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Wer ist der Mensch, „um den es geht”?

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Heute gibt es kein gesellschaftspolitisches Programm, das nicht für sich in Anspruch nehmen wollte, es gehe ihm um den Menschen. Auch das Zweite Vatikanum konzediert die „fast einmütige Auffassung der Gläubigen und der Nichtgläubigen, daß alles auf Erden auf den Menschen als Mittelund Höhepunkt hinzuordnen ist”. Inwieweit das aber tatsächlich dem Menschen dient, hängt weniger von Absichtserklärungen als vielmehr davon ab, ob solchen Bestrebungen ein realistisches Menschenbild zugrunde liegt. Jedes neue System schafft neue Probleme, beruht es aber auf einem falschen Menschenbild, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß es mehr neues Unrecht schafft als altes beseitigt.

Die Frage nach der Selbstideritifi- zierung des Menschen und damit nach den Grundsätzen für ein möglichst reibungsfreies Zusammenleben gehört zu den schwierigsten. Die christliche Lehre vom Menschen hat es leichter und schwerer. Sie hat zwei Zugänge zur Entschlüsselung der Realität: Die Offenbarung samt ihrer traditionellen Interpretation durch zwei Jahrtausende und die empirischen Erkenntnisse, wie sie die modernen Sozialwissenschaften offerieren. Das erleichtert ihr den Zugang zum Wesen des Menschen, was an ihm entwicklungsfähig ist und wo die Grenzen seiner Veränderbarkeit liegen. Die daraus gewonnene Einsicht in seine komplizierte Struktur und die überaus vielfältigen Zusammenhänge der Menschen untereinander, noch dazu im historischen Wandel und unter sich ständig verändernden Bedingungen, das erschwert die Formulierung plakativer Programme für die aktuelle gesellschaftspolitische Auseinandersetzung.

Kritische Konfrontation

Dennoch erfordert die Auseinandersetzung in der pluralistischen Demokratie von heute eine ständige kritische Konfrontation mit jenen „Menschenbildern”, die den angebotenen und praktizierten politischen Programmen zugrunde liegen. Diese Mühe der „Unterscheidung der Geister” bleibt uns nicht erspart, vor allem in einer Zeit, in welcher die Zielsetzungen weniger offen divergieren als zur Kulturkampfzeit des vorigen Jahrhunderts und heute auch sozialistische Zielsetzungen (Freiheit, Gleichheit, Solidarität) - sei es aus taktischen Gründen oder aus ehrlicher Überzeugung - als Weg zur Verwirklichung des christlichen Menschenbildes angedient werden.

Zur zeitnahen Beantwortung der Frage nach dem christlichen Menschenbild und seinen gesellschaftspolitischen Folgerungen sind kürzlich zwei bedeutende Werke erschienen: von evangelischer Seite der „Entwurf einer christlichen Anthropologie” des Ordinarius für Theologie und Philosophie in Tübingen und Hamburg, Helmut Thielicke, und von katholischer Seite - wenn auch in anderer Systematik- das „Lexikon der Moraltheologie” des Wiener Ordinarius Karl Hörmann. Hier wird die christliche Anthropologie aus den einschlägigen Stichworten sichtbar.

Das Werk Thielickes läßt den immensen „Nachholbedarf” (S. 292) an politischer Relevanz des evangelischen Christentums erkennen. Die „Zwei-Reiche-Theorie” Luthers und die „Erlösung vom sittlichen Leistungsprinzip durch die Rechtfertigung allein aus dem Glauben” waren wohl maßgebliche Hindernisse in dieser Richtung, während der Katholizismus immer schon mit starken politischen Akzenten in Erscheinung trat. Thielicke korrigiert damit manche tra- ditionelleVorstellungeiner „Protestantischen Ethik” (vgl. K. Lüthi im „Lexikon”). Damit wird die große Gemeinsamkeit der Ethik aus dem christlichen Menschenbild erkennbar. Seit der Wiederherstellung der naturrechtlichen Grundhaltung gibt es wieder eine gemeinsame tragfähige Basis.

Damit erweist sich einmal mehr die kolossale anthropologische Ergiebigkeit des Schöpfungsberichtes, der - mit den Augen des über den heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis Informierten - alles das so anschaulich schildert, was die empirische Erfahrung durch die Generationen hindurch wohl auch, aber viel weniger irrtumsfrei erkennen läßt und was für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen von so entscheidender Bedeutung ist: die unausrottbare Neigung des Menschen zum Bösen; die Freiheit, sich im Einzelfall für das Gute zu entscheiden; die eigentliche Orientierung des Menschen auf ein anderes als dem Leben in dieser Welt, das nur als Durchgangsperiode sinnvoll ist; die klare Trennung des Menschen von der übrigen Schöpfung; sein Kulturauftrag und seine Identität als ein zur Verantwortung Berufener.

Bestimmung zur Verantwortung

Nur dieses Menschenbild allein entspricht der Wirklichkeit. Wer die Neigung zum Bösen ignoriert, jagt einer Utopie nach, sei sie sozialistischer, individualistischer oder romantischer Natur. Wer die Bestimmung des Menschen zur Verantwortung und Freiheit ignoriert, liefert ihn wahrhaft unmenschlichen totalitären Systemen aus. Wer die Fähigkeit des Menschen, schuldig zu werden, leugnet, macht „die Gesellschaft” und damit de facto niemanden verantwortlich. Die Möglichkeit und Fähigkeit der Willensund Entscheidungsfreiheit gehört nach christlicher Auffassung wesentlich zur Würde des Menschen, während der dialektische Materialismus lediglich die Freiheit der Erkenntnis der notwendig wirkenden Entwicklungsgesetze anerkennt (K. Hörmann im Stichwort „Würde des Menschen”). Das Recht auf Freiheit definiert Johannes Messner als „Nichtbehinde- rung in der verantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebens” (Stichwort „Naturrecht”).

Dieser christliche Sozialrealismus (J. Messner) ist die Basis, auf welcher sich Thielicke mit den wichtigsten an thropologischen Richtungen auseinandersetzt, die heute gesellschaftspoli- . tisch relevant sind: von Darwin, Freud . und Frankl, Dilthey und Nietzsche, Desdartes, Vico, Kant und Karl Marx bis zu respektvollen, aber realistischen Auseinandersetzung mit der spekulativen Interpretation der Evolution des Lebens durch Teilhard de Chardin.

So ausgerüstet, stellt sich Thielicke den brennenden Fragen der Gegenwart: der Sehnsucht nach Emanzipa-’ tion und der Identitätsnot, der Folter, der biologischen Manipulation und der ideologischen Überfremdung, der ‘ Schuld und Unschuld in zwangsläufigen Prozessen, Tabu und Scham, der Ideologisierung des Gleichheitspostulates und der „totalen Demokratisierung”, der Eigengesetzlichkeiten in Technik und Politik, den Grenzen der Fortschrittshoffnung, mit den falschen Alternativen „konservativ” und „progressiv”, der „Naivität” der Ächtung der Atomforschung sowie der so aktuellen Frage, wann menschliches Leben beginnt und wann es endet.

Überzeugend wirklichkeitsnah ist etwa die Erkenntnis, daß es in der Problematik sittlichen Verhaltens oft weniger um ein „Ich oder Du” geht, sondern vielmehr um ein „Du oder Du” (etwa die Existenz des Konkurrenten oder die Arbeitsplatzsicherung der Mitarbeiter). Auch die moralisch gesehene Polarität von Gut und Böse sieht Thielicke als das noch harmloseste Problem. Viel aggressiver bestürmt ihn der Widerstreit zwischen Gut und Gut, der Zwang also, durch das Gut-Sein im einen Fall das Gut- sein-Sollen im ändern zu unterlassen.

Neue Sicht der Ehescheidung?

Die Bereitschaft, anthropologisch begründete Normen neu zu durchdenken, zeigt sich auch in der von Thielicke gestellten Frage, ob auf Grund des entwicklungsgeschichtlich bejahten individuellen Eros heute nicht Formen der Zerrüttung entstehen können, die dazu nötigen, auch den christlich-traditionellen Satz von der „Unscheidbarkeit der Ehe” zu modifizieren und die Frage zu stellen, ob es denn wirklich Gott sei, der hier zusammengefügt habe, und ob man sich mit Recht auf ihn berufe, wenn man den Satz von der Unscheidbarkeit radikal und kompromißlos praktiziert (S. 220). Auch Karl Hörmann scheint in der Frage der Ehetrennung mit nachfolgender Wiederverheiratung des schuldlosen Teiles eine verständnisvollere Haltung einzunehmen (Stichwort „Ehescheidung”), insbesondere in der Frage, ob „gemäß dem fortgeschrittenen Verständnis von Wert und Würde der Ehe der Konsens neu zu umschreiben sei”. Wenn man dem Menschen ein Recht auf „Sex” (unter Ledigen) auch ohne personale Liebe zugestehen will, folgt man jedenfalls einem anderen als dem christlichen Menschenbild (Sp. 1623).

Wie J. Messner in seiner Naturrechtslehre, betont auch H. Thielicke — und das ist für jede christliche Anthropologie und ihre politische Relevanz fundamental! -, daß die sittlichen Entscheidungen potentiell schon in der menschlichen Triebstruktur angelegt sind, von hier aus angerufen, geweckt und virulent gemacht werden. Das Sittliche kommt nicht von außen, gleichsam zur Korrektur der menschlichen Natur. Mit Blickrichtung auf jene „Kreise von Moraltheologen”, die „seit etwas mehr als einem Jahrzehnt … eine betonte Zurückhaltung gegenüber dem sittlichen Naturgesetz und dem Naturrecht” zeigen, weist Messner im Stichwort „Naturrecht” darauf hin, daß beide Erkenntnisordnungen, Glaube und Vernunft, für die Moraltheologie unentbehrlich sind: „Die Erkenntnis dessen, was das Lie- besgebot… fordert, kann nur mit einer an der christlichen Anthropologie und an der Natur der Sache orientierten Naturrechtslehre erarbeitet werden.”

Weil die konkrete Geltungsweise des Naturrechts durch geschichtliche, wandelbare Umstände bedingt ist, kann aus dem Naturrecht allein kein konkretes Sozialmodell, keine für alle geschichtlichen Verhältnisse verbindliche Rechts-, Staats- und Wirtschaftsordnung gewonnen werden. Ebenso sicher ist, daß kein Gesellschaftssystem längere Zeit bestehen könne, ohne daß es ein Mindestmaß grundlegender Naturrechtsforderungen verwirklichte. Auf die Erarbeitung sozialer Lösungen auf Grund der Natur der gegenständlichen Problematik kann in der Tat weder im Dialog in der pluralistischen Gesellschaft (zur Gewinnung der „Partnerschaft aller Gutgesinnten”, Heinrich Schneider im Stichwort „Politik”) noch im Interesse einer sachgerechten Lösung überhaupt verzichtet werden! Darin unterscheidet sich der christliche Sozialrealismus von jeder spekulativen Utopie, wie ernsthaft engagiert und wie lauter ihre Absichten immer auch sein mögen. Vor einer „postulatorischen” Ethik aus reiner Transzendentalerfahrung oder allein aus einem Gebot von oben warnt auch R. Weiler (Stichwort „Ethik der Gegenwart”). - Die von aller Sachbezogenheit losgelöste „christliche” Soziallehre ist es auch vor allem, die ihre häufige Ineffizienz verschuldet! Ohne ausreichende Kenntnis der empirischen Sozialwissenschaften kann das sozialethisch Richtige im Hinblick auf die komplizierten Kausalzusammenhänge heute nur selten konkretisiert werden.

MENSCH SEIN - MENSCH WER- DEN, Entwurf einer christlichen Anthropologie, von Helmut Thielicke.R. Piper & Co. Verlag, München und Zürich, 526 Seiten.

LEXIKON DER CHRISTLICHEN MORAL, heraxisgegeben von Karl Hörmann, 1756 Spalten und XXXV Seiten, Leinen S 650.-, wesentlich erweiterte und ergänzte Neuausgabe 1976 unter Mitarbeit von 39 Wissenschaftlern, 264 Stichwörter. Verlag Ty- rolia, Innsbruck, Wien, München.

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