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Christlicher Sozialrealismus

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Der Nestor der österreichischen Sozialethik ist tot. Wolfgang Schmitz, Finanzminister a. D., würdigt sein umfangreiches Lebenswerk und Engagement.

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Der Nestor der österreichischen Sozialethik ist tot. Wolfgang Schmitz, Finanzminister a. D., würdigt sein umfangreiches Lebenswerk und Engagement.

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Was der katholischen Soziallehre mitunter eine ebenso peinliche wie ärgerliche Schlagseite gibt, ist die hilflose Kombination von gutgemeintem Pathos mit sachlichem Dilettantismus, selbst unter offensichtlicher Verkennung— so paradox das auch wirklich ist! — der beschränkten erbsündigen Natur des Menschen — eine „christliche" Gesellschaftslehre ohne ein christliches Menschenbild. Das Ergebnis: Sozialromantik oder Prinzipiensterilität.

Johannes Messner ist einen anderen Weg gegangen. Sein Tod an diesem für Österreich historischen 12. Februar, drei Tage vor der Vollendung seines 93. Lebensjahres, beendete seine irdische Schaffensperiode, die von Anfang an durch eine ganz erstaunliche innere und äußere Konsequenz ausgezeichnet gewesen ist.

Als Sohn eines Bergmannes und einer Tabakarbeiterin in der alten Tiroler Knappenstadt Schwaz hatte er die soziale Problematik vor der Suche nach theoretischen Lösungen selbst erlebt. Die Erforschung der individuellen und der sozialen Wirklichkeit des Menschen stand vor der Entwicklung sozialethischer Normen für seine gesellschaftliche Organisation.

Der frühe Drang, sich systematisch mit den Fragen zu befassen, die er aus eigenem unmittelbaren Erleben als lösungsbedürftig erfuhr, veranlaßten ihn zunächst zum emsigen Selbststudium. Sein Biograph Alfred Klose erwähnte einmal, daß die dazu benützte „Einleitung in die soziale Frage" des Jesuiten J. Biederlack dem schon sehr frühzeitig sozialwissenschaftlich Interessierten im Gymnasium in Brixen als zu gefährlich abgenommen worden war!

Während seines Theologiestudiums hatte er den späteren Erz-bischof von Salzburg, Sigmund Waitz, als Professor für Sozialethik. Durch ihn wurde Messner mit der „Sozialen Frage" von F. M. Schindler vertraut, dem damaligen Professor an der Wiener Theologischen Fakultät, der sich auch sehr engagiert für die praktische Anwendung seiner sozialen Ideen in der Politik eingesetzt hat. Seine Schule des sozialrealistischen Denkens hat dann später Ignaz Seipel und schließlich seit 1936 Johannes Messner an derselben Fakultät weitergeführt.

Der christlichsoziale Tiroler Abgeordnete und Prälat Aemili-an Schoepfer, Direktor der Verlagsanstalt Tyrolia, hatte den jungen, schriftstellerisch begabten Kooperator (Kaplan) zum gründlichen Studium animiert. In München studierte der Theologe bei den berühmten Nationalökonomen Adolf Weber und Otto Zwie-dineck-Südenhorst, beim Wirtschaftshistoriker Jakob Strieder, strenge wissenschaftliche Methodik beim Soziologen Max Weber und beim Philosophen Max Sche-ler: ein Studium generale, wie es heute kaum mehr zu finden ist.

Die Doktorate der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaften, zu denen dann noch während seiner langen, fruchtbaren und verantwortungsbewußten Lehr- und Forschertätigkeit mehrere Ehrendoktorate in- und ausländischer Universitäten und zahlreiche akademische und staatliche Ehrungen hinzukamen, ergänzten sein abgeschlossenes theologisches Studium.

Johannes Messner hatte sich stets auch zu einer breiten publizistischen Tätigkeit gedrängt gefühlt. Von 1925 bis 1933 wirkte er in Wien als Chefredakteur der Wochenschrift für Kultur, Politik und Volkswirtschaft „Das Neue Reich", zeitnahe, allen Problemen aufgeschlossen und vielfach bahnbrechend und entscheidend zur Uberwindung einer gewissen Sozial- und Kulturromantik einiger Richtungen in Wien. Von 1936 bis 1938 gab er die „Monatsschrift für Kultur und Politik" heraus, immer von einem sehr weitgespannten Kulturbegriff ausgehend, der ihn schließlich zu dem in seiner Gesamtkonzeption konkurrenzlosen Werk der „Kulturethik — mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik" (1954) führte.

DIE FURCHE verdankt seiner Feder bis in die letzten Jahre richtungweisende Artikel. Er hat an ihrer Entwicklung immer regen Anteil genommen.

Die Kompaßnadel für seine sich über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckende wissenschaftliche Arbeit, in welcher er stets die Hand am Puls der Zeit hatte, war schon in seiner Habilitationsschrift mit dem programmatischen Titel „Sozialökonomik und Sozialethik" (1927) unverrückbar eingestellt: Messner wollte „die Bedeutung der neueren Volkswirtschaftslehre für die Lösung der unserer Zeit auferlegten unbestreitbar großen und dringenden Aufgabe der Sozialethik" aufzeigen, um „die Ergebnisse der theoretischen Forschung kritisch zu durchleuchten, das Beste aufzunehmen und es zur Grundlage für die praktisch zu erstrebende Sozialordnung zu machen" (Degenfeld-Schonburg).

In Salzburg habilitiert, wirkte er seit 1930 zunächst als Privatdozent und dann als Professor für Ethik und Sozialwissenschaften an der Universität Wien. Er ist auf eigenen Wunsch stets nur außerordentlicher Professor geblieben, weil ihm dadurch — nach seiner eigenen Begründung — akademische Funktionen erspart geblieben sind, deren Wahrnehmung ihn zu viel kostbare, der Forschung und der Publizistik vorbehaltene Zeit gekostet hätte!

Sein umfangreiches und in der Thematik weit gespanntes Lebenswerk umfaßt viele dicke Bände, die meist in mehreren Auflagen erschienen sind, wobei eine Neuauflage für Messner infolge des umfangreich verarbeiteten neuen empirischen oder theoretischen Materials oft mehr oder weniger neue Bücher gewesen sind. Seit 1933 erreichte „Die Soziale Frage" sechs Auflagen, deren letzte im Jahre 1956 den für Messner so bezeichnenden Untertitel führte: „Im Blickfeld der Irrwege von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Weltentscheidungen von morgen".

Mit seinen Werken über Dollfuß (Oktober 1934) und „Die berufständische Ordnung" (1936) versuchte er damals der etwas überstürzten, durch die politischen Verhältnisse bedingten Einführung einer ständischen Ordnung einen sachlich begründbaren Inhalt und insbesondere auch eine marktwirtschaftliche Richtung zu geben. Er war damals aber nicht ein Apologet der neuen Ordnung und hat sich weder damals noch überhaupt jemals durch seine zahlreichen engen und persönlichen Kontakte zu vielen führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von seiner offenen und kritischen Einstellung zur bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung irritieren lassen.

Der drohenden Verhaftung durch die Nationalsozialisten hatte er sich durch einen abenteuerlichen Gebirgsmarsch in die Schweiz entzogen, um dann in dem von Kardinal J. H. Newman gegründeten Oratorium in Birmingham für viele Jahre eine neue Heimat zu finden. Der Sinn für lebensnahe Empirie und weltweit offenes Denken bot die Voraussetzungen für sein Standardwerk „Das Naturrecht — Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik", welches im Jahre 1949 zuerst in englischer Sprache unter dem Titel „Social Ethics - Natural Law in the Modern World" in St. Louis (USA) und in London und dann 1950 (dem Jahr seiner zunächst teilweisen Rückkehr nach Wien) in deutscher Sprache erschien. Es erlebte dann mehrere, zum Teil stark erweiterte Auflagen.

Professor Joseph Höffner, der heutige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, hatte die für Johannes Messner so charakteristische Position innerhalb des christlichen Sozialdenkens wie folgt gekennzeichnet: „Gegenüber der empirisch-historischen Beweisführung, die das Naturrecht als allgemeine Wirklichkeit nachzuweisen "sucht, und gegenüber der überlieferten metaphysisch-theologischen Begründung, die das Naturrecht von der lex aeterna ableitet, rückt Messner bewußt den induktiv-ontolo-gischen Beweis, aus der Natur des Menschen, nämlich aus der eines Familienwesens, in den Vordergrund."

Unter Naturrechtsordnung versteht Messner die der menschlichen Existenz zugrunde liegende Ordnung. Das soziale Zusammenleben der Menschen hat Voraussetzungen, die von den Menschen auf Grund ihrer historischen Erfahrungen schon kraft ihrer Vernunft erkannt werden können. Der Sprengsatz in der Lehre Johannes Messners vom „dynamischen Naturrecht" harrt noch seiner Zündung!

Johannes Messner zählt heute international zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches überhaupt. Seine Werke sind auch in englischer, japanischer, spanischer und italienischer Sprache über den ganzen Erdkreis verbreitet. Johannes Messner war ein Vertreter der katholischen Sozialwissenschaften, seine Methode macht es aber allen Theoretikern und Politikern möglich, seinem Weg zu folgen, die bereit sind, die Realitäten in Wirtschaft und Gesellschaft so zu nehmen, wie sie wirklich sind.

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