Der Bildschirm, das Fenster zur Welt

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Die „audiovisuelle Belastung“ führt zur Synchronisierung und Gleichschaltung der Gefühle. Am 11. 9. 2001 sah die Welt die Bilder des einstürzenden World Trade Centers. Umgehend machte sich in unseren Breiten ein Gefühl des Entsetzens und des Hasses breit. Der Bildschirm ist das Fenster zur Welt, durchsichtig, aber nicht transparent.

Kaum vorstellbar, dass Vladimir Zworykin, der Erfinder des „Ikonoskops“, der ersten Bezeichnung des elektronischen Fernsehens in Jahre 1923, damit gerechnet hat, welche Dimension seine technische Neuerung erreichen wird. Er hat sein Ikonoskop nicht als ein Massenkommunikationsmittel bezeichnet, sondern es nur als ein Mittel zur Vergrößerung des menschlichen Blicks vorgestellt.

Jede neue Technologie hat Nebenwirkungen, die bei ihrer Erfindung nicht vorauszusehen waren, und sie hat keine Moral wie Marshall McLuhan sagt. Sie ist ein Werkzeug, das die Gesellschaft konstant formt, das also versprochene Wirkungen und (un)beabsichtigte Nebenwirkungen hat. Viele davon schlagen auf den sozialen Bereich durch und erweisen sich als umso gefährlicher, je weiter sie in unsere tägliche Existenz und in den privaten Bereich eindringen. Der erste Intendant des WDR, Hanns Hartmann, war sich dessen wohl bewusst, als er besorgt mahnte, „das Fernsehen sei ein Instrument von grenzenloser Überredungsmacht, ein Mittel der Narkose und der Suggestion. Ich glaube, man sollte an die Schalthebel dieses Instruments nur Leute heranlassen, die das nie vergessen.“

Mittlerweile ist das Fernsehen zum erfolgreichsten aller Massenmedien geworden und die besorgten Worte werden gerne und oft vergessen. Ob es alle wahrhaben wollen oder nicht: Fernsehen dringt in den Alltag ein. Die durchschnittlich Sehdauer – derzeit bei täglich etwa 200 Minuten – geht in Richtung Abhängigkeit. Beim derzeitigen Stand der Lebenserwartung heißt das, dass Frauen 11,4 Jahre und Männer 10,7 Jahre ihres Lebens vor dem Fernsehschirm verbringen, andere Bildschirme gar nicht eingerechnet. (Kürzlich wurde von einem 28-jährigen Niederländer der Weltrekord im Dauerfernsehen gebrochen, der neue „Weltmeister“, Efraim van Oeveren aus Tilburg, hielt insgesamt 86 Stunden mit offenen Augen vor der Glotze aus). Eine lange Zeit sitzend – in mehr oder weniger großen Räumen, aber vor immer größeren Bildschirmen – die Außenwelt zu betrachten ist Fitnessgeräten vergleichbar, auf denen man sich im Stillstand scheinbar fortbewegt.

Häftlinge mit Fernsehen sind nicht allein

Für den französischen Philosophen Paul Virilio ist diese Entwicklung ein Transport-auf-der-Stelle. An sich eine Transportmittelrevolution im Sinne der Übermittlung von Information. Von der häuslichen Bildschirmarbeit, sich etwa weit entfernt voneinander im Rahmen einer Telekonferenz zu versammeln, zieht Virilio Parallelen zu Veränderungen im Strafvollzug: So besteht etwa das erklärte Ziel der Ausstattung von Gefängniszellen mit Fernsehgeräten darin, das „Trennungssyndrom“ zu bekämpfen. Das ergibt eine charakteristische Veränderung der Einsitzenden: Sie sind nicht mehr ausschließlich im Blickfeld der Bewacher, sondern können ihrerseits die Nachrichten sehen. Für Virilio besteht kein Zweifel, dass sich diese Art der „medialen Ghettoisierung“, diese „elektronische Apartheid“, nicht auf den Strafvollzug beschränkt. Er zieht den Schluss: „Sobald Fernsehzuschauer ihr Empfangsgerät anschalten, sind sie es, ob Gefangene oder nicht, die sich im Fernsehfeld befinden, einem Wahrnehmungsfeld, über das sie selbstverständlich keinerlei Macht haben, es sei denn, es zu unterbrechen.“

Als „Lagerfeuer der Nation“ wurde das Fernsehen in den Anfängen bezeichnet, Programme wurden zu „Straßenfegern“, so genannt, weil Menschen massenhaft zur selben Zeit zuhause dieselbe Sendung sahen. Inzwischen, mit Beginn des Satelliten- und Privatfernesehens vor 15 Jahren, verteilen sich die Seher auf mehrere hundert Kanäle. Kommt es zu Ereignissen, die weltweite Bedeutung haben – wie die Terroranschläge von New York oder der Tsunami in Südostasien oder Olympische Spiele –, verfolgen wieder hunderte Millionen Menschen rund um den Erdball ein und dasselbe Thema, oft zeitgleich mit dem Geschehen, also in „Echtzeit.“ Für den Philosophen der Geschwindigkeit, Virilio, wird das zu einem „Echtzeitproblem“, das Demokratien gefährdet, denn politische Prozesse sind Vorgänge, die ausgehandelt werden müssen. Wird die Zeit immer knapper, steht immer weniger dafür zur Verfügung, und das führt zum „Ende der Demokratie“. Demokratie und Diskussion, die Grundlagen des Politischen, bräuchten Zeit. Die Dauer gehöre zum Wesen des Menschen. Möglicherweise liegt darin ein plausibler Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen in ihre Privatheit zurückziehen.

Guter Journalismus braucht Zeit

Das trifft auch für den Journalismus als Vermittler, Kritiker und Kommentator politischer Diskussionen und Prozesse zu. Journalistische Qualität ist kein abstrakter Wert, er ist Grundlage eines demokratisch verfasstes Gemeinwesens. Guter Journalismus braucht Zeit, Geld und öffentlichen Raum. Nur so kann er seiner gesellschaftlichen Funktion gerecht werden. Die Tendenz aber geht zu mehr Tempo, mehr Kürze und geringeren Budgets, die Zahlen diktieren.

Selbst Timothy Leary, der in den 1960er und 1970er Jahren den freien und allgemeinen Zugang zu bewusstseinsverändernden Drogen wie LSD propagierte, vermutet schon zu seiner Zeit noch stärkere Mittel der Bewusstseinsveränderung: „Im 21. Jahrhundert wird derjenige, der den Bildschirm kontrolliert, das Bewusstsein kontrollieren.“

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich seit den Neunzigern ohne rechte Not in die Statistik geflüchtet. Seither führt die Publikumsquote das Zepter. Diese Quotenfixiertheit, das tägliche Orakel der Zuseherzahlen, bestimmt den Programmplan, obwohl die Methoden der Erhebung umstritten und deren Aussagekraft auch unter Kommunikationswissenschaftern diskutiert wird. Doch die Sendeplätze werden nahezu planwirtschaftlich durchstrukturiert. Zur „Orientierung der Zuschauer“ werden die Sendelängen der Programme vereinheitlicht. Lediglich Sportveranstaltungen verschieben die Planungen noch.

Der aus Sicht des qualitativen Journalismus’ unbeabsichtigte Nebeneffekt: Nicht mehr das Programm selbst, sondern Quotenerfolg dient der Legitimation für die Gebühren. Es ist paradox: Die Quote bestimmt den Wert der Programme, nicht der Inhalt. Einerseits wird die „Privatisierung“ der Programme der Öffentlich-Rechtlichen an den Pranger gestellt, andererseits muss aber auch der öffentlich-rechtliche Programmbetreiber auf jene Mittel zurückgreifen, von denen sich die Privaten einen Seher und Hörerzuwachs errechnen und erwarten.

Es ist jedenfalls keineswegs gesichert, dass eine Programmvermehrung durch neue Lizenzträger eine publizistische Vielfalt bedeutet. Im Gegenteil: Mit zunehmendem Wettbewerb, basierend auf gleichen Berechnungsgrundlagen, nämlich der Quote, werden sich Programme immer ähnlicher. Einfach deswegen, weil alle mit denselben Mitteln um die Mehrheit im Publikum oder der Zielgruppe wetteifern müssen. Dieses Wettbewerbsmodell schränkt die Programmvielfalt ein.

Die Ziele der BBC, des Musterknaben

Der Musterknabe der Öffentlich-Rechtlichen, die British Broadcasting Corporation (BBC), hat, wie periodisch vorgesehen, wieder an ihrem Statut gebastelt. Der Status „Neu“ unterscheidet sich unwesentlich von „Alt“. Die darin festgelegten Pflichten gehen über Selbstverständlichkeiten kaum hinaus. Der öffentlich-rechtliche Sender soll „Lernen und Erziehung fördern“, die „zivile Gesellschaft und den sozialen Zusammenhalt stützen“, „kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln und zelebrieren“, Programme von „hoher Qualität“ bieten, dazu „originell wie innovativ“ sein. Zugleich wird die BBC ausdrücklich aufgefordert, „Unterhaltung“ zur Priorität zu machen.

Das sind allesamt angenehm geduldige und unverbindliche Formulierungen. Damit kann der Sender zufrieden sein, zumal auch die Gebühren bis 2016 gesichert sind.

In einer Zeit rapiden technologischen Wandels und digitaler Vielfalt ist es bis dorthin eine beachtlich lange Periode.

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