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Wilhelm Schmidt

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Bür den 8. März 1938 hatte die Katholische Aktion der Erzdiözese Wien zu einem akademischen Festabend aus Anlaß der Vollendung des 70. Lebensjahres des Universitätsprofessors Dr. P. W. Schmidt im Auditorium maximum der Universität Wien eingeladen. In Gegenwart vieler kirchlicher Würdenträger und Vertreter des staatlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens Österreichs ging die Feier vor sich. Keine rechte Feststimmung wollte aufkommen. In unmittelbarer Nähe standen dunkeldrohende Wolken aipi politischen Horizont. Die drückende Atmosphäre des in den nächsten Stunden hereinbrechenden Geschehens zeichnete sich, die innere Unruhe nur schwer verbergend, am äußeren Ausdruck und Gehaben der Festteilnehmer ab. Kurz darauf ging der Gefeierte, eben noch in letzter und rechter Stunde, über die Grenzen Österreichs, das ihm, dem geborenen Westfalen, zu einer zweiten Heimat geworden war, um die Jahre seines siebenten Lebensjahrzehntes im Ausland, zuerst in Rom, dann in Freiburg in der Schweiz, zu verbringen.

Als wir damals an der Wiener Alma mater den angesehenen und verdienten akademischen Lehrer feierten und sein bis dahin vollbrachtes Lebenswerk überblickten, warf der eine der beiden Festredner die Frage auf: Was haben wir von dem Siebzigjährigen noch zu erwarten? Mit zuversichtlicher Gewißheit beantwortete er selbst seine Frage: Die irdischen Scheunen des greisen Gelehrten sind noch lange nicht gefüllt. P. Schmidt ist nicht der Mann des Evangeliums, der jetzt bereit wäre, seine Arbeitsjahre zu beenden und zu sich selber zu sagen: „Nun ruh’ aus und lass’ es dir gut sein!“ Und tatsächlich, der Siebzigjährige dachte nicht einen Augenblick daran, von dem Forum geistigen Schaffens abzutreten. Heute geht der Achtziger in sein neues Lebensjahrzehnt hinüber mit ungebrochenem Lebens- und Schaffenswillen: Non recuso laborem!

Eine erstaunliche, über die Masse der menschlichen Durchschnittskraft weit hinausreichende Arbeitsleistung liegt im eben abgeschlossenen Jahrzehnt seines Lebens. Sein über vier Jahrzehnte zurückreichendes Lebenswerk „Der Ursprung der Gottesidee“ (Münster i. W.) ist ständig im Anwachsen geblieben. Zu den sechs Bänden, die sich mi: der Religion der Altstämme befassen, sind nun ebenso viele über die afrikanischen und asiatischen Hirtenvölker hinzugekommen; einer davon — über die afrikanischen Hirtenvölker — liegt seit Jahren vor, zwe: Bände sind derzeit in der Schweiz, einer in Deutschland (Münster i. W.) im Druck; zwei Bände sind im Manuskript fertiggestellt. Von einem dreibändigen in der Schweiz entstandenen Werk „Rassen und Völker in Vorgeschichte und Geschichte des Abendlandes“ sind die ersten beiden Bände 1946 (Luzern) erschienen, der eben im Druck befindliche dritte Band steht unmittelbar vor der Fertigstellung. Die über sein engeres Fachgebiet hinausgreifenden und doch in ihm wurzelnden „Sech% Bücher von der Liebe, von der Ehe, von der Familie“ sind 1945 (Luzern) in dritter Auflage herausgekommen. Zu unserer Überraschung erfahren wir, daß es P. W. Schmid. — und auch nur ihm — möglich war, neben seinen fachwissenschaftlichen Arbeiten ein „Jesusleben“ zu verfassen. Dieses Buch von über 800 Seiten ist während des letzten Weltkrieges in der Schweiz erschienen, durch die äußeren Verhältnisse bedingt, jedoch bisher in Österreich so gut wie unbekannt geblieben.

Ist Wilhelm Schmidts Lebenswerk heute als abgeschlossen zu betrachten? Nach menschlichem Ermessen dürfen wir sagen: Auch heute noch nicht! Im ganzen und wesentlichen aber sehen wir es vollendet vor uns. Und so darf heute vor dieser monumentalen Lebensart eines Geistesgrößen die Frage gestellt werden: Was von ihr gehört derZeit, wird mit ihr verfallen, was von ihr bleibt? Wilhelm Schmidts ethnologische, religionsgeschichtliche, linguistische Arbeiten, niedergelegt in bisher mehr als 200 Publikationen, sind aus der Entwicklung dieser Fachwissenschaften nicht mehr hinwegzudenken; jedes neuerschienene Werk ist, wie ein angesehener Fachgelehrter einmal er klärte, ein Ereignis für die wissenschaftliche Welt. Schmidts Schaffensmögliehkeiten sind schier unbegrenzt. Sein 1937 (Münster i. W.) erschienenes „Handbuch der Methode der vergleichenden Ethnologie“ ist für die historische Völkerkunde und Religionsgeschichte von richtunggebender und grundlegender Bedeutung. Die 1906 begründete Internationale Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde „Anthropos" steht in einer stattlichen Reihe von 40 Bänden, jeder Band von über 1Q00 Seiten, vor uns. Ihr Fundator ist Wilhelm Schmidt, unter dessen Schriftleitung sie gegenwärtig von dem in Freiburg in der Schweiz vereinigten Kreis des Anthropos-Instituts herausgegeben wird. Nach dem Wort eines hervorragenden Wiener Ethnologen ist sie unbestritten die „bedeutendste ethnologische Zeitschrift". Die in ihr 'niedergelegten Materialien sind für die völkerkundliche, religionsgeschichtliche, sprachwissenschaftliche und allgemein kulturgeschichtliche Forschung von fundamentaler Bedeutung und unvergänglichem Wert.

Was also bleibt von diesem Lebenswerk? Das Wesentliche an seinem geistigen Schaffen, die von ihm gelegten Fundamente, seine in genialer Sicht festgelegten großen architektonischen Formen und führenden Linien werden bleiben. Damit ist P. W. Schmidt unter die Klassiker der Kulturgeschichte der Menschheit eingegangen. Gewiß, manches wird der nie zum Stillstand kommende Fluß wissenschaftlichen Forschens in der Erschließung neuen Quellenmaterials hin2ubringen, anderes schärfer zeichnen, gewiß auch das eine und das andere neubauend umgestalten. Ist doch Wilhelm Schmidt selber aufgeschlossen genug und bereit geblieben, unter strenger kritischer Eigenprüfung das heraufkommende Neue wachen Auges zu sehen, das Wertvolle daran mit intuitivem Blick herauszusondern und es sich, auch in entschlossener Umstellung, fruchtbar zu machen. Auf Retracta- tfones können wir in Schmidts Werken mehr als einmal stoßen — 'Zeugnisse seines rastlos vordrängenden, niemals stillestehenden Forschergeistes.

Getragen von hohem sittlichem Mannesernst, gesichert von einer kaum zu übersteigernden Akribie methodischen Arbeitens, ausgesprochen in Sätzen Von eindrucksvoller Kraft und Würde, läuft P. W. Schmidts Forschen in allen seinen einzelnen Gebieten, seien es nun Sprachwissenschaft, Völkerkunde, Religionsgeschichte oder auch Gesellschaftslehre, Urgeschichte, Rassenkunde, in eine Endsynthese von einem letzten Sinn zusammen: testimonium perhibere de lu- mine, Wahrheitszeuge zu sein von der ewigen Wahrheit. Unterschätzen wir das nicht, es steht eine gewaltige Problematik hinter den Fragen, nach deren Lösung Völkerkunde und Religionsgeschichte drängen; weltanschauliche Belange von letzter Tiefe werden von daher angegangen werden, angegangen werden müssen. Und diese Problemstellungen und Beantwortungen werden geistesgeschichtlich aufrüttelnder und entscheidender sein als die spekulativphilosophischen, rechtshistorischen, staatspolitischen. Hier ist der Boden, auf dem der nunmehr Achtzigjährige, ausgestattet mit einem vollgerüttelten Maß fachwissenschaftlicher Kenntnis und ausgerüstet mit Waffen, die er sich selbst in seiner neuerarbeiteten Methode kulturhistorischen Forschens bereitgestellt hat, Bahnbrecher, Vorkämpfer und Führer geworden ist. Es geht da nicht um irgendwelche abseitsgelegene, wirklichkeitsferne wissenschaftliche Sondergebiete, nicht um drictrangige Schul- mea iungen, es geht um geistgeschichtliche letzte Entscheidungen. Das will man, so scheint es; hüben weniger verstehen als drüben. Unsere Zeit will konkrete Wirklichkeiten. Geistesgeschichtliche Forschungsarbeit wird zunehmend die Wege suchen, die Wilhelm Schmidt aufgebrochen ur.d sicheren Schrittes begangen hat; für sie will es ein Kriterium entscheidenden Ranges bedeuten, wenn urältestes Menschheitsdenken zur Zeugenschaft aufgerufen wird. P. W. Schmidts Lebenswerk ist eine einzigartige Zeugen- sdcaft dieser Art.

Am 80. Geburtsfest, das die Universität Freiburg in der Schweiz zu Ehren ihres noch aktiven Ordinarius in einer großen akademischen Festfeier begeht, kann Österreich den gelehrten Jubilar als einen der Seinen mitfeiern. Der Westfale Wilhelm

Schmidt ist Österreicher geworden und bis heute geblieben. Dem Glückwunschschreiben des Vertreters der Kirche Österreichs, Kardinal Innitzers, reihen sich namhafte andere an: des österreichischen Unterrichtsministers, der Wiener Akademie der Wissenschaften, der philosophischen Fakultät der Wiener Universität, die ihm aus diesem Anlaß das Ehrendoktordiplom verliehen und durch Universitätsprofessor Dr. W. Köppers überreicht hat, der Anthropologischen Gesellschaft Wien, die ihn zu ihrem Ehrenpräsi-

deriten ernannt hat, und schließlich des großen Kreises seiner ehemaligen Schüler, der sich in einer Gesamthuldigung des Instituts für Völkerkunde vereinigt hat, junge Menschen auf dem wissenschaftlichen Arbeitsfeld, denen W. Schmidts Forscherpersönlichkeit die Wege gezeigt und aufgeschlossen hat, denen last not least P. W. Schmidts Priesterpersönlichkeit ein Vorbild eigener Lebensgestaltung geworden ist.

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