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Letzter Kaiser und König

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KAISER KARL UND DER UNTERGANG DER DONAUMONARCHIE. Von Remhold Lorenz. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln. XXIV/692 Seiten Text, 37 Abbildungen. Leinen. Preis 152 S

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KAISER KARL UND DER UNTERGANG DER DONAUMONARCHIE. Von Remhold Lorenz. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln. XXIV/692 Seiten Text, 37 Abbildungen. Leinen. Preis 152 S

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Seit dem tragischen Tode des Kaisers Karl I. am 1. April 1922 sind noch kaum vier Jahrzehnte ver gangen, und es wirft sich die Frage auf, ob nach so kurzer Zeit bereits die Biographie für eine äußerst bemerkenswerte Gestalt unserer Geschichte verfaßt werden kann. Die Antwort gibt uns Reinhold Lorenz mit seinem soeben erschienenen Werk über den letzten regierenden Kaiser-König aus dem Hause Oesterreich. Bei einer Vergegenwärtigung der bisherigen Schilderungen dieses Monarchen zeigt sich, daß sie entweder in ergebener Anhänglichkeit den unglücklichen Herrscher rechtfertigen wollen oder aber, daß sie ihn als die Verkörperung persönlicher Unzulänglichkeiten erscheinen lassen. Sicher wird erst in weiteren Jahrzehnten das Schlußwort gesprochen werden können, denn es sind noch viele Publikationen und Quellenerschließungen zu erwarten, der Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz ist trotzdem gegeben, und der Autor hat es mutig gewagt, in strenger Objektivität die Persönlichkeit Karls I. zu umreißen und damit eine sehr brauchbare Grundlage für spätere Arbeiten zu bieten. Wir haben es mit einer sehr bedeutenden Zusammenschau zu tun, die uns den Untergang der Donaumonarchie zum erstenmal im geschlossenen Ablauf vorführt.

Die außerordentlichen Schwierigkeiten der Wiedergabe einer Lebensgeschichte des Kaisers sind mit beachtenswertem Geschick gemeistert und es seien zunächst mehrere Vorzüge der Bearbeitung hervorgehoben. Sehr eingehend wird der Leser mit dem kulturgeschichtlichen Kolorit vertraut gemacht, mit der Geschichte der Familien Habsburg-Lothringen und Bourbon-Parma, mit Hof- und Staatsaktionen wie der Vermählungsfeier, dem Begräbnisse Kaiser Franz Josephs I. und der Krönung in Ungarn, mit dem Wortlaut historischer Dokumente, von Manifesten, Proklamationen und Regierungserklärungen, Fiandschreiben, Befehlen, diplomatischen Noten und Briefen, was den Text ebenso belebt wie die Charakterisierung prominenter Würdenträger der Monarchie, die in bewegtesten Zeiten drückende Aemter zu versehen hatten, doch auch am Rande stehender Personen, die eher zu Unrecht in die Geschichte eingegangen sind.

Lorenz gibt uns ein eindrucksvolles Bild des Kaisers mit seinen guten Anlagen, seinem von bestem Wollen getragenen gewissenhaften Pflichtgefühl, seiner ererbten Entschlossenheit, die Ideen seiner Dynastie zu vertreten, seinem tiefgläubigen, untadeligen Lebenswandel, seinem ständigen Ringen zwischen notwendiger Härte und der sich gebieterisch meldenden nachgebenden Güte. Unvermutet 1914 zum Thronfolger geworden und unvermittelt in einen großen Krieg gestellt, versäumte der junge Erzherzog zweifellos manches an seiner Fortbildung, ob dies von wesentlicher Nachwirkung war, mag bezweifelt werden. Das bloß 35 Jahre umspannende Leben kulminierte in den zwei Regierungsjahren von 1916 bis 1918, die dem Herrscher die hohe Pflicht auferlegten, sein Reich aus drohendsten Gefahren zu erretten. Diese Mission war eine Aufgabe für sich, für sie galt es, an vier Fronten zu kämpfen: mit det Wehrmacht gegen den äußeren Feind, hier lag der Schwerpunkt beim Generalobersten Baron Arz, dem Generalstabschef des Kaisers als Armeeoberkommandanten; an der Bündnisfront mußten Beeinträchtigungen durch das Deutsche Reich abgewehrt werden, hier bietet Lorenz endlich eine kritische Betrachtung vom Standpunkte Oesterreich-Ungarns; an der inneren Front ging es um den Umbau der Monarchie, der vor allem an den Verfechtern des historischen Staatsrechtes und der Aufrechterhaltung der Minderheitenbeherrschung in Ungarn einen unüberwindlichen Gegner vor sich sah: die vierte Front war jene des Friedens. Nur an dieser Front hätte noch ein Sieg Rettung bringen können. Widerstände in den Reihen der Entente, doch auch die wenig glückliche Hand des Außenministers machten alle Versuche zunichte. Daß Lorenz diesen vierfachen Kampf übersichtlich herausgearbeitet, daß er dabei alle Möglichkeiten sorgfältig abgewogen, alle etwa unterlaufenen Unterlassungen oder Fehler geprüft hat, ohne die Heimtücke einer grenzenlos verwirrten und daher ausweglosen Situation zu übersehen, ist besonders verdienstvoll, es führt zur Auffassung, daß auch ein größerer.

mächtigerer oder ganz außergewöhnlicher Herrscher keine brauchbare Lösung mehr hätte finden können. Mit unerbittlicher Wucht rollt der Untergang einer ehrwürdigen europäischen Großmacht vor uns ab, und alle Erwägungen, ob dieser Untergang irgendwie aufzuhalten gewesen wäre, bleiben wie alle hypothetischen Wenn-Betrachtungen nur Gedanken, denen niemand eine Beweisführung anschließen könnte. Kaiser Karl hat sich in der Katastrophe des Zusammenbruchs als Regent und Mensch einer Welt von inneren und äußeren Feinden gegenüber absolut behauptet, wie es aus jeder Seite des spannend geschriebenen Buches hervorgeht. Auch der letzte Lebensabschnitt zwischen Exil und Restaurationsversuchen, zwischen Verbannung und Tod zeigt einen im Grundsätzlichen nie wankenden Charakter. Von den Siegermächten einem dürftig-elenden Dasein und einem vorzeitigen Sterben ausgeliefert, trug der Kaiser sein bitteres Schicksal mit schlichter Würde, er wies alle Anträge, sich durch Verfassung von geldbringenden Memoiren den grauen Alltag zu verbessern, zurück und lehnte alle irgendwie an Propaganda mahnenden Versuche Gutgesinnter ab. An seiner von der bisherigen Geschichtsschreibung vielfach verleumdeten treuen Gattin, der Kaiserin Zita, die in Erfüllung ihrer offiziellen Pflichten nach den Angaben des Autors ebenso vorbildlich war wie als Familienmutter, fand Kaiser Karl in der einsamen Feine jene starke Stütze, wie sie ihn seit seiner Vermählung nie verlassen hatte. Selbst politische Gegner wie so manche Sozialdemokraten konnten sich die Achtung vor der Person des schwergeprüften Habsburgers nicht versagen.

Das Urteil über Männer, die einen gefahrvollen Krieg siegreich beenden konnten, seien es nun Wilson, Lloyd George oder Clemenceau im ersten, Roosevelt, Churchill oder Stalin im zweiten Weltkrieg, wird stets leichtfallen, und hatten sie ihre Fehler, so verschwinden diese unter dem blendenden Glanze des Erfolges. Ganz anders verhält es sich bei Männern, denen wie Kaiser Karl, die Herrscher- und Regierungsgeschäfte zufielen, als Schlachten, Feldzüge, Reich, Dynastie und Krone verlorengingen. Feldmarschall Conrad verlangte, man dürfe die Menschen nur darnach beurteilen, „ob sie in ihrer Sphäre unter den gegebenen Verhältnissen nach bestem Können und Gewissen das ihnen Mögliche geleistet und in reiner Absicht für die Sache, der zu dienen sie durch Schicksalsfügung berufen waren, das vermeintlich Beste erstrebt haben". Dem pflichtet auch Reinhold

Lorenz bei: ..... behalten Absicht und Zielrichtung der historischen Handlungen, auch wo sie nicht zu verwirklichen waren, beachtenswerte Bedeutung für das Urteil der Mit- und Nachwelt.“ Zu verurteilen bleibt somit nur derjenige, der, vor lösbare Aufgaben gestellt, versagt hat; wer sich jedoch in Lagen, die aus fremder Schuld unlösbar waren, als Mensch bewährt, dem gebührt die Achtung vor der Geschichte. Mit der Ueberzeugung, daß dies für Kaiser Karl volle Geltung hat, legt man die so wohlgelungene Biographie, der weiteste Verbreitung zu wünschen ist, aus der Hand..

Im Augenblick war es nur möglich, eine allgemeine Uebersicht über das biographische Werk zu geben, denn, was in gewissem Sinne bedauerlich ist, der wissenschaftliche Apparat mit den nötigen Anmerkungen, Quellen- und Literaturnachweisen, mit dem Register und mit „Exkursen über nicht restlos geklärte. Probleme“ wird in einem Sonderheft erscheinen. Sobald diese Ergänzung vorliegt, werden sich Historiker verschiedener Richtung zum Wort zu melden haben, um sich mit Einzelfragen auseinanderzusetzen.

Die Auswahl der Bilder ist sehr glücklich, auch jene Reproduktionen, die wegen der Aufnahmemängel ihrer Zeit heute wenig vorteilhaft erscheinen, sind zu begrüßen.

Reinhold Lorenz ist weder gebürtiger Oesterreicher, r.oeh hatte er zu den Anhängern des Kaisers nähere Beziehungen. Gerade diese Umstände erleichtern es ihm, an die Gestaltung des Stoffes frei aller sonst begreiflichen Rücksichten heranzutreten. Darin erblicken wir einen schätzenswerten Vorzug der Biographie, für deren Verfassung nicht nur die Wissenschaft, sondern auch alle Oesterreicher Dank zu sagen haben.

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