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Digital In Arbeit

Eine Gefahr für unsere Lesekultur?

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Standortbestimmung der Möglichkeiten und Auswirkungen der Neuen Medien aus der Sicht der modernen Medienpsychologie.

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Die zweite Revolution nach Johannes „Gutenberg" Gensfleischs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern setzte genau 544 Jahre später ein. 1984, nach intensiver Bastelarbeit in Hinterhöfen und Garagen, gründete eine Gruppe junger Computerfreaks rund um Steve Jobs in Californien eine Firma mit weltweit durchschlagendem Erfolg: Apple.

Der Apple Macintosh ließ im Print-und Medienbereich keinen Stein auf dem anderen. Im Laufe der Jahre wurden Heimcomputer samt Programmen, Schriften und allem was dazugehört für jedermann erschwinglich und leicht bedienbar. Plötzlich konnte jeder von zu Hause aus sein eigener Gestalter und Illustrator von Zeitschriften, Büchern und allem erdenklichen Druckmaterial sein. Mehr noch: Der Computer im Jahre 1996 ist zum multimedialen Alleskönner aufgestiegen. Er dient als Fernseher, CD-Player, Spielgerät, Animationsproduzent und via Internetleitung als Tor zur Welt. Der Computer - heute in mehr als der Hälfte aller österreichischen Haushalte eine Selbstverständlichkeit - ist also das neue Medium schlechthin.

Was aber charakterisiert den Sammelbegriff „Neue Medien"? Zunächst einmal ein grundlegender medialer Umbruchprozeß in Form der Entwicklung und Anwendung. Entscheidend dabei ist nicht nur die neue Art des medialen Transportes von Information, sondern auch die Freisetzung noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte dagewesener, gigantischer Mengen an neuem und altem Material. Wie bei allen Innovationen kann heute niemand wirklich beurteilen, welche Wege die neuen Medien gehen werden, und welche Gefahren vielleicht auf unsere rund 5.000 Jahre alte Schriftkultur zukommen.

Jedenfalls sind digitale Medien, die auf den Rechner-, Satelliten- und Kabelnetzen entstehen, den Kernsätzen des kanadischen Kommunikationstheoretikers Marshall McLuhan unterworfen: „Diese Medien erweitern das sinnliche Wahrnehmungsvermögen, sie werden als Medien zu ihrer eigenen Botschaft, und sie definieren eine globale Gesellschaft, die sich von dem Ideal der Metropolen abwendet und virtuelle, globale Dorfplätze schafft - oder globale Slums."

Aus medienpsychologischer Sicht stellen sich dabei zwei Fragen von großer Brisanz: Wie steht es um die Qualität der auf unterschiedlichsten medialen Wegen transportierten Bot-Schäften? Wie geht der Rezipient damit um, das heißt, was macht der Benutzer einer Animations-CD, die ihm die richtige Babypflege erklärt oder mit Hunderten Statements zu einem Thema aus dem Internet oder mit den Tausenden Meldungen, die auf einem 24-Stunden-Nachrichtenkanal laufen?

Weiters ist natürlich zu fragen, welchen Nutzen zieht ein Anwender aus den Neuen Medien? Gesicherte und langfristige Antworten darauf lassen sich heute nur mit Vorsicht formulieren. Die medienpsychologische Forschung kann aber trotzdem mit einigen Ergebnissen aufwarten. So wurde etwa herausgefunden, daß das World Wide Web zwar eine unvorstellbare Informationsflut zu allen erdenklichen Rereichen bietet, aber auch Internet-Benutzer vorwiegend konventionelle Wege der Datenbeschaffung wählen, wie etwa in Bibliotheken, Nachschlagewerken und auch in Printmedien zu stöbern, Experten zu befragen und anderes mehr.

Daß die sogenannten Neuen Medien neue Perspektiven eröffnen ist unbestritten. Der Benutzer des digitalen Fernsehens wird so zum Regisseur der Sendung, indem er beispielsweise bei einem Abfahrtslauf die Kameraposition auswählt, die ihn interessiert. Er kann also frei bestimmen, was er wann wie sehen möchte. War es bisher entscheidend, wie viele verschiedene Fernsehkanäle ein Kabelbetreiber anbietet, werden vom ersten deutschen Digitalsender DF1 themenzentrierte Programmpakete angeboten, in denen der Seher interaktiv wählen kann. Das entspricht auch gerade dem Trend, der sich mit der AA'eiterentwicklung der Neuen Medien abzeichnet: Die Wende vom passiven Rezipienten hin zum aktiv das Medium bei der Übertragung mitgestaltenden Renutzers.

Sind wir deshalb nun endlich von der Geißel der passiven Mediennutzung und - so Medienkritiker Neil Postman - von der damit einhergehenden Verdummung befreit? Mitnichten. Psychologische Untersuchungen dazu belegen, daß der überwiegende Teil der Internet-Benutzer nach stundenlangem Net-Surfing zwar subjektiv das Gefühl hat, mehr zu wissen, objektiv gesehen aber weder mehr weiß noch dieses Wissen in einer für ihn Nutzen bringenden Weise verwenden kann.

Der Computer hat den Wettbewerb mit dem Buch aufgenommen. Noch scheinen die Nachteile zu überwiegen. Das Buch verbraucht keine Energie, und man kann schauen, tasten, riechen, kurzum es mit allen seinen Sinnen erfahren. Doch der Computer hat als vernetztes Notebook einige dieser Eigenschaften erworben und bietet solche, die das Buch nie haben wird: Er findet und verbindet blitzschnell Textstellen, er dient zum Schreiben wie zum Lesen, er kann Sprache, Klänge, Animationen und Filme speichern.

Mit der Aernetzung und Medienintegration wird die Schlagkraft der Informatik in unserer Kultur deutlich. Sie kann ähnlich wie der Buchdruck über eine längere Periode die AA'ahrnehmung verändern - von der literalen zu einer globalen medialen Gesellschaft. Arbeit, Kultur, Politik, Wirtschaft, also kein Bereich wird sich diesem Prozeß entziehen können.

Eine internationale Studie zum Leseverhalten läßt den Schluß zu, daß der Stellenwert des Lesens seit den sechziger Jahren in allen Bevölkerungsgruppen gesunken ist. In den USA und in mehreren europäischen Industriestaaten breite sich zunehmend ein funktionaler Analphabetismus aus, der Lesestandard konnte hier in den letzten 20 Jahren nicht mehr gesteigert werden. Bei den wichtigsten Einflußfaktoren auf das Lese-und Medienverhalten, steht das Vorbild der Eltern und das Leseklima im Elternhaus an erster Stelle.

Wie soll nun aber der durchschnittliche Rezipient mit diesen vielen neuen Entwicklungen und Medien zurechtkommen? Im Umgang mit Neuen Medien ist wohl mehr denn je kritisches Rewußtsein gefordert und mehr noch sensibles Hinhorchen und Wahrnehmen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Erst dann wird der an globaler Aernetzung teilnehmende Mensch selbstbestimmter sein, der die Medien zu seinen AVerkzeugen macht.

Der Autor ist

Medienpsychologe.

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