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Österreichische Geschichte für Österreicher

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Die Schwierigkeiten der österreichischen Geschichte und die Versäumnisse, die an ihr geschehen sind, wurden und werden oft beklagt. Als nach der 48er Revolution ein österreichisches Selbstbewußtsein rege wurde, sah man ein, was „in dieser Richtung in früheren Jahren vernachlässigt wurde“. Dieser Vorwurf richtete sich wohlgemerkt an die Verhältnisse der Ära Metternich. Ganz besonders führte man darüber Klage, daß in diesem Fach weder genug Forscher noch Lehrer nur Verfügung stünden, so daß in „vielen Fällen Kräfte des Auslandes hereingerufen wurden“. Diese Feststellungen stammten vom damaligen Unterstaatssekretär im k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht, Joseph Alexander Freiherr von Hel-fert, seines Zeichens selbst zünftiger Historiker.

Die Klage verhallte nicht unge-hört Am 20. Oktober 1854 nahm Kaiser Franz Joseph I. die vorläufig provisorische Gründung einer „Schule für österreichische Geschichtsforschung“ zur Kenntnis. Wohlge-merkt: eine Schule für „österreichi-sche“ Geschichtsforschung, ganz im Sinne des Unterstaatssekretärs Hel-fert, der in seinem alleruntertänig-sten Vortrag an den Kaiser auf diese „bedeutende Lücke für die vaterländische Geschichtsforschung“ hingewiesen hatte.

Ich übergehe die nächsten 65 Jahre eines in wissenschaftlicher Hinsicht ruhmvollen Bestandes des „Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ und erinnere an jenen Tag des Jahres 1919, an dem sein Direktor die Namensänderung für angemessen und die Unterrichtsverwaltung für genehm fand:

Aus der Schule für „österreichische Geschichte“ wurde ein „österreichisches Institut“ für Geschichtsforschung. Damals, 1919, hat man sich daran gestoßen, daß ein Institut für „österreichische Geschichte“ anderswo den Verdacht erwecken könne, die Schule sei „bloß lokal“, also österreichisch orientiert. Und dieser Verdacht sei in der Gründungsabsicht keineswegs zu begründen, meinte man damals, vor 46 Jahren.

Kein Geringerer als Otto Brunner hat darauf hingewiesen, daß der Gründungsgedanke keineswegs mißverständlich aufgefaßt worden war, sondern daß vielmehr die Leistungen, die das Institut seit seinem Bestehen vollbracht hat, gerade auf dem Gebiet, auf dem es zuallererst wirken sollte, nicht liegen.

Daß es im alten Österreich zuletzt vielfach am notwendigen Staatsbewußtsein gefehlt hat, führen viele nachträgliche Kritiker der Monarchie auf den Mangel eines österreichischen Geschichtsbewußtseins zurück. Sicher geht eine direkte Linie von der Verödung des ursprünglichen Gründungsgedankens der Schule für eine österreichische Geschichtsforschung bis in die letzte Schulstube, in der man zuletzt vielfach die heiklen Fragen der österreichischen Geschichte lieber unter Verschluß behielt und daher den Schulunterricht in der neueren Geschichte in den Abschlußklassen der Mittelschulen um 1914 mit einer kursorischen Uberslicht über die Ereignisse der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts beschloß. In der Schulstube Altösterreichs hat der gebildete Mensch von damals wohl schwerlich etwas über die soziale und nationale Revolution erfahren, der das Reich schon kurz darauf, 1918, zum Opfer fallen sollte.

Dieses Verschweigen, das dem Geschichtsbewußtsain keinen Dienst erweisen konnte, hatte aber seine Ursache nicht nur in dem Dilemma, in dem sich die wissenschaftliche Forschung und die Lehre auf allen Stufen des öffentlichen Unterrichts befanden. Da war vor allem auch das System der ständigen „Rücksichtnahmen und Bedachtnahmen“ als Folge des Nationalitätenproblems und die wachsende Furcht vor „Beispielsfolgerungen“. Die Unter-riohtsverwaltung hat zu wiederholten Malen darauf hingewiesen, daß Schweigen und Verschweigen der Tatsachen der neueren Geschichte die Sache nicht besser mache. Aber in den Landesschul-räten und unter den Landesschul-inspektoren (vor allem in den gemischtsprachigen Kronländern) regierten bereits die „Kenner der Lage“, die davor warnten, mit einer Darstellung der österreichischen Geschichte die Tschechen und die Polen, die Magyaren und die Italiener und vor allem die Deutschen zu provozieren. Indem man sich so vor allen rücksichtswürdigen Empfindungen verneigt hatte, kehrte man zuletzt allen der Reihe nach den Rücken, selbst den Österreichern, die in Österreich Österreicher sein wollten, und befand sich, langsam zurückweichend, an jenem Abgrund, in den dann alles gestürzt ist. Mit Recht hat Kurt von Schusch-nigg damals, als 1918 alles zu Ende war, die Frage nach der Ursache des Zerfalls Alt-Österreiöhs in sein Tagebuch geschrieben: „Die vielen Leben zerstörenden Kräfte, die seit Dezennien unterwühlten, wird erst genaue geschichtliche Untersuchung nennen können. Einstweilen glauben wir — an Willensschwäche.“

Wäre nicht Österreich, würde man nicht auch in der Zweiten Republik darüber Klage führen, daß in Österreich keine Geschichte für Österreicher erforscht und geschrieben wird oder daß es offenbar nicht immer die Männer jener Geisteshaltung sind, die, wenn geschrieben wird, die Feder ergreifen. Man braucht zum Beweis dessen nur einige Studenten auf der Universitätsrampe zu examinieren, und schon ist der optisch und akustisch vernehmliche Beweis bei der Hand: Geschichte und Geschichtsunterricht werden in Österreich klein geschrieben.

Hier soll nicht von Lehrplänen, Stundentafeln und Methoden die Rede sein. Wer sich hierin informieren will, der nehme etwa ein Lehrbuch der Geschichte für die Oberstufe einer höheren Schule zur Hand oder vergleiche die dortige Darstellung der Zeitgeschichte mit der vor 1955 gebräuchlichen.

Ich möchte hier ein Ehrenblatt in der Geschichte des österreichischen Verlagswesens aufschlagen, indem ich feststelle: Wohl selten haben die österreichischen Verleger mit größerer Entschiedenheit, Folgerichtigkeit und Opferbereitschaft ihre Unternehmen dem österreichischen Geschichtsschreiber zur Verfügung gestellt.

Vor uns liegen (um nur einige zu nennen) die umfassenden Darstellungen der Geschichte Österreichs von Hugo Hantsch und Erich. Zöllner, die ersten zusammenfassenden Darstellungen der Geschichte der Republik von Walter Goldinger, Adam Wandruszka, Heinrich Benedikt u. a. Gründliche biographische Werke erhellen auf wissenschaftlicher Basis das Wirken Kaiser Karls I., Leopold Graf Berch-tolds, Ottokar Graf Czernins, Franz Ferdinands, nicht zu vergessen

Conte Cortis Monumentalgemälde der Zeit des „alten Kaisers“. Von den Ministerpräsidenten Baron Beck und Graf Clam-Martinic bis zu Bürgermeister Dr. Karl Lueger liegt eine umfangreiche Zahl von Titeln vor, die beweisen, daß die Österreicher tatsächlich „nichts vergessen haben“ — wenngleich manches Lebensschicksal und sein Beitrag zum Schicksal Österreichs noch eine Aufhellung verdienen würde. Bei alldem kommt die alte Armee, deren geschichtliches Ansehen vor allem Rudolf Kiszling betreut, und der Rückgriff auf die Generationenfolge Conrad, Benedek, Radetzky und Schwarzenberg (Herold) nicht zu kurz.

Und haben wir — trotz aller wissenschaftlich-systematischer Bedenken der Fachgelehrten —■ MUT ZUR ZEITGESCHICHTE. Streiten wir nicht um Begriffe und Worte, ringen wir mit heißem Herzen (und so abgebrüht und erkaltet sind wir, die Tatzeugen, eben nicht) um die Bewältigung des Stoffes, um seine einleuchtende und ergreifende Darstellung, um seine konsequente Verbreitung. Lassen wir die „Dinge“ nicht noch einmal „unter Verschluß“.

Mit großer Achtung und Beachtung schaue ich auf die Darstellungen der „anderen“, der „Linken“, der Österreicher, die mit uns allen im gleichen Boot sind. Die Autobiographien von Karl Renner, Oskar Helmer und Adolf Schärf sind ein Trigon, das auf der Rechten nicht seinesgleichen hat. Ein Ausländer, Gordon Shepherd, hat den Österreichern eine Dollfuß-Biographie in die Hand gegeben. Worauf wir warten, ich darf wohl sagen: alle Österreicher warten, das ist die Biographie des größten Staatsmannes der Ersten Republik: Ignaz Seipel. Jacques Hannaks „Karl Renner und seine Zeit“ sollte im besten Sinne eine Herausforderung sein, diese Lücke zu schließen.

Es gibt ein österreichisches Institut für Zeitgeschichte, und ich sage es mit Stolz, daß ich bei seiner Gründung dabeigewesen bin. Junge Historiker, Österreicher, deren Geburtsjahrgänge ident sind mit den Schicksals Jahren der Zwischenkriegszeit, bringen dort als Avantgarde der neuesten Zeit die Einzeldarstellungen heraus, aus denen einmal die festgefügte Geschichte Österreichs zwischen den Kriegen entstehen wird. (Die Anleihe von Lausanne, der Pfrieimer-Putsch, die Volkswehr in Kärnten u. a.) Die Diskussion darüber ist noch nicht abgeschlossen. Entscheidend bleibt, daß hier eine Diskussion für Österreich eröffnet wurde, und zwar nicht in der Zugluft publizistischer Polemik im Politischen.

Ja — es wird in Österreich wieder

österreichische Geschichte für die Österreicher geschrieben, und die österreichischen Verleger bringen diese Bücher heraus. Es wird nicht nur für die Österreicher geschrieben. Denken wir vor allem daran, daß alle diese geschichtlichen Darstellungen nicht nur ein Bild Österreichs „wie es war“ herausbringen, sondern zugleich eine Dokumentation Österreichs sind „as it is“, nämlich in der Denkweise der Österreicher von heute.

Und so schreiben wir auch heute keine österreichische Geschichte, die „antitsohechiisch, antimagyarisch, antiitalienisch und antideutsch“ wäre. Wir reflektieren darauf, was seit 1918 in allen diesen Ländern geschichtlich zutage gefördert worden ist. In der Geschichtsschreibung kommt es nicht darauf an, in einer Polemik recht zu haben, sondern recht zu behalten. Und deswegen sind zu allen Zeiten nicht die rechthaberischen Historiker, sondern die rechtsschaffenen die großen.

Die „österreichische Geschichtsschreibung für die Österreicher“ soll in einem geistigen Klima vor sich gehen, dessen Horizonte weit über die Grenzen der Republik Österreich und weit über Beengtheiten aus der Vergangenheit reichen sollen. Zu einem solchen Klima gehört die echte Toleranz (d. h. die Toleranz aus einem Standpunkt und nicht aus der Standpunktlosigkeit), die geordnete Gesprächssituation, also der Dialog anstatt des Monologs, und der unerschütterliche Respekt vor der Sachlichkeit.

Wenn dem so ist, dann macht es auch nichts mehr aus, ob bei uns eine österreichische Schule für Geschichte oder eine Schule für österreichische Geschichtsforschung besteht. Es muß nur das österreichische daran klar und unmißverständlich zutage treten.

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