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Wie man Politik versteht und benätzt

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In Zeiten der Unsicherheit und der getürkten Meinungsumfragen, also der zweiten Moderne, wo kein Mensch sich mehr auskennt mit Politik und Politikern und sich selber, bringt „Der Zorn des Kanzlers” von Rudolf Großkopff erleichternde Aufklärung. Großkopff weiß, wovon er spricht. Seit über 30 Jahren ist er politischer Journalist, „sachkundiger Beobachter und intimer Kenner des politischen Betriebs” in Bonn. Ob einen zornigen Versprecher von Kanzler Kohl oder die Einsamkeit des abgetretenen Politikers, er macht den internen, gewissermaßen mentalen Ablauf der kleinen und großen Politik verständlich. Vor allem aber hilft er verstehen, wie der Bürger heute Politik zu seinem Vorteil benützen, der Politiker Politik zu seinem Vorteil machen könnte.

Bei der Lektüre stößt der Leser in der Tat auch ständig auf Probleme, mit denen er sich in den letzten Jahren mehr und mehr herumrauft. War nicht einst alles viel klarer? Je nach dem, wo man selber stand, war die Welt in zwei leicht erkennbare Lager eingeteilt, in Fortschrittliche und Reaktionäre für die einen, in ordnungsliebende Konservative und mehr oder weniger getarnte Bolschewiken für die anderen. Großkopff ist angetreten, hier ein wenig Klarheit zu schaffen, und zwar Klarheit in dem Sinn, daß er nicht neue Lager, sondern die konkreten Beziehungen mit und zwischen Politikern herausarbeitet.

Interessant finde ich, daß er fast nur Psychologen, Soziologen und Psychoanalytiker zur Untermauerung seiner Thesen zitiert. Im Deutschland von heute scheut man sich offenbar, die gegebene politische Situation auch nur im geringsten in Frage zu stellen. In Frankreich erscheinen dagegen wenigstens zwei Werke monatlich mit Analysen, die versuchen, das notwendig gewordene Bild der Demokratie von morgen zu zeichnen.

Unser Autor hingegen versteckt sich ein wenig hinter seinen Psychos und Soziologen. Er geht etwas weiter in seinem Versuch, die „in der Politik auftretenden Prozesse und Mechanismen” erkenntlich zu machen. Zu letzterem Zweck analysiert er vorerst den Bürger und vor allem dessen mentale und emotionale Bedürfnisse. Da wären das Bedürfnis nach Verwurzelung, nach Wirkmächtigkeit, insofern als er das Gefühl braucht, etwas ausrichten zu können, nach einem Rahmen der Orientierung und Lebenssinn, schließlich nach dem Identitätserlebnis.

Diesen Bedürfnissen und den Verheerungen, welche der Mangel ihrer Befriedigung im politischen Leben anrichtet, sind die folgenden Kapitel gewidmet. In „Orientierungswaisen” etwa macht er die Schwierigkeiten klar, die für den Bürger durch den schnellen und tiefgehenden Wandel, praktisch das Verschwinden von altgewohnten sozialen Orientierungshilfen, entstehen - „Nährboden für Sekten, Nationalismen ... Fanatismen, deren Anhänger das 1 leil in einfachen Lösungen suchen. Fanatiker aber brauchen Feinde und Feinde setzen Feindbilder voraus.”

Heute findet der durchschnittliche Deutsche, der gerade erst auf seine alten Feindbilder innerhalb und außerhalb der Union verzichten mußte, im Gastarbeiter oder Asylanten oder einfach EU-Ausländer bequem verfügbaren Ersatz. „Politiker kennen oder erahnen diese Mechanismen, und bei genügender Skru-pellosigkeit ziehen sie ihren Nutzen daraus. Das kann geschehen durch direkte Hetze, wie sie Rechtsextremisten betreiben, oder durch geschickte unterschwellige Lenkung von Gefühlen, wie sie etwa in der Asyldiskussion zu beobachten gewesen ist.”

Weil aber die Ängste aus tiefen Schichten kommen, „sind ... pure Ermahnungen ... verschwendete Mühe.” Wer nicht verstehe, daß das Zusammenleben mit Fremden von Konflikten begleitet ist und „sozialromantisch über solche Probleme hinwegredet, beschwört möglicherweise um so härtere Reaktionen herauf. ... manchmal verbirgt sich hinter scheinbar purer Menschenfreundlichkeit sogar das Gegenteil ... wenn Menschen ... gegenüber sich selbst nicht zugeben können, daß auch sie ... Scheu oder Angst empfinden.” Was wahrhaftig nicht oft genug gesagt werden kann.

Aber nicht nur die Bürger, auch die Politiker sehen sich von der zweiten Moderne arg gebeutelt. Ihr Leben ist zum gesellschaftlichen Dauerjoggen geworden. „Was der über seine Aktiengewinne gestürzte IG-MetalUVorsitzende Franz Steinkühler sagt, gilt für viele in diesen Kreisen: ,Von einem bestimmten Punkt an kann man das Tempo nicht mehr drosseln.'” Dahinter stünden „zwei wichtige Faktoren, deren Bedeutung oft unterschätzt wird: das Konkurrenzprinzip und der •Öffentlichkeitszwang.” Der Todfeind sitzt in der ersten Reihe.

Doch so sehr Politiker auch leiden mögen, die eigentlichen Gratifikationen blieben ja doch immateriell, nämlich in Form des narzißtischen Lustgewinns, „der für alle Menschen mit dem Drang zur Selbstdarstellung in der permanenten Möglichkeit und Notwendigkeit liegt, öffentlich aufzutreten.” Darüber hinaus noch gehe die Überzeugung, für das Gemeinwohl zu arbeiten. Zur Droge, schließlich, werde für den Politiker bald die Macht.

Um sie zu erringen, bedarf es vor allem auch des Charismas, denkt unsereins. Aber nein, es kommt auf die Umstände an, zeigt Großkopff an vielen Beispielen. Erfolgreiche Politiker wie Genscher etwa hätten keine Spur davon gehabt. Der Bedarf an Charisma hänge von der Kategorie Politiker ab, der man angehöre.

Im „Lehrstück Asylrecht” schließlich zitiert Großkopff die drei Grundtypen von Politikern nach Kirsch und Mackscheidt. In allen Lagern teilten sie sich nach ihm in Demagogen, Amtsinhaber und Staatsmänner: „Der Demagoge ist nach diesem Schema jener Politiker, der selbst innerlich unfrei ist - das Opfer seiner Verklemmungen und

Stereotypen. ... er versucht also die Bürger auf sein eigenes Maß an seelischer Unfreiheit herunterzuholen.”

Der Amtsinhaber hingegen „bewegt sich auf derselben Gefühlsebene wie seine Anhänger und Wähler. ... Er führt die Geschäfte innerhalb der Grenzen ... seiner eigenen Person und seiner Mitbürger.”

Der Staatsmann aber ist „so souverän, daß er Menschen aus ihren Verklemmungen und Zwängen führen kann.” Churchill, Adenauer und Brandt gehörten dazu. Großkopff weist auf den gegenwärtigen Grad der allgemeinen Verunsicherung und die Rolle dieser Politikertypen am Beispiel der Diskussionen um die Asylpolitik hin: „Da verwandelten sich also reihenweise Amtsinhaber in Demagogen,” zum Staatsmann schwang sich dagegen niemand auf.

Das schmale Buch trägt viel zu unserem Verständnis der alltäglichen Politik, so wie sie ist, bei. Wo der Autor über psycho-fundierte Beschreibung hinausgeht, wird die Sache heikel, finde ich. Da definiert er etwa genau das Schema, nach dem Skandale ablaufen, und das liest sich dann fast wie eine Gebrauchsanweisung für Politiker ohne Tugend, die Skandale überstehen wollen.

Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Abwertung der Entrüstung des Bürgers über Skandale, die, wie Großkopff meint, „sowieso immer -geringer” geworden seien „im Vergleich zu den saftigen Skandalen rund um Franz Josef Strauß.”

Schließlich findet er, es gebe „einen parallelen Trend zur Übermoralisie-rung der Politik”. Also jeder Fehltritt nur noch Kavaliersdelikt? Das klingt merkwürdig, wenn man daran denkt, daß es sich bei Skandalen ja meist nicht um Lustbarkeiten, sondern um das Brechen von Gesetzen zum persönlichen materiellen Vorteil handelt. Und zumindest das deutsche Bundeskriminalamt ist der Meinung, daß nicht Kavaliersdelikte, sondern Korruption und organisiertes Verbrechen immer tiefer in die staatliche Verwaltung und Politik eindringen und die neuen Gesetze gegen das Geldwaschen in der Praxis den ernsten Durchgriff gegen diese Achil-lersferse des Verbrechens verhindern.

Vielleicht hat Großkopff in seiner langjährigen beruflichen Symbiose mit Politikern deren Irritation ob der ethischen Forderungen des Bürgers unterschwellig schon voll integriert. Politiker in Schwierigkeiten jedenfalls wären gut beraten, einen Großkopff als Konsulenten zu engagieren. Er weiß, wo's in der Politik langgeht.

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