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Reformrundfunk 1967—1974

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Gerd Bacher, der Mann, dem man auf dem Höhepunkt seines Wirkens das Lebenswerk aus den Händen gerissen hat, um es zweckzuentfremden und in ein Instrument der Parteipoiitik umzufunktionieren, hielt am 30. September, dem Vorabend der Hörfunk-50-Jahr-Feier, seine letzte Rede als Generalintendant des ORF. Diese Rede wurde zwar über Radio und Fernsehen übertragen, die FURCHE will aber, im Interesse historischer Dokumentation, wenigstens die wesentlichen Passagen daraus ihren Lesern in die Hände legen.

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Gerd Bacher, der Mann, dem man auf dem Höhepunkt seines Wirkens das Lebenswerk aus den Händen gerissen hat, um es zweckzuentfremden und in ein Instrument der Parteipoiitik umzufunktionieren, hielt am 30. September, dem Vorabend der Hörfunk-50-Jahr-Feier, seine letzte Rede als Generalintendant des ORF. Diese Rede wurde zwar über Radio und Fernsehen übertragen, die FURCHE will aber, im Interesse historischer Dokumentation, wenigstens die wesentlichen Passagen daraus ihren Lesern in die Hände legen.

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Was an diesem 1. Oktober des Jahres 1924 begann, bis zum heutigen Tage dauert und hoffentlich noch viele Jahre dauern wird, dieser österreichische Rundfunk, das war im übertragenen Sinne des Dichterwortes jene kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Man darf es ohne Anmaßung sagen, daß Rundfunk die verdichtete Kulturgeschichte eines Landes ist. Ein elektronisches Pandämonium, ein Schauplatz, auf dem die Handlungen und die Figuren nie abreißen, Bühne, Requisit und Akteur, Treibender und Getriebener des Zeitgeistes, Macher und Gemachter. Nichts passierte in diesen 50 Jahren, ohne daß es nicht auch im Rundfunk passiert wäre: Die erste Übertragung von den Salzburger Festspielen wie der Juli-Putsch 1934, Schuschniggs „Gott schütze Österreich” wie Hitlers Vollzugsmeldung vor der Geschichte, die Russische Stunde wie Figls Freudenschrei „Österreich ist frei!”

Bei aller sonstigen Unterschiedlichkeit zieht sich durch diese fünf Rundfunkjahrzehnte ein roter Faden: die politische Ausgesetztheit des Unternehmens. Nie war der RAVAG und ihren Nachfolgegesellschaften jener unabhängige Lebensraum gewährt, wie ihn etwa die BBC ein halbes Jahrhundert lang genoß. Die wirklichen Hausherren im österreichischen Rundfunk waren seit 1924 Regierungen, Parteien, Besatzungsmächte. Einen unabhängigen Rundfunk, wie er im demokratischen Ausland seit Jahrzehnten bestand, erzwang in Österreich erst das Volksbegehren: Rundfunkautonomie gab es in fünfzig österreichischen Rundfunkjahren nur von 1967 bis 1974.

Die Reform der „österreichischen Rundfunk Ges. m. b. H.” zum ORF ereignete sich auf dem Fundament des Rundfunkgesetzes 1966, welches nach übereinstimmendem Urteil der Fachwelt eine Unabhängigkeit verlieh, wie sie kaum eine zweite europäische Rundfunkanstalt besaß. Die Rundfunkfreiheit beruht auf den drei großen Autonomien: auf der Programmautonomie, der Personalautonomie, der Finanzautonomie. Der ORF hatte sie alle drei. Autonomie heißt, daß im Rundfunk und nicht anderswo über Programm, Personal und Finanzen bestimmt wird.

Es mag Institute, Unternehmungen geben, die nur zum Teil reformbedürftig sind; diese Vergünstigung räumte der österreichische Rundfunk nicht ein; ihn hatten Zeitgeschichte, Besatzungsmächte und schließlich die Große Koalition derart verheert, daß die Formel „Alles oder nichts” nicht Extremismus, sondern pure Notwendigkeit war. Programm, Organisation, Betrieb, Gerät, Finanzen waren gleichermaßen notleidend; der Wiederaufbau hatte mit Ausnahme von Senderbauten zwei Jahrzehnte nach Kriegsende noch nicht einmal begonnen.

Es ist problematisch, sich selbst einen Programmerfolg zu attestieren, auch wenn er sich in der Demoskopie, im explosionsartigen Anwachsen der Hörer- und Seherzahlen und in der Fachkritik nachweisen läßt. Beschränken wir uns also auf Fakten, die nur die Initiative nachweisen, nicht aber selbstgefällig sein wollen:

Da beweist einmal die internationale Statistik, daß wir mit weniger Geld und Personal mehr Radio- und Fernsehprogramm machen als die meisten europäischen Rundfunkanstalten. Wohlgemerkt: als die meisten und nicht etwa bloß mehr als die Rundfunkanstalten von Ländern vergleichbarer Größenordnung.

Wir führten als erste in Europa

Strukturprogramme im Radio ein; diesem Beispiel sind viele Rundfunkanstalten gefolgt. Mit ö 3 wollten wir die Antithese zu Radio Luxemburg aufstellen: Ein Unterhaltungssender und trotzdem kein Schnulzodrom.

Das Fernsehen führten wir aus dem Pionierzeitalter in zwei Farb-

Vollprogramme. Das in einer Zeit,1 da man zum Beispiel in der Schweiz immer noch über die Einführung eines zweiten Programms nachdenkt oder im großen Italien immer noch nur schwarz-weiß sieht.

Das zeitgenössische Österreich haben wir in unsere Programme nicht nur „repatriiert”, sondern mit unseren Coproduktionen österreichischer Kultur in das gesamte deutschsprachige Fernsehen exportiert.

Wir entschieden uns im Zweifelsfalle immer für das „anspruchsvolle Programm”; statt Tausende Literatur- und Wirtschaftssendungen aufzuzählen, verweise ich nur auf die Tatsache, daß wir als einzige europäische Fernsehgesellschaft in der täglichen Hauptabend-Informationssendung (Zeit im Bild) eine ständige Kulturrubrik führen.

Wo immer es unsere Möglichkeiten und Mittel erlaubten, haben wir den Anschluß an die Welt gesucht im Sinne jener Konfrontation, die das kleine Binnenland so dringend braucht. Der internationale Programmaustausch wurde erschöpfend genutzt; auch hier mit einem österreichischen Aktivsoldo.

Unsere Rolle als Auftraggeber und nicht nur als Referent nahmen wir sehr ernst: Stellvertretend für viele diesbezügliche Bemühungen steht das ORF-Symphonieorchester, mit einer bedeutenden Position im zeitgenössischen Musikschaffen.

Die Bundesländerstudios arbeiten mehr als je zuvor in Radio und Fernsehen mit: In den ORF-Programmen herrscht mehr Föderalismus als in jedem anderen europäischen Sender, die Schweiz eingeschlossen.

Die Ost-West-Drehscheibe funktioniert auf mehreren Ebenen. Einmal ist das ORF-Zentrum Wien der Nachrichtenumschlagplatz zwischen Eurovision und Intervision, zum anderen sind wir in Ost- und Südosteuropa eine der meistgesehenen und -gehörten Auslandsstationen.

Die Information ist unser größter Programmerfolg. Eine Rundfunkanstalt, die bis 1967 nur Rudimente an Berichterstattung vorwies, in der es keine der klassischen Fachredaktionen (Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaft, Kultur) gab, entwickelte in wenigen Monaten eine umfassende Radio- und Fernsehinformation, über die Joseph Wechsberg im „New Yorker” schrieb: „Der reformierte ORF baute seine Information aus und ist jetzt in ganz Europa für die Tiefe, Qualität und Fairneß seiner Berichterstattung bekannt.”

Ein so beurteilter Standard war nicht zuletzt der improvisatorischen Effizienz des Teams um Dalma zu danken, das in iphaltlicher, formeller und personeller Hinsicht nur ein Kriterium gelten ließ: das der journalistischen Qualität. In völliger Offenheit und rückhaltslosem Vertrauen zueinander formten Journalisten, die aus allen politischen Lagern kamen, und von denen viele einander erst beim Eintritt in den ORF kennengelernt hatten, jenes Instrument, das zur sogenannten „Informationsexplosion” führte. Gescheite Leute können mit den geringen Mitteln einer kleinen Anstalt gute Information machen.

Die ORF-Redakteure waren stets eine Gemeinschaft von Freien, gelenkt wurde nur insofern, als die Könner mehr zu reden hatten als die andern. Die Achtung vor der Person und vor der Eigenverantwortlichkeit wurde im ORF längst groß geschrieben, ehe noch die Tagespolitik glaubte, sie uns im nachhinein verordnen zu müssen. Die zwei schlagkräftigsten Beweise dafür: Als erste Rundfunkanstalt überhaupt führten wir ein Redakteurstatut ein; der immer wieder behauptete „Machtmißbrauch” einer angeblich gelenkten Information konnte trotz unzähliger Aufforderungen in keinem einzigen Fall bewiesen werden. Während wir nach Rosa Luxemburg verfuhren, wonach Freiheit immer die des anderen ist, verstanden andere unter freier Meinung immer nur die eigene. Die ORF-Information ist — wiewohl erst sieben Jahre alt — so zur Alltäglichkeit geworden, daß die meisten gar nicht bemerken, wie wenig selbstverständlich, ja wie gefährdet sie vielmehr ist. Gefährdet dann, wenn unter dem Vorwand der — längst vorhandenen — Pluralität etwas ganz anderes eingeführt werden soll: der Fraktionsjournalismus.

Bei aller Betonung der Information ist zu unterstreichen, daß Rundfunkanstalten nicht nur Informationsmedien, sondern vor allem Kulturträger der modernen Gesellschaft sind. Lauscht man der rundfunkpolitischen Diskussion, so müßte man meist einen anderen, einen falschen Eindruck haben. Den Eindruck nämlich, als gelte es nicht, Programm für Millionen zu machen, Literatur, Musik, Wissenschaft, bildende Kunst und Unterhaltung an mehr Menschen heranzubringen, als alle Theater, Kulturstätten und Museen dieses Landes zusammen fassen; den Eindruck, als ob die Hauptsorge der Rundfunkteilnehmer in der Regelung von Regierungs-, Parteien-, Kammern- und Gewerkschaftseinflüssen im Rundfunk bestünde.

Der ORF ist Kulturinstitut, Informationsbetrieb, industrielles Großunternehmen. Dieser Drilling ist im gesamten ein denkbar kompliziertes Unternehmen: Kaum in einem anderen Betrieb sind so verschiedenartige Berufe und Arbeitsvorgänge, so viele Menschen, die so Unterschiedliches tun, vereint.’

Die Voraussetzungen für eine geordnete Programmarbeit mußten durch eine Neuordnung des Betriebes von Grund auf geschaffen werden.

Diese Neuorganisation wurde 1967 sofort in Angriff genommen und dauerte in manchen Bereichen bis ins Jahr 1974. Aus einem nach historischen Zufälligkeiten entstandenen, nach keinem gemeinsamen Konzept (bestenfalls nicht gegeneinander) arbeitenden Interessenkonglomerat wurde die arbeitsteilige Gesellschaft ORF. Kennzeichen eines Kulturinstituts ist nicht das Chaos, sondern die schöpferische Ordnung.

Alle Organisationsmaßnahmen wurden auf breiter Basis von den Fachleuten des Hauses entwickelt, kein Bereich blieb, wie er war. Das Ergebnis ist ein konsequent föderalistischer Betrieb mit wirksamen Zentralen Steuerungsorganen und einer betriebswirtschaftlichen Grundgesinnung, die demonstrativ in der

Umbenennung der Verwaltungsdirektion zum Ausdruck kommt. Wir nannten sie vom ersten Tag an Kaufmännische Direktion, was uns die Kameralisten in- und außerhalb des Unternehmens bis zum heutigen Tag nicht verziehen haben.

Organisation und Personal stehen in direkter Beziehung zueinander; ich habe mich im In- und Ausland umgesehen und in einschlägigen Betrieben nur spärliche Ansätze zu Fer- sonalreformen entdeckt. So möchte ich mich auf das wahrscheinlich wichtigste Ergebnis unserer Personalreform beschränken: Der ORF ist vermutlich der einzige in Staatsbesitz befindliche Großbetrieb, dessen Personalpolitik im parteifreien Raum betrieben wird. Wiewohl ein beträchtlicher Teil des ORF-Personals parteipolitisch organisiert ist und die überwältigende Mehrheit selbstverständlich eine eigene politische Meinung hat, existierte die Frage nach der parteipolitischen Herkunft einfach nicht, unser Personalchef war mit keinem roten oder schwarzen Telephon ausgestattet. Der früher allmächtige Fraktionalismus mußte sich seine Spielwiesen außer Haus suchen.

Die Einrichtung eines modernen Finanzwesens — es gab in diesem Unternehmen weder Betriebsabrechnung noch EDV! — garantierte Zweifaches: eine saubere Geschäftsgebarung als glaubwürdiges Fundament der Gebühren- und Tarifpolitik, die das Jahrzehnte hindurch ausgehungerte Unternehmen wieder lebensfähig machte, dazu stichhaltige Dispositionsunterlagen, um die geringen Mittel einer kleinen Rundfunkanstalt optimal einzusetzen. Dieses Instrument erlaubte langfristige Investitionspläne.

Alles, was die Reform an Schwierigkeiten zu bieten hatte, wurde vom Kapitel Investitionen übertroffen. Es fehlte 1967 an allem; keiner anderen europäischen Rundfunkgesellschaft mutete man derartige Betriebsstätten und ein derartiges Handwerkszeug zu. Es hatte fürwahr des vielgerühmten Improvisationstalents des Österreichers bedurft, jahrzehntelang unter solchen Zu- und Umständen überhaupt Programm zu machen. In wenigen Jahren mußten dann unsere Techniker und Kaufleute nachholen, was man dem Rundfunk jahrzehntelang vorenthalten hatte. Dies ist wohl der zynischeste Aspekt des ORF-Kannibalismus, uns die Investitionen vorzuwerfen, die andere versäumt hatten. (So, als ob man erst nach 1967 begonnen hätte, den Westbahnhof und die Staatsoper wieder aufzubauen.) Ein Fernsehzentrum auf dem Küniglberg und Landesfunkhäuser, sie waren lange vor uns — und viel größer! — konzipiert, aber nie realisiert worden. Und fast zwei Drittel aller Sender, die seit 1924 in Österreich errichtet worden sind, stammen aus den Jahren nach 1967. Der ORF ist heute ein gut, wenn auch noch lange nicht perfekt ausgerüstetes Unternehmen.

Ich habe versucht, mit einigen Schwerpunkten einen Überblick über unsere „ganzheitliche” Rundfunkauffassung zu vermitteln. Wir mißverstanden uns nie als eine Gesinnungsgemeinschaft, die wir weder sein konnten noch wollten, wir verstanden unter Rundfunkreform eine integrale Österreich-Aufgabe: Rundfunk, etwas pathetisch gesagt, als patriotischer Dienst, weniger pathetisch gesagt, als eine für jedermann möglichst nützliche Sache. Integrale Österreich-Aufgabe im Sinne jenes unbestrittenen Gemeinsamen, welches einmal den Geist des Beamtentums oder der alten Vielvölkerarmee ausgemacht hat, und wofür der Angelsachse beneidenswerterweise den Begriff common sense kennt. Solcher Art strebte ich einen 3-Parteien- Konsensus zu einem auf Basis des Volksbegehrens weiterentwickelten Rundfunkgesetz an; ausgehend von der Überlegung, daß dieses gemeinnützige Institut prinzipiell außer Frage gestellt und für alle großen Lager gleich akzeptabel sein sollte.. So wie etwa die verstaatlichte Industrie, derentwegen man sich vor zwei Jahrzehnten noch die ärgsten innenpolitischen Schlachten lieferte, die aber jetzt als Nationalindustrie außer Streit steht. So weit sind Österreich und der Rundfunk offensichtlich noch nicht; der Konsensus scheiterte daran, daß in der österreichischen Medienpolitik der kleinste gemeinsame Nenner fehlt. Die medienpolitische Auseinandersetzung ist kein österreichisches Unikat; einmalig und im europäischen Ausland mit Kopf- schütteln betrachtet sind freilich Niveau, Ton und Machart dieser Auseinandersetzung made in Austria.

In sehr absehbarer Zukunft wird über die Industrienationen eine Informationslawine hereinbrechen, für die es keine gültigen Vergleichsbilder gibt. Zu den konventionellen Medien kommen (oder sind schon da) Kabel, Kassette, Direktsatellit, universelle Informationseinheiten mit individueller Abrufbarkeit und Rück- koppelung. Der Bürger dieser Staaten wird in den restlichen Jahren des zweiten Jahrtausends nicht mehr mit dem Problem der Wahlmöglichkeit, der Meinungsvielfalt, der Plura- lisierung ringen, sondern vor allem mit jenem der Selektion.

Ungeheuerlich an dieser Entwicklung ist weniger sie selbst als vielmehr die Tatsache, daß ihr Staat und Gesellschaft weitgehend unvorbereitet entgegensehen — oder nicht einmal das. Längst wäre die Ordnung dieser neuen Kommunikationslandschaft zu überdenken, gesetzlich vor- zubereitėn: Das Heil liegt ebensowenig bei einem obsoleten Liberalismus wie bei den diversen „Großen Brüdern”.

Die internationale Medienzukunft offeriert sich als ein Chaos, das durch Schlamperei schwerlich zu mildern sein dürfte. Statt sich der medialen Sachfragen anzunehmen, die demnächst Lebensfragen der Gesellschaft sein werden, inszeniert man hierzulande — Rundfunk als Unterhaltung begriffen — ein Multimediaspektakel mit open end. Ganz im Sinne der jüngsten Live-Fernsehspielmode, wo der Autor selbst nicht weiß, wie es ausgeht.

Was der Mensch aus den neuen Techniken macht, hängt in erster Linie von seinen Wertvorstellungen ab. Eine riesige Chance ist zu nutzen: Der qualitative Sprung von der Information zur Kommunikation, elektronische Massenmedien als Agora begriffen, als ein in jeder Hinsicht grenzenloses Verständigungsmittel.

Der ORF der Jahre 1967 bis 1974 hat versucht, sich auf diese Herausforderung vorzubereiten.

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