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Wie steht es um die „Qualität unseres Lebens“?

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Wir stehen seit 20 Jahren in einer Entwicklungsphase der Politik, in der dem wirtschaftlichen Fortschritt im weitesten Sinn — Steigerung des Güterangebotes als Meßgröße höheren Lebensstandards — fast absoluter Vorrang eingeräumt wurde* Dieser Vorrang hat Konsequenzen, die in den letzten Jahren in immer stärkerem Ausmaß Kritik am gegenwärtigen Wirtschaftssystem auslösten, weil insbesondere das Unbehagen darüber wächst, daß die Anforderungen und Notwendigkeiten des modernen Industriesystems eine Unterordnung aller anderen gesellschaftlichen Ziele erfordert.

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Wir stehen seit 20 Jahren in einer Entwicklungsphase der Politik, in der dem wirtschaftlichen Fortschritt im weitesten Sinn — Steigerung des Güterangebotes als Meßgröße höheren Lebensstandards — fast absoluter Vorrang eingeräumt wurde* Dieser Vorrang hat Konsequenzen, die in den letzten Jahren in immer stärkerem Ausmaß Kritik am gegenwärtigen Wirtschaftssystem auslösten, weil insbesondere das Unbehagen darüber wächst, daß die Anforderungen und Notwendigkeiten des modernen Industriesystems eine Unterordnung aller anderen gesellschaftlichen Ziele erfordert.

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Die ungeheure Dynamik der wirtschaftlichen, technischen und technologischen Entwicklung der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte hat viele Wissenschaftler angeregt, ein Anhalten dieser Entwicklung in der Zukunft zu projizieren und daraus Konsequenzen für unser Leben in der Zukunft abzuleiten.

John Kenneth Galbraith und Fourrastier waren die ersten, die sich mit diesen Fragen beschäftigten. Seither folgten viele andere Wissenschaftler. Auf einen sehr einfachen Nenner gebracht, bewegt alle die gleiche Frage:

Zu welchen Ergebnissen und Konsequenzen führt ein Andauern des bisherigen wirtschaftlichen und technischen Fortschrittstempos in den nächsten Jahrzehnten?

Wie wird sich unser Leben und wie werden sich unsere Lebensbedingungen unter diesen Voraussetzungen zu gestalten haben? Und schließlich die bange Frage, ob ein Leben, wie es sich unter der Konsequenz dieser Entwicklungsprognose in Zukunft fast zwangsläufig abzeichnet, ein echtes Ziel unserer Gesellschaft sein kann?

Im einzelnen mögen die Ergebnisse der Forscher unterschiedlich zu beurteilen, vielleicht auch mehr oder weniger glaubwürdig sein. In einem aber stimmen sie überein: in der grundsätzlichen Feststellung, daß sich unser Leben und die Lebensbedingungen grundlegend ändern werden — ob zum Besseren, sei dahingestellt —, wenn technischer und wirtschaftlicher Fortschritt und Wachstum unverändert oberste politische Maxime der Gesellschaft bleiben. Oder mit anderen Worten, wenn die Jagd nach dem rein materiellen Wohlstand so wie in den letzten Jahrzehnten anhält und alles in Mengen von produzierten Gütern, in Steigerung des Realeinkommens oder im Verbrauch an Gütern gemessen werden wird.

Weichenstellungen sind notwendig Irgendwann zwingen diese Überlegungen dazu, die Frage aufzuwerten, ob wir unser Leben ausschließlich dem Fortschritt von Technik und Wirtschaft unterordnen wollen mit der deutlich näher kommenden Gefahr, Gefangene dieses Lebens zu werden und erhebliche Verminderungen der „Qualität unseres Lebens“ in Kauf zu nehmen oder, bei aller Würdigung des materiellen Fortschritts, doch auch jene Ziele mehr in den Vordergrund zu rücken, die den Wert des menschlichen Lebens steigern und auch für die Zukunft sichern können.

Wenn man auch den futuristischen Modellen, wie sie etwa W. Forrester in seiner Studie „Industrial dyna-mics“ erarbeitet hat, der im wesentliehen eine starke Reduzierung des Wirtschaftswachstums vorschlägt, nicht unbedingt im Detail folgen muß, so zeigen uns diese und auch andere Zukunftsuntersuchungen doch deutlich, daß die wirtschaftliche und technische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte zwei Kardinalprobleme lösen muß:

• einen rasch zunehmenden Mangel an wichtigen Rohstoffen in der Welt-und

• eine explosionsartig zunehmende Verschmutzung der Umwelt in allen Bereichen. ,

Ähnlich wie in den vergangenen Jahrzehnten, als verantwortungsbewußte Politiker wiederholt vor die Aufgabe gestellt wurden, grundlegende Schwerpunktverlagerungen der politischen Zielsetzungen vorzunehmen (Wiederaufbau Österreichs bis in die fünfziger Jahre, die Phase der Sozialpolitik in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, Phase der Infrastruktureritwicklunig seit Mitte der sechziger Jahre) sind wir auch heute bereits mit Fragen befaßt, die weit über den tagespolitischen Anlaßfall hinausreichen, für die aber schon im gegenwärtigen Zeitpunkt oder in naher Zukunft Weichenstellungen vonnöten sind. Letztlich wird die einfache Frage zu entscheiden sein, ob wir die Gegenwart auf Kosten der Zukunft bestreiten wollen oder ob wir auch heute verpflichtet sind, für eine lebenswerte Zukunft vorzusorgen.

Ein Forschungsbericht des amerikanischen Umweltschutzbüros, der kürzlich erschienen ist, kommt zu ähnlichen Ergebnissen und schlägt vor, in Hinkunft nicht mehr das Bruttosozialprodukt zum Maßstab der Leistungsfähigkeit eines Landes zu machen, sondern den Brutto-sozialnutzen.

Der Stellenwert der Gesundheit im Rahmen der Wertskala der Bevölkerung hat in den letzten

Jahren sprunghaft zugenommen und ist heute ungewöhnlich hoch. Die Bedeutung, die der Gesundheit hingegen in der Politik zugemessen wird, hält damit bei weitem nicht Schritt. Der Gesundheitsbegriff, der generell verwendet wird, ist längst nicht mehr ausreichend. Die moderne Arbeitswelt und unsere Gesellschaftsstruktur haben neue Krankheitsformen hervorgebracht, die durch das herkömmliche System der Krankenversicherung und Gesundheitsvorsorge nicht oder nur unzureichend erfaßt werden.

Insbesondere die Entwicklungen, die sich aus unserer sich ständig ändernden Umwelt (biologisch und psychologisch) ergeben, sind viel zuwenig erfaßt und untersucht und in herkömmlichen gesundheitspolitischen Kriterien kaum zu erfassen.

Anderseits befindet sich aber selbst das überkommene System zur Absicherung gegen Krankheitsfälle — unser System der Krankenversicherung und der Krankenhäuser — in einer nicht mehr zu übersehenden Krise. Hier geht es nicht mehr um Korrekturen in Detailfragen, wie etwa Finanzierungsfragen der Krankenkassen und der Spitäler, sondern um funktionelle Neuordnungen, die sich aus den veränderten Problemen und Aufgaben ergeben. Die Gesundheitspolitik wird daher neben der Sicherung unserer Lebensmöglichkeiten durch Erhaltung der Umwelt das zentrale Problem der nächsten Jahrzehnte sein,

Niemand wird die materielle Bedeutung unserer sozialpolitischen Einrichtungen als Instrumente der Sicherung des einzelnen vor den Wechselfällen des Lebens bestreiten wollen. Diese gesamtgesellschaftliche Risikogemeinschaft geschaffen zu haben, ist das große Verdienst der Politik der Nachkriegszeit. Die eingetretenen Folgewirkungen dürfen wir aber ebensowenig übersehen. Durch eine ständige Delegation der Verantwortung von unten nach oben hat die „soziale Unverantwort-lichkeit“ unserer Gesellschaft zugenommen. Im Ergebnis will niemand mehr für seinen Nächsten verantwortlich sein. Der Grundgedanke einer sinnvollen gesellschaftlichen Aufgabenteilung im Sinne der oft mißverstandenen imd auch vielfach fehlinterpretierten Subsidiarität, ist dabei fast verloren gegangen. Dieses Prinzip wiederzufinden ist ein wesentlicher Beitrag zur notwendigen Humanisierung unserer gesellschaftlichen Ordnung.

Nicht nur einzelne Teilbereiche unserer Gesellschaft werden in Frage gestellt, sind fragwürdig geworden. Das alte Konzept von Demokratie, die Identität von Herrschern und Beherrschten herzustellen, wird immer mehr bezweifelt.

Angesichts der zunehmenden politischen Apathie der Bevölkerung, angesichts der zunehmenden Macht weniger Entscheidungsträger, wird die Umkehr dieser bedenklichen Entwicklung geradezu zu zur Uberlebensfrage der Demokratie.

Voraussetzung dazu ist eine immer stärkere Politisierung der Bevölkerung. Bedingung dafür wiederum vermehrte politische Bildung, umfassende Information und Erleichterung von Bürgerinitiativen. Dies zu fördern, ist die große Chance von Oppositionsparteien. Das beweisen das deutsche, das englische und das amerikanische Beispiel der Übernahme der Regierungsmacht durch frühere Oppositionsparteden. Solche Machtwechsel führen heute vor allem die Wechselwähler herbei. Also politisch eher informierte, kritische Wähler; Wähler, die eher die Veränderung als die Versteinerung des Bestehenden wollen. Diesen Wähler anzusprechen, ihm die Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung oder Partizipation zu geben, ist die Aufgabe von Oppositionsparteien. Daß dabei das veränderte, reformatorische Element stärker durchschlagen muß, versteht sich dabei wohl von selbst.

Folgende vier Bedingunigen hat Seymour Martin Lipset in einer Studie über die Gewerkschaftsdemokratie für eine funktionierende demokratische Willensbildung aufgestellt:

• Je weniger die politischen Gegensätze in primitiver Polarisie-rung auf ganz wenige Antagonismen reduziert werden, desto flexibler bleibt die politische Landschaft. Minderheiten — und Opposition ist meist damit gleichbedeutend — habe in - einer differenzierenden Auseinandersetzung die größten Chancen.

• Je größer das Interesse, die Mitwirkung der Bürger am Willensbildungsprozeß, desto besser für die Entwicklung der Demokratie.

• Je mehr Bürger Zugang zum Erwerb politischer Bildung, zum Erlernen politischer Fertigkeiten haben, desto größer die Chance für Demokratie.

• Je stärker der Schutz der Rechte der Opposition — und aller anderen Minderheiten —, desto besser ist das demokratische System.

Diese Bedingungen sind nur zu erfüllen, wenn die Verfügbarkeit über Informationen nicht nur dem zu riesigen Bürokratien verdichteten Staatsapparat, sondern der gesamten politischen Öffentlichkeit, insbesondere der Oposition gegeben ist. So hat bereits die europäische Justizministerkonferenz 1966, den Einbau der Informationspflicht der Behörden in die Rechtsordnung gefordert. Solange nämlich diese öffentliche Zugänglichkeit zu Informationen und zu Datenmaterial nicht gegeben ist, solange Entscheidungen der Regierung daher in weitem Maße willkürlich und unöffentlich fallen, fehlen wesentliche Elemente, auf die die Demokratie, auf die vbr allem eine Opposition in der Demokratie nicht verzichten kann.

Diese Ausführungen mögen theoretisch scheinen, haben aber sehr konkrete Ansatzpunkte. Karl Jaspers sagt, daß „der verantwortliche Staatsmann alles zu tun hat, die Bürger nicht durch Vergessenlassen dumm zu machen, sondern durch restlose Aufklärung aller Elemente des Skandals und Beantwortung aller Fragen politisch zu erziehen“.

Im Sinne des besserinformierten Staatsbürgers hat die Opposition daher ihre Aufgaben der Kritik an und der Kontrolle der Regierungstätigkeit, aber auch das Aufgreifen aller jener Fragen, die von der Regierungspartei vernachlässigt werden, sehr ernst zu nehmen. Es ist möglich, daß eine Regierungspartei nicht immer in der Lage ist, sich mit Zukunftsperspektiven auseinanderzusetzen, also mit allen jenen Fragen, die in einigen Jahren relevant werden, für deren Lösung aber bereits jetzt die Weichen gestellt werden sollten. Es ist deswegen eine der vornehmsten Aufgaben der Opposition, die Lücken in der Tätigkeit einer Regierung herauszufinden, sie aufzugreifen und für die Zukunft aufzubereiten. Dies ist die Herausforderung, die eine Opposition annehmen muß, will sie sich nicht auf eine lange Periode im Schatten der Regierungspartei einrichten.

Die Fragen, die sich heute für die Zukunft anbieten, liegen klar auf der Hand. Söll der-materielle^Fortschritt uns zur Gänze' beherrschen, oder haben wir noch Zeit, ihn zu beherrschen und damit wieder die Werte des menschlichen Lebens, Freiheit, Menschenwürde, soziales Empfinden usw., in den Vordergrund zu rücken? Werden wir — so wie von der Konsumgesellschaft — durch eine neue Entwicklung — sei es die Bildungsgesellschaft, sei es die Freizeitgesellschaft, — überrannt, oder haben wir noch Zeit, für die Gesellschaft von morgen Ziele abzustecken und neue Ideale zu finden? Können wir heute noch die Weichen stellen, um dem Staatsbürger von morgen politisches Bewußtsein vermitteln zu können und so zum informierten Staatsbürger — von vielen als Ideal hingestellt — zu kommen, oder lassen wir uns von einer nicht näher definierten Demokratisierungswelle in allen Bereichen zum manipulierten Staatsbürger von morgen machen?

Wir werden auch in Österreich nicht umhin kommen, Antworten zu finden.

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