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Digital In Arbeit

Bereit zur Selbstentblößung

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Entspricht der ORF in seiner neuen Form der Kommerzialisierung noch dem Status einer öffentlich-rechtlichen Anstalt mit Gebühren?

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Entspricht der ORF in seiner neuen Form der Kommerzialisierung noch dem Status einer öffentlich-rechtlichen Anstalt mit Gebühren?

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Die Entscheidung über obige Frage werden nicht die Medienexperten, sondern die Kosten fällen. Generalintendant Gerhard Zeiler hat soeben ein Sparpaket bis zum Jahr 2.000 vorgelegt, weil sonst ein Milliardendefizit droht und er mit dem ORF „nicht das Schicksal des Konsum erleiden wolle”. Ohne Gebühren geht es also nicht.

Geht es ohne öffentlich-rechtlichen Auftrag? In Österreich kaum. Die Kulturlandschaft Österreich würde aus dem TV verschwinden. Wer sonst sollte gesellschaftliche Anliegen transportieren, ohne gleich in die Meinungsallüre der Presse zu verfallen?

Der neue ORF ist aber ein Abbild einer kommerziellen Rundfunkanstalt. Gerade der öffentlich-rechtliche Auftrag scheint jedoch zu verhindern, daß wir ein RTL-Österreich oder

PRO 7 bekommen. Sonst wäre Zeiler bei seiner Reform noch viel weiter gegangen.

Während die Spielfilme auf ORF 1 aber schon wieder an Reichweite verlieren, legte ORF 2 zu. Ein wesentlicher Baustein der Reform sind die neuen Talk-Shows. Hier wirrd Eigenschaftspluralismus betrieben. Das Groteske, Skurrile, auch das Zerstörte wie das Gute am Menschen werden dargestellt. Es gab vorher Zweifel, ob die Österreicher zu solcher Selbstentblößung bereit seien. Die Zweifler sind widerlegt. Auch das österreichische Schicksal will nach außen - und wenn auch Vera

Rußwurms Sendung über die vor einem Gefängnisaufenthalt stehende Mutter keinen Gnadenakt be wirkte, so ist doch anzurechnen, daß der einzelne - allerdings nur, wenn er einen sozialen Extremfall darstellt -, die Möglichkeit hat, vor einem großen Forum seine Situation darzulegen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Pluralismus nicht unter dieser Auswahl des Extrems leidet; denn dies ist nur die Spitze einer Pyramide, die an der Basis viel vielfältiger ist.

Es gibt noch keine Untersuchungen darüber, wie der Zuseher auf diese Schicksale reagiert. Nimmt er Anteil, ist er froh, nicht in derselben Misere zu sein, beneidet er die Außerordentlichen, will er seinen eigenen Rang anhand der Fälle definieren, will er sich identifizieren, um sein eigenes Geschick besser ertragen zu können?

Diese Talk-Shows haben keinen Sinn, wenn eine Tränendrüsenmechanik einsetzt, nach deren Auslösung sich der Zuseher besser vorkommt und wieder zum Alltag übergeht. Sie unterscheiden sich nur dann von der RTL-Pornographie, wenn sie im sozialen Bewußtsein etwas aufbrechen lassen. Die Gefahr des neuen ORF besteht darin, daß hinter der Sensationsmache gesellschaftliche Mängel verschwinden. Natürlich soll er dem Unterhaltungsbedürfnis genügen - und tut es auch. Es sind jedoch die regelmäßigen Krimileisten auch ein Leisten, über den das Positivbewußtsein geschoren wird. Aus dieser Sicht sind die Talk-Shows natürlich schon ein Ansatz, der Realität näher zu rücken.

Politisch scheint es dem neuen ORF gelungen zu sein, sich aus dem Parteienkampf herauszuhalten (der F-Mediensprecher ist anderer Meinung, siehe obigen Beitrag. (Anm. d. Red!) Mit Peter Babls Sendung „Zur Sache” wird eine Diskussion definiert, die eben mit Gefühlen und Res-sentiments durchsetzt ist, die wohl spiegelbildlich mancher Meinung

von der Straße entsprechen. Fernsehen muß nicht aus dem Mädchen-pensionat kommen.

Die Frage ist aufzuwerfen, inwieweit eine öffentlich-rechtliche Anstalt auch ein gesellschaftliches Korrektiv sein soll. Will das der ORF? Das ist zumindest zweifelhaft. Ein unabhängiger Rundfunk steht allerdings vor dem Problem, wieweit er sich auf politisches Kalkül einlassen kann, um Tendenzen vorzugeben. Vielleicht muß er sich darauf beschränken, Lebensbilder in Vielfalt zu vermitteln, um dem Konsumenten Orientierung zur freien Entscheidung zu bieten.

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