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Die Telekratie der siebziger Jahre

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Alle Macht geht vom Volk aus. So steht es in der Osterreichischen Bundesverfassung, so interpretieren es die politischen Parteien, deren verfassungsrechtliche Nichtexistenz noch immer notorisch ist, und so kritisieren es Unzufriedene, junge Aufsässige, Demokratiereformer. Aber diese Macht durch das Volk ist zu einem differenzierten Spiel der Mandate und politischen Gewichte geworden. Der Staat Österreich tritt in das achte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein. Und wie eh und je hängt Wohl und Weh aller Menschen dieses Staates von der Fähigkeit seiner Politiker ab, unsere Probleme zu lösen. Wer wird uns 1980 regieren? Wie werden wir regiert werden? Wem gehören die siebziger Jahre?

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Alle Macht geht vom Volk aus. So steht es in der Osterreichischen Bundesverfassung, so interpretieren es die politischen Parteien, deren verfassungsrechtliche Nichtexistenz noch immer notorisch ist, und so kritisieren es Unzufriedene, junge Aufsässige, Demokratiereformer. Aber diese Macht durch das Volk ist zu einem differenzierten Spiel der Mandate und politischen Gewichte geworden. Der Staat Österreich tritt in das achte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein. Und wie eh und je hängt Wohl und Weh aller Menschen dieses Staates von der Fähigkeit seiner Politiker ab, unsere Probleme zu lösen. Wer wird uns 1980 regieren? Wie werden wir regiert werden? Wem gehören die siebziger Jahre?

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Die Entwicklung seit 1918 läßt deutlich erkennen, daß sich die politische Realität immer mehr vom Sinn und Geist der Verfassung weg entwickelt hat. Immer wieder versuchten sich Staatsrechtler und Parlamentarier um eine Deckung der Verfassungsrealität mit dem Buchstaben der Verfassung.

Nach 1945 war da zuerst die Koalition. Der Koalitionsausschuß wurde zum eigentlichen Träger der Willensbildung. Das Parlament verlor seine Funktion als oberstes legislatives Organ; der Klubzwang ließ den Nationalrat zur Ahstimmungs-maschine werden. Wie überhaupt die Gewichtigkeit in den Parteisekretariaten ruhte und nicht etwa bei den frei gewählten Abgeordneten. Auch die Regierung trat einen Teil ihrer hoheitlichen Rechte an den Koalitionsausschuß ab; dieses höchste Gremium weniger Männer entschied auch über Verwaltiun,gsmaßnahmen und Personalfragen. Neben den Koalitionsausschuß traten zunehmend auch Organe der Sozialpartnerschaft. Und diese Organe zeigten die Tendenz, immer mehr wirtschaftspolitische Fragen nicht nur zu beraten, sondern praktisch zu entscheiden, indem sie Parlament und Regierung vor abgesprochene Maßnahmen stellten. Die Sozialpartnerschaft freilich erwies sich in jenem Augenblick doppelt nützlich, in dem eine Alleinregierung der ÖVP ihr schwerstes Handikap darin erblicken mußte, von der Arbeitnehmerschaft des Landes im Stich gelassen zu werden.

Parlament als Clearingstelle

Neben die Parteiendemokratie trat zunehmend die Parademokratie der Interessenverbände; und siehe da: das System funktionierte, die Wirtschaft wurde fast außer Streit gestellt, wann immer die Vertreter von Bundeskammer und Industrie dem Gewerkschaftsbund oder den Arbeiterkammern gegenübersaßen. Das Parlament wurde seit 1966 hingegen zu einer etwas freieren Bühne der Auseinandersetzung. Zwar gibt es kein einziges wirksames Beispiel durchbrochenen Klubzwangs in den vier Jahren der ÖVP-Alleioregie-rung — doch eine Fülle von Gesetzesänderungen in Parlamentsausschüssen, von fraktionellen Gesetzesinitiativen und individuellem Erfolg einzelner Abgeordneter, wenn es um die Umstimmung des eigenen Klubs ging.

Dazu kommt, daß zwei Volksbegehren das Direkte der Demokratie verstärkt haben; und beide Volksbegehren fanden im Nationalrat eine Mehrheit; Im Falle des Rundfunks eine Mehrheit aus ÖVP und FPÖ, im Falle des Schul-Volksbegehrens sogar die Zustimmung der SPÖ. Die Parlamentarier der sechziger Jahre waren zum Großteil nicht mehr Patriarchen aus Gauen und Bezirken; zwar war die Hausmacht nach wie vor eine wichtige Voraussetzung, ins Parlament zu kommen; doch da und dort zeigen sich Uber-raschuogseffekte; etwa wenn nunmehr ein 40jähriger Vorarlberger von seinen Parteidelegierten gegen jede bündische Usance entgegen den Vorstellungen des Parteiestablishments doch an einer sicheren Stelle gereiht wird; oder wenn ein Landes-parteiobmann der Volkspartei gegen den offiziellen Kandidaten der Parteiführung vom Fußvolk auf den Schild gehaben wird. Da gibt es auch zahlreiche Bei-

spiele unmittelbarer Berufung in die Regierung, ohne daß der Betreffende je Abgeordneter gewesen wäre: Experten und Fachmänner wie die Minister Klecatsky, Koren und Waldheim etwa; oder junge Technokraten in einer heiklen Situation wie der Unterrichtsminister. Alles in allem: die Beweglichkeit nimmt zu. Wer in den Parteien Karriere machen will, muß nicht allein mit irgend jemand an der Spitze gut Freund sein — er muß auch neben Zähigkeit eine einigermaßen gute politische Figur machen.

Doch was auffällt, ist die immer stärkere Interessenverbindung der politischen Führungsstäbe. Da wird die jüngere Garde der Arbeiterkammer etwa zum wirtschaftspolitischen Schwert der SPÖ und immer mehr Vertreter des Wirtschaftsbundes der ÖVP sind Bundeskammerbeamte — also Arbeitnehmer. Die siebziger Jahre — darüber gibt es praktisch keinen Zweifel — werden diesen Zug zur Bindung an Interessenlagen noch verstärken. Das Parlament mag am Ende nur noch eine letzte Clearingstelle von Interessenten sein; und ein Ort, wo

die Wähler die Innenpolitik konzentriert finden.

Die Zeit der Ideologen ist endgültig vorbei. Die „Klassenkämpfer“ der Linken sterben ebenso aus wie die „Christlichsozialen“ der Rechten. Was zur Ordnung ruft, wird das mahnende Wort des Kardinals sein — und die Glocke des Parlamentspräsidenten.

Politik als Konsum

Anderseits wird sich die Konfrontation mit den Außenseitergruppen in den nächsten Jahren nicht vermeiden lassen. Das Establishment zeigt links und rechts kaum Änderungsbereitschaft in substantiellen Fragen. Die Demokratiereform wird nur dort akzeptiert, wo sie retuschiert, nicht dort, wo sie ans Mark geht. Und der Wähler?

Die Leitlinden der siebziger Jahre sind ziemlich deutlich sichtbar. Der Wähler wird immer mehr zum Politikkonsumenten. Sein Verhalten orientiert sich an der Marktlage. Und wie man nach Preisgünstigkeit kauft und heute diesen Markenartikel jenem vorzieht, wird auch die Bereit-

schaft zum politischen Wechsel mit zunehmender Entideologisierung stärker. Die Bereitschaft zum politischen Stellungswechsel wird desto häufiger vollzogen, je aufgeklärter und geistig beweglicher der Wähler ist. So läßt sich schon jetzt ein Ost-West-Gefälle in der Bereitschaft zur Absage an traditionelle Strukturen erkennen. Der Vorarlberger Industiearbeiter ist zum ÖVP-Wähler geworden; der zum Häusler und Pendler gewordene Kleinbauer tendiert deutlich zur SPÖ. Die Politik als Konsum wird aber nur dann möglich, wenn die Wer-

bung ein Image sichtbar macht. Die Massenmedien werden zu freiwilligen Imagebildnern der Parteien. Sie ermöglichen erst das Konsumverhalten, das sich in den Filzpatschen vor den Fernsehgeräten manifestiert: Die siebziger Jahre Österreichs werden zum Jahrzehnt der „Telekratie“ werden.

Schon jetzt zeigen sich im westlichen Ausland, wo die Fernsehdichte erheblich über der österreichischen liegt, zahllose Beispielsfälle. Seit der großen TV-Debatte zwischen den US-Präsidentschaftskandidaten Kennedy und Nixon im Jahre i960 weiß man, daß die Wahlen über den TV-Schirm gewonnen oder verloren werden.

Die Politik wird wie der Wildwestfilm genossen. Wer ein guter Sheriff ist, hat Chancen auf Anerkennung; wer den Gangster spielt, verliert jede Sympathie. McLuhan, Analytiker der „vierten • Gewalt“, konstatiert, daß TV-Debatten bestenfalls zu politischen Schönheitsbewerben, schlechtenfalis zu Boxkämpfen werden, bei denen erlaubt ist, was gefällt. Der Schiedsrichter sitzt zu

Hause, bei einem Glas Wein und Soletti.

In Österreich haben heute weder TV-Konsumenten noch Politiker die richtige Einstellung zu dieser „Ring“-Situation gefunden. Vor allem aber mangelt es in den Massenmedien selbst an genügend Selbstkritik und Möglichkeit, aus einer eingleisigen Entwicklung herauszukommen. Politik wird zur Show, zur Sensation, ja zum Nervenkitzel werden. Heute pendeln die Parteien freilich noch zwischen Informationsbereitschaft, die die Tore der traditionellen Geheimhaltung sprengt und

einer geradezu hektischen Angst, von den Interviewern ,,hineingedegt“ zu werden. Was wir täglich sehen, ist verkrampftes Zuwichtignehmen oder jeder Mangel an Selbstironie und Distanz von sich selbst. Die Gestalter, Kommentatoren und Interviewer hingegen sind sich nur zu oft ihrer Rolle nicht sicher; sie überschätzen das Vorauswissen des Konsumpublikums. Sie vermitteln nicht Information, sondern Meinung; vor allem aber glauben sie, durch Härte, Unfreundlichkeit und Frechheit gegenüber dem Befragten ihren Job optimal au erfüllen. Die siebziger Jahre werden da klarere Konturen schaffen müssen. Wir müssen die neue „Gewalt“ integrieren und kontrollieren. Information darf nicht für sich in Anspruch nehmen, immer und überall wertfrei zu sein.

Machtfrage ORF

Trotzdem wird das achte Jahrzehnt Gefahr laufen, ein Jahrzehnt der Manipulation zu werden. Der Fluß der Meinungsbildung ■ wird an Stellen verengt, die unberechtigt, ja gefährlich sind. Viele Massenmedien sind nicht nur bei uns zu einem Tummelfeld von Ignoranten und Spekulanten geworden; unter dem Synonym „unabhängig“ verbirgt sich leider zu oft gezielte Meinungsmache. Und mit wenigen Ausnahmen glaubt jeder Meinungsbildner mit Mikrophon, Kamera oder Schreibmaschine, gescheiter zu sein als sein Gegenüber; ohne sich tatsächlich Kenntnis und Wissen verantwortungsbewußt zu erwerben. Österreich ist dabei, einen soziologischen Nachholprozeß zu durchlaufen. Ideologisch und weltanschaulich ungebundene Bürger werden in den siebziger Jahren als Konsumenten der Politik ohne viel Pathos und Leidenschaft Interessen abklären; sie werden sich über die Massenmedien zum Teil manipulieren lassen, zum anderen aber auch in Gefahr kommen, der Sensation rechter und linker Außenseiter zu erliegen. Täglich sehen Millionen von Wählern dasselbe. Die politische Information nivelliert in gleichem Maße, wie sie anderseits zu vermehrtem politischen Wissen führt. Ein besseres Image und mehr Verständnis für die Massenmedien wird also eines der wesentlichen Kriterien sein, die die erfolgreiche Partei der Zukunft braucht.

Das heißt auf österreichisch, daß die Machtfrage im ORF zur Entscheidungsfrage in der Innenpolitik der siebziger Jahre wird. Die Partei, die den Rundfunk und das allmächtig werdende Fernsehen besser beeinflußt, wird auch die achtziger Jahre erleben. Das Rundfunkgesetz aus dem Jahre 1966 war also nur der Anfang des eigentlichen Kampfes um das Monopol.

Noch trennen uns 14 Jahre vom Jahr der Orwellschen Utopia, in der der „große Bruder“ Meinung, Denken, ja Fühlen bestimmt. Diktaturen haben mit dem Fernsehen ihre große Chance schon entdeckt. Demokratien wandeln auf dem schmalen Pfad zwischen Manipulation und Objektivität.

Die Macht im Staat geht zwar vom Wahlbürger aus. Doch wem er die Macht delegiert, weiß er oft selbst nicht mehr genau. Die Demokratie wird in den siebziger Jahren in Lebensgefahr kommen. Die Gefahr zu vermindern, wird eine Bewäh-rungschanoe der noch mündigen Intelligenz dieses Landes werden.

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