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Österreich: Woher — wohin?

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GESCHICHTE ÖSTERREICHS. Von den Anfängen bis mr Gegenwart. Von Erich Zöllner. Verlag für Geschichte und Politik, Wien — Österreichischer Bundesverlag, Wien. 672 Seiten. Preis 240 S.

Erich Zöllner legt uns eine Geschichte Österreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart vor. Es ist das zweite Mal seit 1945, daß ein solch großes Werk gewagt wird. Schon wenige Jahre nach Kriegsende arbeitete der heutige Altmeister der neuen Geschichte an der Universität Wien, Hugo Hantsch, seine früheren Studien zu einer Geschichte Österreichs aus. In zwei Bänden erschien sie im Verlag Styria und bildet seither in ihren Neuauflagen ein Standardwerk, an dem niemand vorbeigehen kann, der sich dem Studium österreichischer Geschichte verschrieben hat. Eineinhalb Jahrzehnte später kommt die neue Wortmeldung aus der nächsten Historikergeneration unserer hohen Schulen. Erich Zöllners Arbeit ist breiter angelegt, ihr Raum knapper bemessen. Der Autor des vorliegenden Werkes wendet sich nicht nur an die zünftigen Historiker, sondern ebenso auch an den „Geschichtsfreund“. Trotzdem der Schwerpunkt nach wie vor — und das auch mit gutem Recht — bei der politischen Geschichte liegt, wird auch die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte mit einbezogen. Und das alles bei nur 672 Seiten. Wirklich: ein beinahe waghalsiges Unternehmen! Erich Zöllner hat es — das darf gleich vorweggenommen werden —, außer durch seine souveräne Sachkenntnis, dank des von ihm gewählten und von der ersten bis zur letzten Zeile gleichmäßig durchgehaltenen knappen Stils, zu einem guten, mehr noch, zu einem äußerst erfreulichen Ende geführt. Wir haben nun in dem vorliegenden Buch eine „Summa“ österreichischen Geschickes, welche die nützlichen, aber letzten Endes banalen Jahreszahlennachschlag-werke ä la Ploetz weit hinter sich läßt, den Leser jedoch auch nicht einlädt, Frau Historia auf allen ihren verschlungenen Pfaden zu begleiten. Der historische Längsschnitt, einmal zur Aufgabe gemacht, wird mit Sachkenntnis und Sorgfalt gefuhrt.

Eine Geschichte Österreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart zu schreiben, bezeichneten wir oben als ein Wagnis. Beinahe ebenso kühn ist das Unterfangen, einem solchen Werk im Rahmen einer Rezension gerecht zu werden. Professor Zöllner hat vor dem ersten nicht zurückgeschreckt, um so viel weniger ziemt es dem Kritiker, plötzlich den Mut zu verlieren. Er bittet sich jedoch vom Leser aus, sich in seinem kritischen Bericht vor allem Dingen auf sein eigenes, engeres Arbeitsgebiet, das 19. und 20. Jahrhundert, konzentrieren zu dürfen. Andere Rezensenten werden ihre Aufmerksamkeit anderen Zeitabschnitten zuwenden. Und so fügt sich schließlich auch in der Kritik Stein um Stein zu einem Bild.

Von nicht geringer Bedeutung auch für die Standortbestimmung Österreichs in Gegenwart und Zukunft erscheint es dem Rezensenten, daß der Mediävalist Zöllner in der Siedlungsgeschichte des frühen Mittelalters neben den Flur- und Ortsnamen, die im Gefolge der bayrischen Landnahme geprägt wurden, auch jene romanischen Ursprungs erwähnt und durch markante Beispiele (Flattnitz = blatnica = Sumpf wasser; Liesing = lesnica = Waldbach; Jauerling = javornik = Ahornberg; Edlitz = jedla = Tanne) auch der schon sehr frühen slawischen Komponente im Wachsen und Werden Österreichs die ihr so oft* vorenthaltene Gerechtigkeit widerfahren läßt. In der Frage der Severinsforschung und des hitzigen Gelehrtenstreites stellt sich der Verfasser eindeutig auf die von der Universität Wien vertretene „klassische“ Mautern-These und räumt der von E. K. Winter und Pfarrer Kramer vorgetragenen Heiligcnstadt-Theorie auch nicht - womit er sich nichts vergeben und dadurch den Streit vielleicht beendet hätte — die kleinste Chance im Streit um die Palme der Wahrheit ein. Wenn der Verfasser in seinem Vorwort ausdrücklich bekennt, er habe „auf ein ausgebreitetes Räsonnement zugunsten einer eindringlichen Tatsachenschilderung verzichtet“, so heißt dies nicht, daß er nicht in knappen Nebenbemerkungen ein ausgeprägtes Urteil, mitunter sogar ein freimütiges Bekenntnis auszusprechen bzw. abzugeben bereit wäre. So manche Ostmarkideologen müssen sich in einer Fußnote belehren lassen: jener Begriff, der „in der historischen und politischen Terminologie des 19. und 20. Jahrhunderts eine so große Rolle spielt, wird in der mittelalterlichen Quelle für die Babenbergische Mark ebensowenig wie für die Karolingische verwendet“ (S. 63).

Damit aber sind wir mit einem großen Sprung im 20. Jahrhundert.

Für die ruhige, ausgewogene und dabei doch, wo Farbe bekannt werden muß, klare Darstellung dieser „letzten Etappe“ der österreichischen Geschichte ist charakteristisch, wie Zöllner den vielumstrittenen Friedensvertrag von Saint-Germain sieht. Der Verfasser warnt vor allzu einfachen, einseitigen Stellungnahmen. „Weder die publizistischen Produkte der Ablehnungspsychose der ersten Nachkriegsjahre ... noch die krampfhaften Rettungsversuche der jüngeren Vergangenheit halten einer, sachlichen historischen Kritik stand“ (Seite 501).

Und die heißesten der heißen Eisen?

Trotz manchen Zensuren läßt Zöllner auch den Regimes von 1934 bis 1938 in nobler Diktion historische Gerechtigkeit zuteil werden. Über 19^4 notiert der Verfasser: „Der Tod des Kanzlers im Kampf mit dem Nationalsozialismus und die im Ringen um die Erweckung eines österreichischen Staatsbewußtseins immerhin erzielten Teilerfolge bedeuten Aktivposten in der österreichischen Bilanz nach dem zweiten Weltkrieg. Daß die Methoden Dollfuß' autoritärer Politik vielfach fragwürdig waren und jedenfalls nicht mehr aktuell sind, bedarf wohl kaum der Erwähnung“ (S. 517). Und was 1938 betrifft, hält Zöllner im Widerstreit zu der von sozialistischer Seite oft verbreiteten These, daß erst das autoritäre Regime dem Totalitarismus Hitlers die Wege geebnet hätte, fest: „Es ist freilich unwahrscheinlich, daß ein demokratisch geführtes Österreich, in dem auch die Nationalsozialisten freie Entfaltungsmöglichkeiten gehabt hätten, in der bedrängten Lage zwischen Mussolini und Hitler ohne gemeinsame Grenzen mit einer demokratischen Großmacht auf die Dauer dem Dritten Reich hätte erfolgreicheren Widerstand leisten können, mit keiner anderen Hilfe als platonischer Sympathie des Westens. So hatte man- immerhin fünf Jahre standgehalten“ (S. 524).

Was die heute, im Tagesgespräch aus einsichtigen Gründen vielfach vernebelte Rolle Österreichs und der Österreicher in Hitlers Angriffskrieg betrifft, so schreibt Zöllner hier klar und eindeutig die Wahrheit: „Was aber Österreich betrifft, so ergibt sich der zweifache Aspekt, daß einerseits kein österreichischer Staat bestand und Krieg führte, anderseits aber die Österreicher — nicht in geschlossenen Verbänden, sondern auf verschiedene Einheiten verteilt — als Angehörige der Deutschen Wehrmacht einrücken mußten“ (S. 526).

Aus einer solchen einwandfreien patriotischen Einstellung ergibt es sich von selbst, daß der Verfasser auch dem österreichischen Widerstand im allgemeinen und dem Wiener Aufstandsversuch 1945 die Ehre gibt. Letzteren erkennt er ausdrücklich als ein „vom österreichischen und Wiener Standpunkt vollberechtigtes Unternehmen“ (S. 528). Diese Feststellung eines namhaften Historikers der Kriegsgeneration ist bedeutungsvoll. Doppelt bedeutungsvoll, weil sie im Gegensatz zu einer gewissen Zeittendenz des Verschweigens, ja der Abwertung dieser Kämpfer für ein freies Österreich steht. Merk's Österreichischer Kameradschaftsbund!

Es ist Aufgabe einer Rezension, auch Korrekturen anzubringen, wo dem Verfasser kleinere Fehler und Fehlinterpretationen unterlaufen zu sein scheinen.' So erfolgte die Heimholung der Priester aus der Politik durch den österreichischen Episkopat nicht erst 1945 (S. 530). Sie war bereits 1933 erfolgt — kam freilich erst mit der Wiederherstellung der Demokratie richtig zum Tragen. Der ehemalige Bürgermeister Richard Schmitz soll 1945 die Gründung einer „Katholischen Partei“ geplant haben? Davon ist dem Rezensenten

nichts bekannt. Dabei stand er mit dem Genannten, der bis zu seinem Tod als Generaldirektor des Verlages „Herold“ wirkte, in einem historischen und politischen Gedankenaustausch. Auch würde sich empfehlen, für die um Funder, Schmitz, Kienböck und andere gebildete Gruppe in der Christlichsozialen Partei der zwanziger Jahre die authentische Bezeichnung „Wiener Richtung“ zu verwenden, statt, wie es der Verfasser gerne tut, von einem „Wiener Kreis“ zu sprechen. Der „Wiener Kreis“ ist schon für Schlick und seine positivistische Schule als historischer Terminus technicus besetzt. Aber genug: Der Rezensent hat keine Lust, sich als Beckmesser beschimpfen zu lassen.

Erich Zöllner schließt seine österreichische Geschichte mit dem Appell, „in einem Zeitalter großer weltpolitischer und ideologischer Konflikte eine aufgeschlossene, tolerante und wahrhaft weltbürgerliche Gesinnung zu wahren, die seit je den besten Traditionen des Österreicher-tums entsprach“ (S. 573). Mit diesem Bekenntnis — es ist in seiner schlichten, beinahe könnte man sagen scheuen Art charakteristisch für den Verfasser — gibt

uns Zöllner auch Auskunft über seinen geistigen Standort, von dem aus er Rückschau hielt über zwei Jahrtausende österreichischer Geschicke.

Bleibt nur noch festzuhalten, daß das dem Werk beigefügte, 50 Seiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis an sich eine kleine Kostbarkeit ist. Hier wird auch deutlich, was sich schon bei dem Studium des Textes abzeichnete: Zöllner hat vor allem die Forschungen der jungen Historikergeneration zur neuen und neuesten österreichischen Geschichte voll herangezogen. Diese Spezialarbeiten sind in ihrer Bedeutung als Bausteine zu einem neuen Österreichbild hiermit auch in aller Form anerkannt.

„Dem Fachhistoriker und Geschichtsfreund“ hat Zöllner dieses Buch zugeeignet. Wir wünschen es vor allem in die Hände aller jungen Akademiker. Aber auch die Politiker in Stadt, Land und Gemeinde sind eingeladen, durch die Bereicherung ihrer Kenntnisse über den Weg Österreichs durch vergangene Jahrhunderte sich den Blick für die Aufgaben kommender Jahrzehnte zu schärfen.

Der Preis des vorliegenden Buches ist nicht gering. 240 Schilling sind auch 1962 nicht wenig Geld. Eine broschierte, wesentlich verbilligte Ausgabe könnte der wünschenswerten Verbreitung des Werkes von Erich Zöllner nur förderlich sein.

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