6979349-1986_05_10.jpg
Digital In Arbeit

Mediale Wüstungen

19451960198020002020

Die elektronischen Medien wirken gesellschaftsverän-dernd. Medienerziehung setzt gegen die negativen Folgen auf ein lange überschätztes Medium: die Zeitung.

19451960198020002020

Die elektronischen Medien wirken gesellschaftsverän-dernd. Medienerziehung setzt gegen die negativen Folgen auf ein lange überschätztes Medium: die Zeitung.

Werbung
Werbung
Werbung

Mehr als 2,7 Millionen Zeitungsexemplare fanden im vergangenen Jahr Tag für Tag ihre Abnehmer in Österreich. 70,5 Prozent der Österreicher lasen 1985 täglich eine oder mehrere Zeitungen. Im Vergleich dazu: 1978 waren es noch 65 Prozent.

Zieht man weiters die Erfolgsmeldungen in Betracht, die die Buchverlage etwa auch nach der letzten Frankfurter Buchmesse wieder in der Öffentlichkeit verstreuten, dann muß der Eindruck entstehen, daß trotz des Siegeszuges der elektronischen Medien das gedruckte Wort nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat, im Gegenteil.

Allen Pessimisten, die die Kulturtechnik „Lesen" durch einen elektronischen Overkill gefährdet sehen, werden diese Fakten

entgegengehalten. Aber dennoch: Die Indizien werden dichter, daß das quantitative Wachstum im Printmedienbereich keineswegs den Schluß zuläßt, daß die Warnungen vor den gesellschaftsver-ändernden Wirkungen der elektronischen Medien gänzlich unberechtigt waren.

Der „funktionelle Analphabetismus" droht zu einem nicht zu unterschätzenden Problem entwickelter Industrie- und Kommunikationsgesellschaften zu werden. Diese Analphabeten haben zwar Lesen und Schreiben in der Schule gelernt, können aber Geschriebenes dennoch nur mangelhaft erfassen. 13 Prozent der Haupt- und Mittelschulabsolventen in Österreich gehören dieser Gruppe an, die in allen Industriestaaten im Wachsen begriffen ist.

Das gesellschaftliche Problem dürfte sich dabei noch verschärfen: Während ein — offenbar anwachsender — Teil der Gesellschaft Probleme mit der Kulturtechnik Lesen hat, wird in der Ausbildung bereits als vierte Kulturtechnik Informatik eingeführt. Die Befürchtungen, daß sich der Anteil derjenigen, der die erforderlichen Ausbildungsstandards erreicht, weiter verringert und die Kluft zwischen einer _ informierten Elite und den „neuen" Analphabeten sich vergrößert, sind nicht von der Hand zu weisen.

Wie den Herausforderungen der Mediengesellschaft begegnet werden kann, das glauben die Fachleute schon seit langem zu wissen. Die Forderung nach Medienpädagogik geht davon aus, daß der Umgang, insbesondere mit den elektronischen Medien, nicht allein dem Hausverstand überlassen werden kann, weil unkritischer Gebrauch den Konsumenten nur allzuleicht zum Manipulationsobjekt macht.

Immerhin verbringen Jugendliche annähernd genausoviel Zeit mit Medien wie sie in die Schule investieren, und Erwachsene bestreiten einen nicht unbeträchtlichen Teil der Freizeit als Medienkonsumenten.

Um die negativen Auswirkungen vor allem übermäßigen Fernsehkonsums zu illustrieren, werden Untersuchungen aus den USA zitiert, die Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung von Vielsehern aufzeigen. Niederes Einkommen, geringer Bildungsstand, geringe soziale Mobilität, wenig Ehrgeiz bzw. niedere Leistungsmotive sowie starke Angsttendenzen sind Faktoren des „Vielsehersyndroms", d. fr so-

wohl Ursache als auch Wirkung des Fernsehkonsums.

Österreich wird zwar noch lange nicht so umfassend mit elektronischen Unterhaltungsprodukten berieselt wie andere westliche Staaten, insbesondere die Vereinigten Staaten, allerdings muß man sich mit einem Problem herumschlagen, das auch im Viel-sehersyndrom auftaucht: Das des geringen politischen Interesses.

Dieses demokratiepolitisch brisante Defizit ist Ausgangspunkt für einen neuen Anlauf, Medienerziehung an Österreichs Schulen heimisch zu machen. Der „Verband österreichischer Zeitungsherausgeber und Zeitungsverleger" und Unterrichtsminister Herbert Moritz setzen dabei auf die Zeitung.

Letzterer, weil Zeitungen bisher medienpädagogisch eine völlig vernachlässigte Größe waren, während sich alles um das Goldene Kalb „elektronische Medien" drehte. Die Zeitungsherausgeber wiederum wollen ihre Produkte an möglichst jugendliches Publikum herantragen, um der Dominanz der elektronischen Medien im Jugendalltag zu begegnen.

Daß sich kommerzielle Überlegungen durchaus mit gesellschaftspolitischen Anliegen zur Deckung bringen lassen, das bewies die Enquete „Zeitung in der

Schule", bei der der Wiener Publizistikordinarius Wolfgang Langenbucher den Zeitungsherausgebern eine Fülle demokratiepolitischer Argumente lieferte, die für eine Aufwertung der Lese-und Zeitungskultur sprechen.

Seine Grundthese: Der Umgang mit gedrucktem Wort ist essentiell für die Teilnahme am öffentlichen Leben. Auch wenn die These des derzeitigen „In"-Autors Neil Postman („Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie"; S. Fischer, Frankfurt 1985) vielleicht übertrieben sei, daß das Uberangebot des Fernsehens eine gesellschaftliche Bedrohung darstellt, so gelte doch, daß die Zuschauerdemokratie die Vitalität des öffentlichen Leben gefährde.

Untersuchungen zeigen, daß trotz Zunahme des Informationsangebotes insbesondere durch das Fernsehen in den letzten 30 Jahren der Grad der politischen Informiertheit nicht gestiegen ist. Und das trotz des subjektiven Gefühls, besser informiert zu sein. Das Fernsehen sorgt für eine Ver-stehensillusion.

Politische Informiertheit, per-

sönliche Betroffenheit und Bereitschaft zu politischem Engagement — so Langenbucher — seien Eigenschaften, die im Grunde nur via Zeitungen gefördert werden könnten.

Es entsteht eine Wissensspirale, indem der Medienkonsum in politischen Tageszeitungen zu Wissensanreicherung und zu Betroffenheit führt, und in der weiteren Folge zu intensivierter Informationssuche usw.

Zeitungen sind somit wichtiges Instrument zur politischen Sozialisation. Und besonders wichtig in Österreich, in der politische Apathie so weitverbreitet ist wie sonst in kaum einem anderen demokratischen Staat.

Die geplante Korrektur, von der „Zuschauer-" zur „Teilnehmerdemokratie" via Medienerziehung in der Schule, stößt allerdings von Anfang an auf Probleme.

Zum einen zeigt sich, daß die Nutzungsintensität des politischen Teiles der Zeitung in den letzten Jahren nicht gestiegen ist, bei Jugendlichen sogar eine starke Abneigung besteht, weil personalisierte Parteipolitik im Zentrum der Berichterstattung steht.

Langenbucher, der dem das stark gestiegene politische Interesse der Jugendlichen in den letzten Jahren gegenüberstellt, fordert eine neue Funktion der Ta-

geszeitungen ein. Sie sollten vor allem Forum für kritische Bürgerbeteiligung sein.

Zum anderen steht zumindest der Verdacht im Raum, daß gerade unter Lehrern der Anteil der Medienverweigerer hoch ist. Wie sollen aber jene Professoren, die selber kaum Zeitung lesen und in der Regel wenig Ahnung von Produktionsbedingungen in einer Zeitung haben, dem Unterrichtsprinzip Medienerziehung zum Durchbruch verhelfen?

Welche Zeitungen im Unterricht Verwendung finden, diese Frage wird aber wahrscheinlich die erste heiße Diskussion entfachen, auch wenn Zensurbestrebungen von Medienpädagogen kaum befürwortet werden, weil Zeitungen ja ohnehin „medienkritisch" beleuchtet würden. Allerdings ist es keinem Marketingchef zu verdenken, wenn er seine Zeitung Schulen und Lehrern ganz besonders ans Herz legen möchte. Denn jenseits aller Medienkritik ist es gar nicht so unwahrscheinlich, daß sich still und leise eine Leser-Blatt-Bindung aufbaut.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung