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Heerschau der Völkerkunde

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Der Beschluß, alle vier Jahre einen internationalen Kongreß für Anthropologie und Ethnologie abzuhalten, wurde auf einer Konferenz von Gelehrten gefaßt, die im Jahre 1933 in Basel stattfand. Der erste Kongreß wurde 1934 in London abgehalten, der zweite 1938 in Kopenhagen. Der Krieg brachte eine Unterbrechung von zehn Jahren. Erst 1948 konnte der dritte Kongreß in Brüssel stattfinden. Bei dieser Gelegenheit wurde die Einladung des Bundesministeriums für Unterricht angenommen und Wien als Tagungsort des nächsten Kongresses gewählt .

Das bedeutet selbstverständlich eine Anerkennung der Tatsache, daß Wien seit nunmehr einem Vierteljahrhundert, mit bloßer Unterbrechung durch die Jahre nationalsozialistischer Herrschaft, eine führende Stellung in den in Betracht kommenden Wissenschaften einnimmt. Hier sei jenes Mannes gedacht, der vor ungefähr vierzig Jahren die ersten Grundlagen für die spätere Entwicklung schuf, des allzu früh verstorbenen Forschungsreisenden und Professors an der Wiener Universität, Rudolf P o e c h. Vor allem aber ist jener große und geistvolle Gelehrte zu erwähnen, der jahrelang Studenten der Völkerkunde aus allen Ländern und Erdteilen an die Wiener Universität gezogen hat, Professor P. Wilhelm Schmidt, der heute, 84jährig, in der Schweiz lebt. Der Umstand, daß er auf dem Brüsseler Kongreß zum Präsidenten des kommenden Kongresses in Wien gewählt wurde, zeigt, wie groß sein wissenschaftliches und persönliches Ansehen auch bei jenen ist, die im einzelnen manche seiner Theorien und Schlußfolgerungen ablehnen. Nichts könnte bezeichnender sein, als daß der Antrag zu seiner Wahl von einem französischen Kollegen gestellt wurde, von dem bekannt ist, daß er politisch weit auf dem linken Flügel steht — eine schöne Bekräftigung der Tatsache, daß wahre Wissenschaft ihre Jünger über alle Unterschiede der Nation und der politischen Gesinnung hinweg zu einer großen Brüdergemeinde zu verbinden vermag.

Die erste Einladung zum Kongreß wurde im August vorigen Jahres an mehr als 10.000 Adressen ausgesandt. Der Erfolg überstieg bei weitem die Erwartungen. Man darf mit einer Teilnehmerzahl von 700 bis 800 rechnen. Anmeldungen liegen vor aus den meisten Ländern Europas, aus Nord- und Südamerika, aus Afrika, Ägypten, der Türkei, Indien, aus den verschiedenen Ländern Hinterindiens und Ostasiens, aus Australien und Neuseeland.

Auf dem Gebiet der Anthropologie werden die Morphologie und Physiologie des Menschen, die Erblehre, die

“ Die feierliche Eröffnungssitzung wird am 1. September d. J. in Anwesenheit des Bundespräsidenten im Auditorium maximum der Wiener Universität stattfinden.

Rassenkunde und die Forschung über vorgeschichtliche Formen des Menschen gleichermaßen zu Worte kommen. Noch mannigfaltiger werden die Vorträge aus dem Gebiet der Völkerkunde und ihrer Nachbarwissenschaften sein. Eine ganze Reihe von Vortragenden wird sich mit soziologischen Problemen befassen. So wird zum Beispiel Prinz Peter von Griechenland auf Grund seiner mehrjährigen Forschungsreisen über die merkwürdige Sitte der Vielmännerei berichten, wie sie sich in Tibet und manchen Gegenden Indiens findet. Besonders interessant versprechen die religionswissenschaftlichen Vorträge zu werden. Sie werden alle Formen des Glaubens behandeln, von den primitivsten bis zum Buddhismus und der Religion Zarathustras. Einige Vortragende werden über die medizinischen Kenntnisse und Praktiken außereuropäischer Völker sprechen. Hier dürfte der Vortrag eines aus Österreich gebürtigen Arztes, Dr. Hans F e r i z aus Amsterdam, eine besondere Überraschung bringen. Er konnte nämlich bei peruanischen Indianern eine durchaus zweckmäßige Methode der Harndiagnose und der Behandlung der Zuckerkrankheit feststellen. Ein anderer Auslandsösterreicher, Professor Fürer-Haimendorf von der Londoner Universität, wird seine neue, epochemachende Theorie vorlegen, derzufolge die Drawida-Völker Indiens nicht, wie man bisher glaubte, lange vor den Ariern, sondern später als diese nach Indien eingewandert sind.

Die große Bedeutung, die den Problemen der Herkunft und Verbreitung der Kulturpflanzen und Haustiere zukommt, zeigt sich in der Zahl der Themen, die auf diesen Gebieten angekündigt sind. So wird der hervorragende britische Botaniker Hutchinson eigens aus Zentralafrika nach Wien kommen, um hier seine neuesten Forschungsergebnisse über die Herkunft der Baumwolle vorzulegen,

Auch die europäische Volkskunde wird durch eine große Zahl interessanter Vorträge vertreten sein. Gerade in diesem Zweig der Wissenschaft nehmen ja die drei österreichischen Universitäten und unser prachtvolles Museum für Volkskunde schon seit langem eine führende Stellung ein.

An prähistorischen Themen ist unter anderem ein Vortrag Professor Ehren- bergs über seine Untersuchungen in der Salzofenhöhle im Toten Gebirge bei Aussee zu nennen, der neues Licht auf die religiösen Bräuche der Menschen der älteren Steinzeit werfen dürfte. Aber auch die Prähistorie außereuropäischer Gebiete, insbesondere Afrikas und Amerikas, wird zu Worte kommen. Besonders wichtig verspricht ein Bericht Professor Ciprianis aus Florenz über seine Grabungen in den Muschelhaufen der Andamaneninseln im Bengalischen Meerbusen zu werden, Br wird uns hoffentlich

Aufklärung über die Vergangenheit der Zwergneger, der heute beinahe ausge- storbenen Urbewohner dieser Inseln, bringen, die zu den altertümlichsten Völkern der Erde gehören.

Nicht selten begegnet man der Meinung, die Völkerkunde sei eine weltfremde Wissenschaft und die Beschäftigung mit fernen, schriftlosen und primitiven Völkern, mit sogenannten „Wilden“, eine bloße Liebhaberei, die im Grunde nur die Spezialisten angehe, aber für die Gesamtheit bedeutungslos sei, Nichts könnte unrichtiger sein. Gerade in einer Krise unserer gesamten Kultur, wie wir sie heute zu durchleben gezwungen sind, ist es von größter Bedeutung, daß wir uns besinnen und uns nach Möglichkeit über Wesen und Werden der Kultur klarzuwerden versuchen. Es gibt keinen anderen Weg dazu als die Kenntnis der Vergangenheit. Wie die Zoologie zum richtigen Verständnis der heutigen Tierwelt der Paläontologie, die Geographie zum Verständnis der heutigen Geländeformen der Geologie bedarf, so bedürfen alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen jener Wissenschaften, die sich bemühen, die ferne Vergangenheit des Menschengeschlechts aufzuhellen, das heißt der Prähistorie und der Völkerkunde. Aber während die prähistorische Archäologie, abgesehen davon, daß sie uns einen unentbehrlichen Zeitmesser liefert, uns im allgemeinen nur die Kenntnis der materiellen Hinterlassenschaft unserer Vorfahren vermittelt, hinsichtlich ihrer Gedankenwelt dagegen uns zwar wertvolle, aber naturgemäß doch nur einseitige und indirekte Schlüsse erlaubt, stehen uns in den Kulturen der Naturvölker unschätzbare lebendige Denkmäler vor Augen, die uns tiefe Einblicke in die Geistigkeit unserer eigenen Vorzeit gewähren.

Die Bedeutung der Völkerkunde für unser Kulturleben zeigt sich aber auch darin, daß sie zu beinahe allen anderen Wissenschaften in irgendeiner Beziehung steht. Vor allem muß sie, zusammen mit der Prähistorie, als die Grundlage und das einigende Band aller historisch gerichteten Geisteswissenschaften gelten. Andererseits ist sie selbst als ein Zweig der Geschichtswissenschaft zu betrachten. Diesem Grundsatz zu beinahe allgemeiner Anerkennung verholten zu haben, kann gerade die Wiener Schule als Verdienst in Anspruch nehmen.

Auch in rein praktischer Hinsicht ist die Völkerkunde heute berufen, eine äußerst wichtige Rolle zu spielen. In der Vergangenheit hat die Berührung mit der europäischen Kultur verheerend auf die Naturvölker gewirkt, gleichgültig, ob man diese mit Feuer und Schwert ausgerottet oder in bester Absicht, aber tiefem Unverstand zur Annahme einer mehr oder weniger europäischen, ihnen nicht angemessenen Lebensweise gezwungen hat. Heute wird bereits in vielen Kolonialländern der Rat des Ethnologen eingeholt, der zu entscheiden hat, welche Seiten des bodenständigen Kulturlebens als wertvoll zu erhalten und wie sie weiterzuentwickeln sind, um den Lebensstandard und das Kulturniveau der eingeborenen Bevölkerung zu heben.

Während die Wissenschaft der Völkerkunde in stetem Aufschwung begriffen ist, befindet sie sich andererseits in einer tragischen Lage. Denn unter ihren Augen schwinden die Objekte ihrer Forschung, die Kulturen und Sprachen gerade der altertümlicheren Völker unter der Einwirkung höherer Kultur mit rasender Geschwindigkeit dahin wie Schnee in der Sonne. Unsere heutige Generation trägt gegenüber künftigen Geschlechtern die Verantwortung dafür, im letzten Augenblick noch für die Wissenschaft zu retten, was in wenigen Jahren für immer verloren sein wird. Nur wer mitten im Wissenschaftsbetrieb steht, weiß, wie unendlich viel hier noch zu tun ist, wie viele Völker, Kulturen und Sprachen noch unerforscht sind. Die Aufgabe ist gewaltig und kann nur auf internationaler Basis in Angriff genommen weiden, Deshalb beabsichtigen wir, im Rahmen des kommenden Kongresses wieder eine Diskussion über die dringendsten Aufgaben der Forschung und über Mittel und Wege zu ihrer Durchführung abzuhalten. Wir hoffen, daß es möglich sein wird, eine internationale Organisation zu diesem Zweck zu schaffen. Sollte das gelingen, so wird der in Wien stattfindende Kongreß als ein Wendepunkt in der Geschichte dieser Wissenschaft fortleben.

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