Taugen sie etwas, unsere Politiker? Bringen sie in ihr Tätigkeitsfeld ein, was die Bürger von ihnen erwarten? Werden sie den Aufgaben gerecht, die an ihre Funktion geknüpft sind?
Nach wie vor denkt man, wenn von Politikern die Rede ist, zuerst an den Abgeordneten.
An „den" Abgeordneten? Gibt es den überhaupt, im Sinn eines typischen Rollenmusters? Nein, denn in Wirklichkeit hat auch da eine Spezialisierung stattgefunden.
Es gibt den „Lokalmatador", der vor allem die Verbindung zu seiner Region und zu seinen Wählern hält. Der ihre Anliegen in Wien vertritt, auch in Form von Interventionen (keineswegs nur im Parlament), und der sich umgekehrt auch bei allen möglichen Veranstaltungen „vor Ort" sehen läßt. Es gibt den „Fachmann", der von bestimmten Dingen viel versteht, so daß man seinen Rat und seine Kenntnisse braucht (manchmal entwickelt er dann auch noch direkte Führungsqualitäten, wie seinerzeit Stephan Koren). Es gibt den „Interessenvertreter", den Kammer- oder Gewerkschaftsfunktionär (bis hinauf zum jeweiligen Präsidenten: Benya, Sallinger...), der die Anliegen seines Verbandes zur Geltung bringt und zugleich für die Partei die Rückendeckung seiner Organisation sichert. Es gibt den faszinierenden Debattenredner im Plenum (eine in Österreich eher rare Spezies; immerhin: Heinz Fischer und einige andere); es. gibt den fleißigen Ausschußarbeiter, von dem man vielleicht weder viel in den Zeitungen liest noch im Wahlkreis sieht.
In der Parlamentstätigkeit selbst kommen auch verschiedene Qualitäten zur Wirkung: die des Stehers und Durchboxers, der für eine bestimmte Position kämpft, so daß seine Freunde wissen: er hält die Stellung. Oder die des geschickten Vermittlers, der nach gemeinsamen Nennern sucht, Konsens- oder Kompromißchancen erspürt, Wogen glättet, in schwierigen Situationen Auswege findet... Auf keine dieser Fähigkeiten kann ein Parlamentsklub ganz verzichten. Wer das Tun und Lassen der Parlamentspolitiker beurteilen will, darf nicht meinen, es wäre genug, sich hin und wieder einmal auf die Zuschauertribüne des „Hohen Hauses" zu begeben oder gar nur Ausschnitte aus Plenardebatten am Bildschirm anzuschauen.
Eine solche Typologie macht die Arbeitsteilung im Alltäglich-Handwerklichen verständlich. Aber dahinter gibt es noch eine Ebene .
Was man vom Politiker erwartet, hängt davon ab, was man von der Politik erwartet. Dazu gibt es verschiedene Vorstellungen. Jede moderne Gesellschaft hat ihre Geschichte. Das heißt: die jeweilige Gegenwart ist von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" bestimmt. So sind auch hier und heute unterschiedliche Traditionen des Politikverständnisses wirksam, die Qualifikationsgesichtspunkte prägen. Macht man sich das nicht klar, dann bleibt es unbestimmt, worauf sich die Erwartungen an Politiker richten, und warum.
Die althergebrachte Formel der europäischen Tradition lautet: Politik ist die Sorge um das Gemeinwohl.
Dies ist eine ethische Politikbestimmung. Zum Politiker „taugt" nur, wer „Tugenden" hat, intellektuelle und moralische: Man muß erkennen, was das Gemeinwohl erfordert - nicht nur was einem selbst wünschenswert sein mag -und muß demgemäß handeln. Man muß erkennen, was in einer konkreten Situation die dringlichsten Aufgaben sind, und wie sie sich am ehesten lösen lassen, auch unter Einrechnung unbeabsichtigter Nebenfolgen. Deshalb verlangt das Amt des Politikers Weisheit und Klugheit. Vor allem aber muß man die Kräfte in den Dienst dieser Aufgaben stellen, der Gesamtheit zum Nutzen, nicht zugunsten selbstsüchtiger Ziele. Auch nicht zugunsten selbstsüchtiger Ziele anderer. Deshalb verlangt die Politik auch Gerechtigkeit und Mut.
Das war ein Idealbild. Ein moderner Autor hat einmal die Gemeinwohlidee „die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" genannt (Gustav Radbruch). Die Wirklichkeit erforderte gerade in der Epoche der „Fürstenspiegel" Durchsetzungsfähigkeit, oft wurden Gewalt und List eingesetzt. In Zeiten der Wirrnis betonten Praktiker und Theoretiker, wie Niccolö Machiavelli (1469-1527), der Politiker müsse die Eigenschaften des Löwen und des Fuchses entwickeln, um überhaupt bestehen zu können. Ethische Leitbilder seien gut gemeint, aber illusionär, im Ernstfall geradewegs von Übel. Auch in späteren Zeiten wurde Politik im Zeichen des Kampfes, auch des gewaltsamen, begriffen - des Kampfes ums Dasein (wie von den Sozialdarwinisten bis zum Faschismus), des Klassenkampfes (wie von Karl Marx und seinen Jüngern) oder des Befreiungskampfes der Unterdrückten in der „Dritten Welt" (wie von Frantz Fanon). Politik ist Kriegführung mit nichtmilitärischen Mitteln, wenn nötig auch mit militärischen. Der Politiker muß in dieser Perspektive so etwas wie ein Stratege in Zivil, oder auch in Uniform, sein. Wladimir Iljitsch Lenin ist eine markante Ausprägung dieses Typus.
Setzt sich der „Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias) durch, dann entwickelt sich freilich auch ein „ziviles" Verständnis der Politik. Im Selbstverständnis der „bürgerlichen Gesellschaft" ist das gemeinsame Leben im wesentlichen ein Prozeß des Geltendmachens von Interessen und ihrer Verknüpfung und Befriedigung. Die zentrale Institution ist der Markt, der Staat hat im wesentlichen für die Verkehrsregeln und ihre Einhaltung zu sorgen, und man muß ihn zu dieser Funktion eindämmen.
Aber der „bürgerliche Rechtsstaat" wandelt sich zum wohl-fahrtssichernden Sozialstaat, und damit wird Politik zum Verteilungsprozeß. Der Politiker erscheint als der Sachwalter jeweiliger Anliegen, sei es einer örtlichen, einer beruflich-wirtschaftlichen, einer weltanschaulichen Gruppe oder Gemeinschaft. Er ist darauf aus, für „seine Leute" eine Verbesserung ihrer Situation zu erzielen, am „grünen Tisch" um Vorteile und Belastungen zu verhandeln, auf einem Markt der Interessen. Man hat dies einmal überspitzt formuliert: „Die Politik ist die Fortsetzung des Privatgeschäfts mit anderen Mitteln" (Oswald Spengler), zumeist im Dienst kollektiver Gruppen. Aber wo verhandelt wird, fällt für den Agenten (den Anwalt, den Vermittler, den Handelsmann) meist auch etwas ab... Politisch qualifiziert ist, wer dabei Erfolg hat, wer für seine Leute (Mandanten, Klienten, Verbandsmitglieder, Anhänger) mehr herausholt als man erwarten konnte.
Trotzdem lebt der Mensch auch in diesem Zeitalter nicht vom Brot allein. Die bürgerliche Epoche ist (oder war?) zugleich die Zeit der Ideologien. So war (oder ist?) Politik auch das Entwerfen und Propagieren von Visionen, bis hin zur Utopie oder zum Mythos. Der Typ des Politikers, der diese Aufgabe wählt oder sich von ihr ergreifen läßt, ist Prophet und Prediger - in einer degenerierten Form ein populistischer Stimmungsmacher, der imstande ist, Sehnsüchte und Emotionen zu aktivieren und damit Men-HE-KarikaturP,rchl) schen zu mobilisieren.
Manchen mag nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts eine solche Irrationalisierung und Emo-tionalisierung unheimlich anmuten. Es gibt in der Tat auch ein Kontrastbild: das gängige Schlagwort heißt „Technokratie". Politik wird als eine Art von Problem-Management verstanden, als Unternehmensführung für die Gesamtgesellschaft, möglichst computerunterstützt, so daß „Willensbildung" weitgehend durch „Wissensbildung" im Wege von Optimierungskalkulationen ersetzt wird. Vom Politiker werden dann eben jeneQualitäten erwartet, die die „Führungskräfte" eines Großunterneh mens auszeichnen sollen: von denen der „Menschenführung" über die Beherrschung von Informationssystemen und Datenverarbeitungstechniken bis zur ständigen Selbst- und Fremdkontrolle der Effizienz. Kurz: der Politiker sollte am besten das Diplom des „Masters of Business Administration" erworben haben.
Übrigens ist es für den, der das so sieht, nur logisch, für Politikerdann auch Karierremuster vorzusehen, wie man sie von einer Konzernhierarchie und einer Managerbörse her kennt. Mit Aufstiegschancen, Leistungsprämien und dergleichen, so wie sich dies etwa das „Wirtschaftsforum der Führungskräfte" ausgedacht hat ( FURCHE 50/89).
Doch auch dies ist noch nicht die letzte Seite im Modellkatalog des Politikers. Längst hat man durchschaut, daß auch „Technokratie" eine kurzschlüssige Ideologie ist. Neuere Beiträge zur Theorie der Politik haben die Einsicht gebracht (oder erneuert): Politik hat es nicht nur mit funktionalen Aufgaben und Leistungsprofilen zu tun, mit Opti-mierungs- und Verteilungsproblemen, sondern zuallererst muß ein gemeinsames Grundverständnis der Wirklichkeit und des Aufgabenfeldes der Politik gewonnen werden. Sonst verkommt Politik zum kalten (wenn nicht sogar zum heißen) Bürgerkrieg. Im Fachjargon gesprochen: Jedes politische System bedarf einer politischen Kultur, und deren Kern ist eine „gemeinsame Sinnwelt". Das ist umso wichtiger, je unterschiedlicher die Weltanschauungen, Lebensdeutungen und Moralen sind, die in einer Gesellschaft existieren. Politik ist dann stets auch der Prozeß der Selbstverständigung einer Gesellschaft gegenüber, was sie mit sich, mit ihrer Gegenwart und mit ihrer Zukunft anfangen will.
Auch diese Aufgabe läßt sich in Erwartungen an den Politiker übersetzen: er ist dann nicht zuletzt auch der Repräsentant des „Gemeinsinns" einer Gesellschaft; die Personifizierung dessen, wofür sie sich engagiert, wofür sie einsteht, worin sie sich einig weiß. Es ist kein Zufall, daß in alten wie in neuen Zeiten (zumal in dem des Fernsehens) Politiker auch „Darstellungs"-Aufgaben hatten und haben. Von Piaton bis zu Neil Postman hat man freilich auch immer wieder vermerkt, daß da Schein und Sein auseinanderklaffen (können).
Wenn Politik in diesem Sinn sich als sinnbestimmt auszuweisen hat, mag da von „Grundwerten" die Rede sein, von „Österreichbewußtsein", von „demokratischem Humanismus" oder was auch immer, dann hat das auch Konsequenzen für die Rollenerwartungen in der Politik: der Politiker darf dann nicht nur Funktionärs- und „ Macher"-Qualitäten haben. Er muß in einem weitergehenden Sinn vertrauenswürdig sein, „integer", und zwar eben nicht nur als Rollen träger, sondern als Person. Deshalb ist die Öffentlichkeit gerade in Ländern mit ausgeprägter „Common Sen-se"-Tradition so besonders empfindlich gegenüber menschlichen Unzulänglichkeiten politischer Amtsträger. Nicht erst dann, wenn strafrechtlich bedeutsame Vorwürfe oder Tatbestände ins Blickfeld kommen... Das Fazit aus all diesen Überlegungen ist klar: die Ansprüche, denen Politiker ausgesetzt sind, sind hoch. Wer sich der „Politik als Beruf" verschreibt, sollte sich fragen, ob er ihnen gerecht werden kann.
Der Einwand liegt nahe: Wenn von so hohen Anforderungen an Politiker die Rede ist, beruht das auf der Voraussetzung, daß Politik außergewöhnliche Qualitäten verlangt. Aber leben wir nicht in einer Demokratie? Sind da derart elitäre Vorstellungen am Platze?
In der Tat, es gibt die These: wer da meint, nur besonders qualifizierte Menschen sollten Politiker werden, der verfällt nur einer speziellen Version des Vorurteils, daß alles Bedeutsame ausschließlich das Werk großer Persönlichkeiten wäre, das Werk von Helden, Genies, Heiligen... In der Demokratie gelte es mit diesem Vorurteil aufzuräumen, denn es beruhe auf „Belief in the Common Man", wie die Amerikaner sagen, auf dem Zutrauen in die Fähigkeit des Alltagsmenschen.
Doch das Argument gilt dann auch umgekehrt: Demokratie ist eben jene politische Ordnung, die von jedem Bürger Qualitäten des Wissens und des Gewissens verlangt, wenn man nicht darauf verzichten will, daß die Entscheidungen, die das gemeinsame Schicksal bestimmen, „nach bestem Wissen und Gewissen" gefällt werden. Ein alter Spruch ließe sich abwandeln: Sage mir, welche Politiker du hast, und ich sage dir, was für ein Volk du bist...
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien.