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Brauchen wir eine neue Moral?

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Zum zehnten Mal fanden im vergangenen Juni die Bregenzerwälder Kulturtage statt, dem Jubiläumsjahr entsprechend mit einem ungewöhnlich großen Zulauf von Publikum. „Sie sind zu einem Forum geworden, das Besucher aus dem ganzen Lande anzieht. Hier ist etwas gewachsen, das jedes Jahr in einem bereits vertrauten Rahmen und einer offenen Atmosphäre des Verständnisses zu gemeinsamer Erarbeitung von Ergebnissen zu den behandelten Problemen rührt. Es wird persönliches Engagement gezeigt und Tür dieses Engagement sind wir unseren Besuchern sehr zu Dank verpflichtet”, so zieht das heurige Programmheft der Kulturtage das Resume. Kulturelle Veranstaltungen (Musik, Dichterlesungen, Ausstellungen) setzen den ganzen Sommer hindurch das Programm fort.

Das Thema zum Auftakt war brisant: Brauchen wir eine neue Moral? Was man immer wieder erleben kann, wenn Fachleute zu einem Thema sprechen, ist, daß die Probleme ganz anders liegen, als sie von den ideologisch besetzten Manipulatoren in den Medien dargestellt werden. Fachleute versuchen von der Sache her zu denken, bemühen sich um Objektivität; wenn diese auch nie voll erreichbar ist, so besteht doch ein grundsätzlicher Unterschied, ob sich jemand um Wahrheitsfindung bemüht oder ob er auf Publikumswirksamkeit ausgeht (z. B. in der Wahlpropaganda).

Grundsatz der um Sachlichkeit bemühten Forscher ist: das Gebiet des sicheren Wissens nicht willkürlich mit Behauptungen zu überschreiten. Behauptungen sind das Charakteristikum aller Ideologen, der konservativen wie progressiven, der linken wie rechten, gleich ob in Wissenschaft, Philosophie oder Theologie. Von Politik gar nicht zu reden. Die einen pochen auf ihre Autorität, die andern auf ihre Arroganz, beide terrorisieren jeden Andersdenkenden.

Der Sache ist damit am wenigsten

„Behauptungen schielen auf Publikumswirksamkeit, die Behaupter rechnen mit der Kurzsichtigkeit und Vergeßlichkeit der Masse.” gedient. Der sachlich Bemühte hat Terror nicht nötig, er kann es sich leisten, auch einmal die sogenannten ewigen Wahrheiten und Werte in Frage zu stellen, ohne um ihre Aufhebung fürchten zu müssen. Die Sache läßt sich sowieso nicht beseitigen und vorschnelles Behaupten rächt sich bitter. Die Berichterstattung zu den jeweiligen Kulturtagen lieferte anschauliche Beispiele.

Moralische Normen, so sehr sie sich auch auf in der Natur begründete exi-stenzielle Ziele und Zwecke zurückführen lassen, werden von Uberzeugungen geprägt. Und hier liegt der springende Punkt: Uberzeugungen von Behauptungen zu unterscheiden. In jeder Uberzeugung liegt ein subjektives Moment, volle objektive Wahrheit (was Natur ist, wie die daraus abgeleiteten Gesetze lauten), wird sich nie erreichen lassen. Das gilt auch für den Bereich der exakten Wissenschaften, die mit Modellvorstellungen arbeiten.

Und doch ist Uberzeugung mit Behauptung nicht gleichzusetzen, weil sie sich ununterbrochen bemüht, ihre Inhalte intellektuell und redlich durch Forschung zu rechtfertigen. Während die Behauptung nur darauf aus ist, das, was sie augenblicklich braucht und zu brauchen vorgibt, durchzusetzen, um Macht ausüben oder Vorteile und Erfolge einheimsen zu können. Deswegen läßt sie sich auch so gern auf Zukunftsutopien ein, deren Wahrheit niemand überprüfen kann.

Behauptungen schielen auf Publikumswirksamkeit, auf modische Anpassung und auf die viel strapazierte Zeitgemäßheit, von der eigentlich niemand so recht weiß, was sie ist. Leider überprüft man viel zu wenig, wie oft solche Behauptungen gewechselt werden, ja sich in ihr Gegenteil verkehren, obwohl die Behaupter selbst die gleichen geblieben sind, sie rechnen mit der Kurzsichtigkeit und Vergeßlichkeit der Masse.

Auch Uberzeugungen kann man unter Umständen ändern, aber berechtigt ist eine solche Änderung nur dann, wenn wir die neue Uberzeugung für wahrer oder richtiger halten als die alte, nicht aber, wenn wir sie Tür brauchbarer halten; so handelt es sich nicht um eine prinzipiell neue Moral, sondern um eine Selbstverbesserung der alten, Führte Prof. Robert Spaemann aus München aus.

Und darin lag auch die grundsätzliche Übereinstimmung der drei Referenten. Prof. Wilhelm Revers von der Universität Salzburg zeigte - sehr ruhig und mit unterkühltem Witz, der seine Wirkung nicht verfehlte - daß damit keineswegs einem Stillstand das Wort geredet werden solle. Spontaneität und Freiheitsdrang bleiben, trotz allem Bedürfnis nach kultureller Kanalisierung des Erlebens und Verhaltens, aber sie sind eben etwas anderes als Traditionsverlust oder Geschichtsbruch. Die sogenannte Vöraussetzungslosigkeit des Jahres Null gibt es auf Grund der historischen Natur des Menschen (Gedächtnis, Erinnerung, Selbst- und Zeitbewußtsein) nicht.

Prof. Joachim Illies von der Universität Gießen und dem Max-Planck-In-stitut, der durch eine Reihe berühmter Bestseller sich einen . Namen gemacht hat und durch seinen ungemein lebendigen, mit Humor gewürzten Vortrag beeindruckte, zeigte gerade als Biologe, daß der Mensch sich von den Tieren durch den Besitz einer moralischen Di-

,, Die Evolution liefert keine Maßstäbe für Denken und Handeln. Das heißt, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier schuldig werden kann.” mension unterscheidet und keineswegs auf bloße Evolution verrechnet werden kann.

Die Evolution liefert keine Maßstäbe für Denken und Handeln. Das heißt, daß der Mensch im Gegensatz schuldig werden kann, sich selbst, dem Mitmenschen und der Natur gegenüber, und daher nicht mit technischen oder politischen Mitteln allein, sondern immer unter moralischer Anstrengung seine Krisen im geschichtlichen Wandel meistern muß.

Innerhalb dieses Rahmens kamen natürlich verschiedene aktuelle Fragen zur Sprache, etwa, daß auch innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft nicht einfach durch Statistiken, Meinungsumfragen oder Mehrheitsentscheidungen moralische Gesetze kodifiziert werden können, denn das tatsächliche Verhalten entspricht nicht immer, ja vielleicht sogar selten, den anzuerkennenden Maßstäben und sittlichen Einsichten.

Auch der soziologische Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Ange-paßtheit und Funktionalität genügt nicht zur Beurteilung sittlicher Normen, denn dann könnte man überhaupt nicht mehr an eine Gesellschaftsordnung die Frage stellen, ob sie gut oder schlecht sei, würde es also genauso gut sein, einem tyrannischen wie einem liberalen System die Treue zu halten.

Ebenfalls reicht eine psychologische Betrachtungsweise, die sich nach der seelischen Gesundheit orientiert, nicht aus, denn gerade eine sittliche Norm fordert mitunter Belastungen und Konflikte heraus, die das seelische Gleichgewicht, wenigstens zeitweise, stören können. Man denke an die Männer vom 20. Juli 1944 oder an Andreas Hofer oder Maximilian Kolbe.

Schließlich sind auch biologische Aspekte der Arterhaltung, wie sie heute die Verhaltensforscher anbieten und von den Todsünden der Zivilisation sprechen, nicht ausreichend, wenn auch wichtig. Aber gut und böse mit arterhaltend oder artschädigend gleichzusetzen ist unbefriedigend. Man kann die Erhaltung der Art mit dem Elend vieler anderer betreiben und es gibt hohe Sittlichkeit wie z. B. im Buddhismus, die keinen Wert auf Erhaltung des Lebens legt.

Moralisch hochstehende Menschen zeigen daher ununterbrochen, daß sie sich nicht nach der Mehrheit, dem Durchschnitt, dem Wohlbefinden, an Fortkommen und Fortpflanzung orien-. tieren; auch wenn der Tod vor ihnen stünde, würde sie nicht anders handeln, als es der Freiheit und Würde des Menschen enspricht. „Denn wer für das Tun des Guten noch einen anderen Grund sucht als den, daß es gut ist, und Für die Respektierung der Würde des Menschen einen anderen Grund, als daß diese Würde danach verlangt respektiert zu werden, der hat noch gar nicht verstanden, was die Worte gut und bös eigentlich bedeuten” (Spaemann).

Auch das kodifizierte Recht genügt nicht Für eine moralische Haltung, denn es beschränkt sich nur auf ein rechtlich erzwingbares Minimum. Hinter dem sittlichen Verhalten aber steht als oberstes Prinzip die Liebe. Sie kann sich wohl in verschiedenen Formen verwirklichen, aber eben doch nicht in allen, sie wird vielmehr immer zu einer Alternativmoral herausfordern, weil sie sich nicht dem Durchschnitt tatsächlichen Verhaltens oder einem bloß angepaßten Verhalten unterordnen läßt, sie wird immer Für die Freiheit plädieren, die nicht darin besteht, tun zu können, was man will, sondern wollen zu können, was man tun soll.

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