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Wie ein Frosch in der Milchkanne

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In der Sprache der Medizin ist die Krise (korrekt: Krisis, also Entscheidung) ein „schneller Fieberabfall, der binnen 24 Stunden zu normaler oder subnormaler Temperatur führt und die Genesung einleitet”. Wenden wir den Begriff metaphorisch auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an, so müssen wir einräumen: Von Krisis mit Hoffnung auf Genesung kann noch keine Rede sein. Die wichtigsten Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa befinden sich zur Zeit in kritischen Situationen, die sich bis zur Gefährdung der Existenz dieses Typs von Rundfunk entwickeln könnten.

Während diese Erkenntnis in Deutschland schon seit geraumer Zeit diskutiert wird, war es in Österreich der Wechsel im Amt des ORF-Generalintendanten (von Gerd Bacher zu Gerhard Zeiler im Oktober vorigen Jahres), der ein Schlaglicht auf die Lage geworfen hat. Unter der neuen Leitung stellt sich der ORF als Frosch in der Milchkanne dar, dem-nichts anders übrig bleibt als zu strampeln; wird Rutter aus der Milch, so ist er gerettet. Die deutschen Vergleichsfrösche (ARD = Erstes Deutsches Fernsehen und ZDF) strampeln schon lange, aber die Milch scheint nicht fett genug zu sein. Die privaten Fernsehanbieter sahnen den Werbemarkt ab, daß der (Ex-)Stammkundschaft von ARD und ZDF Hören und Sehen zu vergehen droht. So jedenfalls liest sich die Begleitmusik in den kritischen Printmedien.

Nun ist in Österreich immer alles ganz anders. Zwar können sich inzwischen gut 60 Prozent der österreichischen Haushalte per Kabel oder Satellit ebenfalls die kommerzielle Konkurrenz in Gestalt von SAT 1, RTL, RTL 2, Pro 7 et cetera auf ihren Bildschirm tippen. Aber noch ist der ORF alleiniger Werbefern-sehzeitanbieter. Das wird jedoch nicht mehr lange so bleiben. Generalintendant Zeiler tut deshalb gut daran, Auffangstellungen zu errichten, so wie Gerd Bacher und seine Intermezzo-Kollegen als Generalintendanten gut daran getan haben, das ORF-Radio und schließlich auch das Fernsehen zu regionalisieren. Im Hörfunkbereich kann der ORF den Sendebeginn der privaten Regionalsender - voraussichtlich im Spätsommer oder Herbst dieses Jahres -mit einiger Gelassenheit abwarten. In ungewisser Erwartung privater Fernsehkonkurrenz (mit österreichischen Standorten) kann er nur pro-

Ehylaktische Maßnahmen treffen. )iesem Zweck dient die mit dem 6. März eingeführte neue TV-Programmstruktur, die nicht nur Inhalte neu plaziert und gruppiert, sondern auch einen anderen Stil entwickelt. Im Klartext: Der ORF ist bestrebt, seine Fernsehangebote so zu gestalten und zu präsentieren, als ob die Konkurrenten schon im eigenen Lande operierten. Alle Beteiligten (einschließlich des Publikums) wissen, wie „die anderen” es machen, der Generalintendant und seine Programmintendantin wissen es - so unterstellen wir einmal - besonders gut, weil sie selber aus jenem Geschäft kommen beziehungsweise zurückgekehrt sind. Ich bin -mit Peter Glotz („profil” 20. Februar) - der Meinung, daß man Gerhard Zeiler nicht zu früh schelten sollte. Er (und das gilt auch für seinen Vorgänger) hat nur einen kleinen Spielraum, wenn er die „Verstärkung der Massenattraktivität” (Glotz) jetzt in die Wege leiten will und nicht erst, wenn es zu spät ist: Die deutschen Öffentlich-Rechtli-chen haben, auf dem hohen Roß ihrer Groß-Apparate sitzend, zu lange zugewartet.

Dessen ungeachtet ist die Umgestaltung (mindestens) gewöhnungsbedürftig. Wenn ich an einem Abend unbedingt zwei Spielfilme hintereinander sehen will, werde ich das angesichts des Gesamtangebots von plus-minus zehn passablen Kanälen in jedem Falle tun; ORF-1-treu bleibe ich nur, wenn es zwei gute Filme sind. Auch die verdichtete Eigenwerbung - beim ORF wie auf mittlerweile fast allen öffentlich-rechtlichen Kanälen - kann einem ganz schön auf den Nerv gehen.

Da die Unterscheidbarkeit, wie Racher sagen würde, die raison d'etre der öffentlich-rechtlichen Programme ist, befinden sich die Um-formatierer auf einer riskanten Gratwanderung. Verrat am Auftrag des Rundfunkgesetzes ist das noch nicht. Zeiler beugt einschlägiger Stimmungsmache durch eine Uber-Akzentuierung des Kulturauftfags vor: 1995 werde ein „Schwerpunktjahr der Kultur im ORF” sein, - Festspielübertragungen mehr denn je, Kulturpflicht in ZIB 1 und ZIB 2 et cetera et cetera. Womit die intellektuellen und politischen Kritiker beruhigt werden sollen, davor genau fürchtet sich das allgemeine Publikum, das sich durch Luxemburgisie-rung gewinnen ließe. Zeiler verwendet in diesem Zusammenhang eine seltsame Argumentation: Er teilt das Gesamtangebot des ORF in „öffentlich-rechtliche Kernaufgaben” und den Rest (Information, Kultur, Bildung, Föderalismus, Religion, „Österreich”) und behauptet dann, für die Kernaufgaben müsse er pro Jahr zwei Milliarden Schilling mehr ausgeben, als er an Teilnehmerentgelt einnehme. Dieses Auseinander-Sortieren ist vom Rundfunkgesetz nicht gedeckt. Die „öffentliche Aufgabe” des ORF ist unteilbar, und die Darbietung von Unterhaltung gehört dazu. Wenn der Erlös aus Entgelten nicht reicht, darf er dazuverdienen (Werbung), oder er muß sparen.

Für die Verfechter der Radio- und Fernsehliberalisierung (also auch für mich), ist die schnelle Verwandlung des Fernsehprogramms (hier als Gesamtmenge des abendlichen Angebots verstanden) eine I^ehre. Es ist eigentlich, von er Technik abgesehen, nichts wirklich besser geworden, oder konkret: Sich am Abend vor die Mattscheibe zu setzen, ist heute nicht verlockender als es (im Fünf-Programm-Land Salzburg) vor 20 Jahren war. Die besten Aussichten, aus der Gesamtfülle etwas wegen seiner Qualität oder Spannung Vnzapp-bares zu finden, sind nach wie vor bei den Öffentlich-Rechtli-chen gegeben. Das gilt selbst für die inflationäre Talkerei.

Ich folgere daraus, daß öffentlichrechtlicher Rundfunk nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollte. Er ist eine eigentümliche Schöpfung des europäischen Geistes. Als Vergleich dazu fällt mir nur die Oper ein: groß, anspruchsvoll, kulturbeflissen, ökonomisch schwer zu rechtfertigen und abschaffungsbedroht. Seitdem die BBC, das Vorbild aller öffentlich verantworteten Rundfunkarbeit, 1927 entprivatisiert und unabhängig gemacht wurde, gilt sie als „Einrichtung der öffentlichen Daseinsfürsorge”. Seit 1992 bekommt sie ihre Lizenz vom Minister für National Heritage.

In Ländern, wo Rundfunk von Anbeginn als Wirtschaftszweig eingeführt wurde, hat sich die Idee von einem Medium als Einrichtung der öffentlichen Daseinsfürsorge nicht nachträglich einpflanzen lassen, es sei denn als Randerscheinung.

Wie wir die Oper abschaffen oder vom wirtschaftlich erfolgreichen Musical überwuchern lassen könnten, ließe sich womöglich auch mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk verfahren? Seine Krise signalisiert uns eine Krise des europäischen Geistes.

Vorstand des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschafi an der Universität Salzburg.

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