gewandten Diplomatie geht ebenso auf Burgunder, Bourbonen, Grafen von Holland und Flandern zurück wie ein mit sicherem Geschmack urteilendes Mäzenatentum aller schönen Künste. Welcher Preis war indessen für soviel gesegnete Begnadung zu bezahlen! Die Belastung mit Geisteskrankheit, die sich im besten Fall als ein wenig schrullenhafte Genialität, sehr oft als melancholische Depression und in den traurigsten Fällen als Trunksucht. Verfolgungswahn, Verblödung zeigte. Eine Quelle diesef Belastung ist im Ehepaar Johann IT. Graf von Hennegau und Holland aus dem

Hause Avesnes-Philippa von Luxemburg zu erblicken, das an der Wende des 13. zum 14. Jahrhundert lebte. — Wir versagen es uns, an diesem Ort auf die weiter zurückliegenden Quellen des Unheils zurückzugreifen, das bei den beiden niederländischen Dynasten nicht in fühlbare Erscheinung trat, doch von ihnen an ihre Deszendenz weitergegeben wurde. Da ist eine Tochter Maria, die den Herzog Ludwig von Bourbon heiratet. Ihre Enkelin, Johanna von Bourbon, wird dem bedeutenden und gesunden Karl V. von Frankreich vermählt. Diesem unseligen Bund entsproß der geistig umnachtete Karl VI., mit dem der leib-seelische Verfall der Valois anhebt. Johanna von Bourbons Bruder Ludwig ist Urgroßvater der Isabella von Bourbon, der Gattin Karls des Kühnen von Burgund und Urgroßmutter Kaiser Karls V. Der vorgenannte( Graf Johann II. von Hennegau und Holland hinterließ auch einen Sohn, Wilhelm; dieser hatte unter anderem zwei Töchter, Margarete und Philippa. Die eine wurde Gemahlin Kaiser Ludwigs IV. des Bayern, und ihr zweiter Sohn, Wilhelm, war geistig umnachtet; von ihrem Drittgeborenen, Albrecht, stammt Karl der Kühne einmal, dessen Tochter Maria von Burgund zweimal ab. Philippa von Hennegau, die Schwägerin Kaiser Ludwigs IV., vermählte sich dem König Eduard III. von England. Ihre Enkelin Philippa' von Lan-caster, Säuferin und zuletzt irr, war einerseits mütterliche Großmutter des vorerwähnten Herzogs Karl des Kühnen von Burgund, anderseits Eleonorens von Portugal, der Gattin Kaiser Friedrichs III., dessen Sohn, Kaiser Maximilian I., mit der schon genannten Maria von Burgund verehelicht war. Philipp der Schöne, der Vater Kaiser Karls V., zählt also das Trägerpaar der Belastung mit seelischem Siechtum, Johann II. von Hennegau-Philippa von Luxemburg, nicht weniger als fünfmal zu seinen Vorfahren der achten Generation. Dieses Verhängnis wurde nun gesteigert durch die Mutter des Monarchen, in dessen Reich die Sonne nie unterging, durch Johanna die Wahnsinnige, die sowohl von Philippa von Lancaster als auch von deren Schwester Katharina ihre Abkunft herleitete. Die Ahnentafel Karls V. überzeugt uns in unwiderlegbarer Weise, daß die psychopathische Veranlagung der von ihm in der Manneslinie ausgehenden spanischen Habsburger keineswegs nur oder überwiegend von Johanna der Wahnsinnigen vermittelt worden ist; Philipp der Schöne war in noch beträchtlicherem Grade verderblich belastet. Dieses arge Erbe, von dessen Fluch die Habsburger erstmals in der Person Kaiser Maximilians ergriffen wurden, dem sieibis-ZU Karl V. und. dessen Geschwistern noch entrannen oder mindestens noch nicht unentrinnbar verfielen, ist dann in dem Maße überwertig geworden, als fortgesetzte Inzucht die Deszendenz König Philipps II. geradezu dem Untergang in die Arme trieb. Don Carlos, dessen ältester Sohn, der einzige aus erster, portugiesischer Ehe, ist zugleich ein Beispiel gewaltigen Ahnenverlusts — 6 statt 16, 16 statt 64. 24 statt 128 Ahnen — und einer außerordentlich gewichtigen Disposition zur Geisteskrankheit: vierzehnmal Herkunft von den Lancaster, neun-zehnmäl vom Ehepaar Hennegau-Luxemburg. Die Fernwirkung dieser gefährlichen Vorfahren äußert sich auch über die, durch die Verbindung von Karls V. Bruder Kaiser Ferdinand I. mit einer gesunde, kräftige Aszendenz mitbringenden Gattin (der Jagellonin Anna) aufgefrischte, österreichische Linie der Habsburger. Ferdinands I. Sohn Kaiser Maximilian II. ehelicht eine Nichte, die Tochter Karls V., Maria, und schon finden wir den wunderlichen, manisch depressiven Kaiser Rudolf II. als Sproß dieser Heirat. Ja sogar Ferdinands Tochter, die ins Haus Jülich vermählt wird, hat, da sie dort auf ältere Erbbelastung durch hennegauisch-luxemburgische Abnormität stößt, eine zum Irrsinn neigende Nachfahrenschaft. Die Jülichschen Herzoge erlöschen in Geistesnacht und verrc'iVnpen die böse Mitgabe an die altpreußische Linie der Hohenzollern.

Kehren wir zu Karl V. zurück! Sein burgundisches Blut, die überragende Bedeutung, die seiner niederländischen Abstammung zukommt, bekundet sich, wie wir schon unterstrichen haben, nicht nur und — glücklicherweise — nicht vordringlich im Hang zur Depression, in Menschenscheu und Menschenverachtung. Mag man darüber streiten, ob der äußere Typus der Habsburger durch den Prognathismus, das vorspringende Kinn, vorteilhaft beeinflußt worden ist, das bei den Burgunder-Herzogen bis zu Karl dem Kühnen auftrat und das im Verein mit der herabhängenden Unterlippe, einem Vermächtnis litauisch-russischer Ahnen, und mit der alt-habsburgischen Adlernase den Familientypus entscheidend prägte, ihn bis zum Aussterben des Mannesstamms dieses Geschlechts fixierte und darüber hinaus in dessen weibliche Deszendenz hinüberführte — so zu den Lothringern und zu den spanischen Bourbonen —: die glanzvolle Begabung, wir wiederholen es. rührte von den Ahnen her, die im Rheingebiet, zumal westlich des majestätischen Stroms, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Blüte im Herbst des Mittelalters hervorriefen, sie entfalteten und sie pflegten.

Den spanisch-portugiesischen Vorfahren dürfen wir jenes Gemenge aus Inbrunst und Düsternis zuschreiben, das ein österreichischer Schriftsteller mit Fug als den Kern des spanischen Wesens bezeichnete. Frömmigkeit neben Hingabe' an den Sinnenrausch, ernsthafte Strenge und dennoch ein bis ins Makabre gleitender Humor, duldsame Einfühlsamkeit und trotzdem unerschütterbare Härte gegen Doktrinen und Menschen, die an den Grundpfeilern der göttlichen und der irdischen Ordnung rütteln, hoheitvolles Walten des Familienvaters und gleichwohl zärtliche Liebe zu Gattin und Kindern, stolzer Prunk der Mächtigen, sich paarend mit schlichter wohlwollender Natürlichkeit im LImgang auch mit den Niederen, die Forderung nach Gehorsam der einen nur dem Ewigen Richter verantwortlichen Könige Anvertrauten — vom Thronerben bis zum letzten Untertanen — vereinbar mit williger Aufnahme, und oft Annahme begründeter Gegenvorstellungen der befragten, nicht selten sogar unbefragter, Ratgeber: alle diese Eigenschaften der größten iberischen Herrscher wurzeln in ihrer Hispanidad (von der sich die portugiesische Wesenheit, wie schon angemerkt wurde, von außen her betrachtet, kaum unterschied). Und so sind uns Ferdinand und Isabella, die Katholischen Könige, sind Karl V., Philipp II. und noch, geringer im Format, Philipp III. nicht nur die Fortsetzer der Ueber-lieferung, die sich in ihren Ahnen aus den Dynastien Kastilien (vom Stamm Ivrea), Ara-gonien-Barzelona und Portugal (aus dem Hause der Kapetinger) verkörpert, also fränkischer und westgotischer Herkunft, sondern auch dem Rassengemisch entsprossen, das der spanischportugiesische Hochadel des Mittelalters überhaupt darstellt: außer Westgoten und Franken auch Römern, Altiberern, dann aber Arabern, Berbern, Juden. Dominierend war in ihm freilich das westgotische und das altiberische Element. Es sei ferner mit Nachdruck hervorgehoben, daß die ersten nachweisbaren semitischen Einschläge, es handle sich um muselmanische Mauren oder um Täuflinge aus dem Judentum, nicht vor dem 13. und etwas stärker vom 15. Jahrhundert rückwärts zu finden sind.

Eine dritte Vorfahrengruppe, die zahlenmäßig erst ab Philipp IV. in den Ahnentafeln der spanischen Habsburger beachtlicher wird, heischt dennoch sorgsame Beachtung, weil sie an bevorzugtem Platze erbstark sich auswirkt, nämlich sowohl in der reinen Vaterlinie als auch in der reinen Mutterlinie Philipps des Schönen. Das eine Mal, wie allbekannt, durch die Habsburger bis zurück auf Guntram den Reichen, das andere Mal, wovon sich niemand Rechenschaft ablegt, auf dem Weg über Maria von Burgund, Isabella von Bourbon, Agnes von Burgund, Margarete von Holland, Margarete von Brieg zu Agnes von Glogau, Mathilde von Brandenburg, Anna von Oesterreich, Elisabeth von Tirol, Elisabeth von Bayern, Agnes von Braunschweig, Agnes von Hohenstaufen zurück stets in eine deutsch-germanische Umwelt. Wobei immerhin die seltsame Tatsache zu vermerken ist, daß Philipp der Schöne seinen Mutterstamm z. B. mit den Königen Franz I. und Heinrich IV. von Frankreich gemeinsam hat. An sich schiene der Anteil deutscher Vorfahren bei Karl V.. sehr gering: einer unter den vier, acht, 16, 32 Ahnen, drei unbestreitbar unter den 64 (Albrecht II. von Oesterreich und zweimal Albrecht von Holland, ein Wittelsbacher aus Bayern; dazu käme, anfechtbar in ihrer nationalen Zugehörigkeit, die halbfranzösische Johanna von Pfirt-Ferrette). Erst unter den 128 Ahnen sind sechs vorbehaltlos deutsch zu nennen (Albrecht I. von Oesterreich, Elisabeth von Görz, Kaiser Ludwig IV-zweimal, Elisabeth von Tirol, Gattin Peters II. von Sizilien). Bei den halbgermanisierten Piasten und Pfemysliden aus Schlesien, deren zusammen vier an sechs Plätzen der Tafel erscheinen, läßt sich keine eindeutige nationale Einstufung ermitteln; ein gleiches trifft auf Graf Ulrich von Pfirt zu.

Dagegen bringen eine vierte und eine fünfte geschlossene Ahnenschar je ein aus dem Gesamtbild hervorstechendes Element in die Aszendenz. Die Italiener, vermittelt durch Viridis Visconti, haben in der europäischen Fürstenfamilie des 1 5. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen. Nicht gerade erfreulich; denn die Visconti, della Scala, Carrarese waren grausame, hemmungslose Lüstlinge und Tyrannen, deren Erbeinfluß auf Ernst den Eisernen von Oesterreich und um so eher auf dessen unmittelbare Nachfolger Kaiser Friedrich III., Kaiser Maximilian I., Philipp den Schönen und Karl V., nicht in dem'Maße sich geltend machte, wie-etwa bei den französischen Valois in der „schlimmen“ Königin Isabeau aus Bayern, Enkelin (durch ihre Mutter) Barnabö Viscontis und Beatrice della Scala Als eines neue Säfte zuführenden Blutzuschusses haben wir schon der polnisch-litauisch-russischen Fürstenfamilien kurz gedacht, die durch Cymburga von Masovien, die Gemahlin des vorgenannten Herzogs Ernst von Oesterreich den Habs-burgern und deren Nachfahren männlicher wie, in gar häufigen Fällen, auch weiblicher Linie, ungewöhnliche Körperkraft, die herabhängende Unterlippe und, wie es scheint, den innigen Natursinn, ferner eine, sogar im Zeitalter der Renaissance nicht alltägliche, sexuelle Veranlagung vermachten; Cymburgas Vaterfamilie sind die polnischen Piasten aus ,der Seitenlinie Masovien, doch hier hat wieder zweimalige litauische Heirat den leib-seelischen Typus geprägt. Der Ururgroßvater jener charmanten Dame, die einen gepanzerten Ritter mit einer Hand hochzuheben vermocht haben soll, war mit einer Prinzessin aus dem älteren litauischen Herrscherhaus Trojdens vermählt; Cymburgas Mutter aber war eine Tochter Großfürst Olgerds und mithin eine Schwester Wladyslaws, des Begründers der Jagellonendynastie, dessen allseitige Kraft legendär geblieben ist (er hat, mehr als siebzigjährig, ein achtzehnjähriges Mädchen zur vierten Frau genommen und bis nahe an sein neuntes Dezennium mit ihr munter gesunde Kinder erzeugt). Ueber die Piasten von Masovien und über die Litauer aus Olgerds Geschlecht gelangen wir auch zum russischen Geschlecht der Rjurykiden. Da aber harrt des Historikers und des Biologen eine Ueberraschung.

Die Mutter Olgerds von Litauen, Olga von Smolensk, war eine Tochter des 1299 verstorbenen Großfürsten Fedor und der Tatarenprinzessin Anna. Deren Vater, der Chan Nogai, ist uns als Sohn Tatar Chans, eines Urenkels Cingis-Chans genannt, nach anderen Quellen hieß er Tewel, jedenfalls war er ein direkter naher Sproß aus dem Mannesstämm des mongolischen Welteroberers. Welche Aspekte eröffnen sich da dem besinnlichen Geschichtsforscher! Allerdings keine irgendwie erbkundlich belangreichen, doch um so mehr geeigneten zum Thema „One World“, lange bevor es in diese Formel gefaßt wurde. ■

Das war ja die entscheidende Leistung Karls V. und der spanischen Habsburger: Ihr Denken und ihr Tun geschah im weltweiten Rahmen; weltumspannend waren seine Dimensionen. So wie der Kaiser und König in sich vieler Völker Blut und Kultur vereinte, so hat sein Reich grundsätzlich den gesamten Erdkreis einbegriffen, aus kleineren und doch schon gewaltigen Kreisen sich erstreckend und dehnend. Von Spanien, Burgund und Deutschland-Italien aus den Vorrang im Abendland, in der Christenheit (oder Europa) hat er begehrt, nicht als bloßes verblaßtes Ehrenrecht, sondern als echte Oberhoheit. Dieser durch Glauben und Gesittung geeinte und einheitlich geführte Okzident sollte seinerseits die nichtchristlichen Länder sich einordnen; nach dem römischen Prinzip, das gebot, die Unterworfenen zu schonen und die stolz Widerspenstigen zu bezwingen. Die Entdeckung eines neuen, vordem nicht einmal geahnten Kontinents, stachelte den Ehrgeiz des Monarchen aufs glühendste an. Dort war das Kreuz auf jungfräulichem Boden einzupflanzen, und der flatternden Fahne Spaniens trat fast nirgends ein zu längerem Widerstand fähiger Gegner in den

Weg. Wider den Islam hieß es hart zu kämpfen.

Karl V. hat die Feinde unterschätzt, die sich wider ihn allerorts erhoben. Er schloß aus der geglückten Reconquistä, daß man mit den Muselmanen insgesamt fertigwerden könne. Eine erste kleine Probe vor Tunis gelang; schon die zweite, in Algerien, mißriet, und dem massiven Anprall der in voller Macht anstürmenden Os-manen vermochte des Kaisers Bruder und späterer Nachfolger Ferdinand nur mit Mühe, fast an den Grenzen der österreichischen Erblande. Einhalt zu gebieten. Der Löwenanteil an Amerika blieb anfangs unbestritten; später jedoch, im 17. Jahrhundert, gewann der britisch-französisch kolonisierte Norden der Neuen Welt immer mehr an Bedeutung. Die Einheit der Christenheit erlitt, bitterer Hohn auf Karls wesentlichstes Ziel, unter seiner Herrschaft die empfindlichste Einbuße. Er war außerstande, die zentrifugalen Kräfte zu besiegen. In Frankreich, zu dem er, ungeachtet seines von den Burgunderherzogen übernommenen Antagonismus, gerne in ein leidliches Verhältnis gekommen wäre, hat er weder durch Krieg noch durch Frieden, Freundschaftsversuche und bestehende nahe verwandtschaftliche Beziehungen zum Hof der ValoiS seine Autorität durchgesetzt. Auch die Gemeinschaft mit England erwies sich, des beiderseitigen Interessenwiderspruchs zu Frankreich ungeachtet, als labil und schließlich, angesichts religiöser, wirtschaftlicher und persönliche)- Gegensätze, als unhaltbar. Ja sogar in den Niederlanden, die dem Herzen des dort Geborenen so teuer waren, ist die Anhänglichkeit an die habsburgischen Sukzessoren der Burgunderherzoge nach Karls V. Tod verschwunden. Es blieben aber, nicht nur der schwache Trost, es sei genug, Großes wenigstens gewollt zu haben, sondern auch ein glorreiches Vollbringen und ein gigantisches Weltreich, das erst nach dem Aussterben des stetig absinkenden Mannesstammes der spanischen Habsburger zerstückelt zu werden begann. Amerika, von dessen Südspitze bis über Mexiko hinein tief ins Territorium der heutigen USA.-die Philippinen, Enklaven in Nordafrika, auf europäischem, Boden das spanische Mutterlasd, mit dem während zwei Menschenalter Portugal vereinigt ist, Sizilien, Neapel, Mailand und andere kleinere italienische Gebiete, endlich während geraumer Zeit die Franche-Comti und die Niederlande (damals Belgien mitumfassend): das war ein Imperium, dessen politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung unter Karl V. und noch unter Philipp II. in Europa an vorderster Stelle beharrte, zumal, wenn man die enge Verknüpfung der älteren Linie der Casa de Austria mit deren jüngerer, österreichischer betrachtet. Spaniens Gold und Silber, sein unvergleichliches Heer und die Kriegskunst seiner Feldherren, das unerhörte Gedeihen des Handels, der Industrie und des Kunstgewerbes in den spanischen Niederlanden, die Kühnheit und die Reichweite der spanischen Schiffahrt, die dem gesamten Europa zum Vorbild dienende spanische Gesittung mitsamt ihrem, ursprünglich auf Burgund zurückgehenden Zeremoniell, das Theater und die erzählende Prosa, beide allerdings im vollen Ausmaß erst unter Philipp II. und Philipp III., die spanischitalienische Mischkultur in Mailand und Neapel, die mit Hilfe deutscher (Fugger, Welser) und spanischer Finanzpotentaten geschaffene Hochkonjunktur eines jugendkräftigen Kapitalismus unternehmungslustiger und vom Monarchen einsichtig geforderter Wirtschaftspioniere: diese Tatsachen sind aus der damaligen Gegenwart nicht fortzudenken.

Nur daß eben Karl V. und Philipp II. nicht beschieden war, nicht beschieden sein konnte, an die Spitze des gesamten Erdballs zu gelangen. Denn das Reich, das sie erträumten, war, erschauten sie es auch auf ihr, trotzdem nicht von dieser Welt. Es war ein Gottesreich und dem stemmten sich entgegen: die Fürsten, der Fürst dieser Welt. Sie wollten nicht, daß ein Hirt und eine Herde sei. Und Karl V. begriff nach vielen Triumphen und nach schmerzlichen Enttäuschungen, daß er die Mächtigen und also auch die von - ihm abhängigen Ungezählten, Ohnmächtigen nicht unter einen Hut werde bringen können, und wäre das die päpstliche Tiara, die Kaiserkrone. Als er sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte, gab es für ihn nur eines, den Verzicht. Mag die Anekdote, die erzählt wird, wahr sein oder nicht, sie spiegelt durchaus die Gedanken des nun in die Abgeschiedenheit Geflüchteten wider: Nach seiner Abdankung als Kaiser, als Herr der Niederlande, als König von Spanien und als Beherrscher der Neuen Welt, habe er in Yuste, wo er sich neben einem Kloster ein recht behagliches Tuskulum hatte erbauen und einrichten lassen, einen der seltenen Besucher empfangen und dem seine zahlreichen Uhren, hängende und stehende, gezeigt. (Die Freude an ihnen war eines der mannigfachen Hobbys des Monarchen.) „Sehen Sie“, sprach Karl laut diesem Histörchen, „ich kann sie aufziehen und regulieren, sooft ich nur will, und sie werden dennoch nie alle genau die gleiche Zeit angeben“. Scheitert schon das Bemühen, Uhrwerke, wir würden heute schreiben, gleichzuschalten, wie erst das, Aehnliches mit Andersdenkenden, andere Ziele Erstrebenden und entweder zum Widerstand Fähigen oder gar an Stärke Ueberlegenen zu versuchen. Auch wenn dahinter die edelste, die beste, die reinste Absicht steckt, wie bei Karl V. und bei Philipp II. feststeht. Keineswegs das geringste Verdienst des Kaisers ist gewesen, daß er dies von sich aus eingesehen hat. Doch darum dünkt uns sein Vorhaben nicht .minder erhaben, grandios und bewundernswert. Sein Ziel ist, in anderer Form, gleichermaßen unserer Gegenwart und der Zukunft aufgetragen: Auch im Namen der Nationen und ihrer Oberhäupter, die aus dem Blut und aus dem Geist in Karl V. verleibt und seelisch wirksam waren. Auch im Namen der vielverkannten spanischen Könige, ,die, noch in ihrem Abgleiten, zwar ein Zerrbild, dennoch ein mahnendes Abbild des letzten Anwärters auf die Würde und auf die Obgewalt eines Kosmo-krators gewesen sind. Das uns in Erinnerung zu rufen, ist die 400. Wiederkehr des Todestages des genialen Habsburgers ein willkommener Anlaß.

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