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Die Stunde der Historiker

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In der Woche vom 29. August bis 5. September dieses Jahres beherbergt Wien den 12. Internationalen Historikerkongreß. Nach der Unterbrechung durch den zweiten Weltkrieg — der Kongreß in Zürich im Spätsommer 1938 war schon von der Spannung der „Sudetenkrise“ überschattet gewesen — ist die Tradition der jeweils im Abstand von fünf Jahren veranstalteten Internationalen Kongresse der Geschichtswissenschaften mit den Kongressen von Paris (1950), Rom (1955) und Stockholm (1960) wiederaufgenommen worden; wobei, besonders auf den beiden letzten Kongressen von Rom und Stockholm, die Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Geschichtsauffassungen in Ost und West weitgehend (und sogar in den Fachsitzungen über die antike Geschichte) die Diskussionen der Kongreßteilnehmer beherrschte.

So ist für die Wahl Wiens als Kongreßort — neben dem hohen Ansehen, das der in Stockholm zum Präsidenten, des Internationalen Historikerkomitees gewählte, leider Inzwischen verstorbene Wiener Osteuropa-Historiker Heinrich Felix Schmid genoß — wolii' auch in erster Linie die besondere Position des neutralen Österreich am Schnittpunkt zweier Welten maßgebend gewesen; wozu eich dann trefflich die verschiedenen Jubiläen dieses Jahres, voran das Universitätsjubiläum und jenes des Wiener Kongresses, fügten. Schließlich aber eignet sich die an historischen Erinnerungen so reiche Donaustadt mit ihrer ganz eigentümlich von Geschichtsbewußtsein erfüllten Atmosphäre wie nur wenige andere Städte der Welt als Tagungsort für einen Historikerkongreß; so daß es unter diesem Gesichtspunkt beinahe verwunderlich erscheinen mag, daß erst jetzt, nach zwei Weltkriegen, und nicht schon viel früher Wien zum Ort der Begegnung zwischen den Historikern aus aller Welt ausersehen worden ist.

Eine kurze Überlegung mit der Erinnerung an das bewegte politische Geschehen und die spannungsgeladene Atmosphäre in der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt der Donaumonarchie in deren letztem Lebensabschnitt wie auch in der Hauptstadt der von Krisen geschüttelten Ersten Republik, läßt es jedoch sogleich wieder als durchaus verständlich und sinnvoll erscheinen, wenn erst und gerade jetzt die Internationale Geschichtswissenschaft in Wien zu Gast ist. Zugleich aber ergibt sich daraus für die österreichische Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung eine einzigartige Gelegenheit, die um so verheißungsvoller erscheinen mag, als sich die österreichische Geschichtswissenschaft gerade jetzt in sachlicher wie in personeller Hinsicht an einem Wendepunkt befindet.

Es ist oft und besonders in jüngstvergangener Zeit beklagt worden, daß das staatspolitische Ziel, das 1854, im Zeitalter des Neo-Absolutismus, den Gründern des „Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ vorschwebte, weder damals noch in der Folgezeit erreicht wurde und daß Österreich keine „nationalpolitische“ Geschichtsschreibung im Sinne der kleindeutsch-preußischen der Droysen, Sybel und Treitschke oder der anderen nationalstaatlich organisierten oder den Nationalstaat anstrebenden europäischen Nationen hervorgebracht hat. Die gutgemeinten Versuche, dieses angebliche Versäumnis nachzuholen, mußten scheitern wegen des inneren Widerspruchs eines solchen Versuchs zum Wesen und Verlauf der österreichischen Geschichte.

Nun aber ist, zumindest in Europa, und zwar im Westen wie im Osten unseres Kontinents, die Stunde der „nationalpolitischen“ Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung wohl endgültig vorübergegangen, trotz der Zähigkeit, mit der sich überholte KUscheevorstellun gen nicht so sehr in den Ansichten der Fachhistoriker als im Geschichtsbewußtsein breiterer Schichten der Gebildeten halten. Der Mythos des nationalen Macht- und Einheitsstaats Ist ebenso verblaßt wie etwa jener des weit vorausblickenden Staatsmannes als Schöpfer dieses Macht- und Einheitsstaates, und auch der Mythos von der Revolution als des allein legitimen, ja geradezu alleinseligmachenden Mittels zur Herbeiführung menschlichen Fortschritts ist ins Wanken geraten. Es bedarf keiner besonderen Prophetengabe, um vorauszusagen, daß gerade die bevorstehenden Diskussionen der Historiker in Wien diese Entwicklung besonders deutlich hervortreten lassen werden.

Damit aber ergibt sich eine neue Situation gerade auch für die Bewertung, ja Neubewertung der österreichischen Geschichte. Denn die nahezu uneingeschränkte, ausgesprochene oder unausgesprochene, Anerkennung dieser Mythen ist es ja gerade gewesen, die eine unbefangene gerechte Beurteilung der österreichischen Geschichte verhindert hat, beziehungsweise die österreichischen Historiker, wenn sie sich doch mit patriotischer Selbstverleugnung der undankbaren Aufgabe unterzogen, so oft in die wenig beneidenswerte Rolle grämlich-rechthaberischer Apologeten gedrängt hat; von Apologeten, die ihre siegreich-selbstbewußten Gegner von den längst überholten Positionen der „großdeutschiösterreichischen“ Publizistik vor hundert Jahren aus bekämpften. Heute aber ist dieser innere Zwang zur verkrampften Apologetik völlig weggefallen, was sich bereits so wohltuend gerade an einigen neueren Werken der österreichischen Geschichtsschreibung zeigt, wie etwa an der heiteren Gelassenheit von Heinrich Benedikts „Kaiseradler über dem Apennin“ oder an der unpathetischen Sachlichkeit von Erich Zöllners „Geschichte Österreichs“.

Zeigen gerade die beiden genannten Autoren — Benedikt vollendet demnächst das achte, Zöllner etwas später das fünfte Lebens Jahrzehnt, zwischen beiden liegen also mehr als drei Dezennien —, daß es sich hier keineswegs allein um eine Generationenfrage handelt, so muß

doch zugegeben werden, daß es die jüngere Generation, die selbst nicht mehr bewußt den Untergang der Donaumonarchie miterlebte, unendlich leichter hat, zur österreichischen Vergangenheit eine unbefangene, nur durch ein natürliches Gefühl der Zuneigung und der Zugehörigkeit bestimmte Haltung einzunehmen. Diese „jüngere“ i— in Wirklichkeit gar nicht mehr so junge — Generation aber ist es, die jetzt vor der großen und dankbaren Aufgabe einer Neubewertung der österreichischen Geschichte und ihrer harmonischen Einfügung in ein neues europäisches Geschichtsbild steht.

Diese Aufgabe, die mit weltoffener Gesinnung, ohne Rücksicht auf veraltete, schon längst selbst „historisch“ gewordene Sentiments und Ressentiments (etwa gegenüber den angeblichen oder tatsächlichen „Totengräbern“ der Donaumonarchie) sowie frei von überholten Klischeevorstellungen durchgeführt werden muß, wird wesentlich erleichtert durch den Umstand, daß in der seriösen Geschichtswissenschaft des Auslands, in den Vereinigten Staaten wie in England, in Frankreich wie in Italien, aber erfreulicherweise auch in den zum „Ostblock“ gehörenden -Nachfolgestaaten, ja sogar in der Sowjetunion selbst, das Interesse und das Verständnis für die österreichische Geschichte ständig zunehmen. Besonders was das westliche Ausland und hier wieder vor allem die angelsächsischen Länder betrifft, so hat hier wohl die Tätigkeit ehemaliger Österreicher, die jetzt in diesen Ländern forschen und lehren, die allerwichtigste Rolle gespielt, wobei auch wieder nur als einer für viele einer der fruchtbarsten und bedeutendsten, der in den Vereinigten Staaten lehrende Professor Robert A. Kann genannt sei. Es ist ein unbestreitbares Verdienst der österreichischen Verleger, I daß zahlreiche Bücher dieser und anderer ausländischer Historiker, die Themen der österreichischen Geschichte behandeln, in den letzten Jahren in Österreich in deutscher Übersetzung erschienen sind oder demnächst erscheinen werden. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger aber ist es, daß Werke österreichischer Historiker auch ins Englische, Französische, Italienische, Spanische sowie in die osteuropäischen Sprachen übersetzt werden. Der Gewinn liegt, wie immer in solchen Fällen der Begegnung, auf beiden Seiten. So hat etwa die österreichische Forschung über den „Josephinismus“ einen wichtigen Beitrag zum Verständnis eines gesamteuropäischen Phänomens, des Staatskirchentums des aufgeklärten Absolutismus und des „Reformkatholizismus“ des 18. Jahrhunderts, geleistet; sie bedarf aber, um die rechten Maßstäbe zu finden, ihrerseits des Vergleichs mit den parallelen Entwicklungen nicht nur in den anderen katholischen Ländern Europas, sondern etwa auch mit dem Pietismus im protestantischen Bereich.

So wird eine „Europäisierung“ des österreichischen Geschichtsbilds fast zwangsläufig begleitet sein von einem stets wachsenden Verständnis für die österreichische Geschichte zuerst bei den Historikern, dann aber auch im allgemeinen Geschichtsbewußtsein der anderen Völker. Eine sehr wichtige, ganz konkrete Bedeutung kommt dabei der gerade in jüngster Zeit so erfreulich zunehmenden Benützung der reichen Schätze der Wiener Archive durch ausländische Forscher zu; besonders der geradezu unerschöpflichen Bestände des Haus-, Hof-und Staatsarchivs, das man im Hinblick auf die bekannte Legende („...oder Eisen für ewige Zeiten“) geradezu den „österreichischen Erz-berg der europäischen Geschichtsforschung“ nennen könnte.

Alle diese Umstände und Uber-legungen lassen es als gerechtfertigt erscheinen, dem bevorstehenden „Wiener Kongreß der Geschichtswissenschaften“ mit hochgespannten Erwartungen, gerade auch für die weitere Entwicklung der österreichischen Geschichtswissenschaft, entgegenzusehen. Der Geschichtsschreibung dieses Landes eröffnen sich größere Möglichkeiten als je zuvor. Hoffen wir, daß die Gunst der Stunde genützt wird!

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