"Was tue ich da, was ich da tue?"

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Die Gesellschaft wird erst herausfinden müssen, welche Wege sie gehen will. Die Alten könnten bei dieser "Selbstbefragung"eine wichtige Rolle spielen.

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Die Gesellschaft wird erst herausfinden müssen, welche Wege sie gehen will. Die Alten könnten bei dieser "Selbstbefragung"eine wichtige Rolle spielen.

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Ein heute gängiges Klischee besagt, dass durch die Raschlebigkeit des Zeitalters und die immer schneller aufeinander folgenden technologischen Neuerungen der Wert alles gewonnenen Wissens nur kurzfristig gegeben sei. Die Halbwertszeit des Wissens werde immer kürzer. Da der Mensch in seiner neurologischen und psychischen Konstitution auf ein Bewahren und langfristiges Speichern von Wissen hin angelegt sei, müsse die maschinelle Informatik, die zur rascheren Austauschbarkeit von Wissen konstruiert sei, mehr und mehr zum Umschlagplatz des Wissens heute werden. Soll sich der Mensch in einer umfassenden Wissensmaschinerie auf die Bedienerfunktion einrichten, wobei eine kleine Schicht von Experten die Innovationen in diese Maschinerie einspeichert?

Ein kürzlich von deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einberufenes Symposium zu Fragen des Erfahrungswissens zeigt ein von diesem Klischee der raschen Wissensabwertung verschiedenes und weitaus differenziertes Bild. Gerade bei schneller Wissensdifferenzierung und -erneuerung bedarf es zwar der Menschen, die diese Neuerungen schnell verstehen, zum Beispiel diagnostisches Instrumentarium im Labor oder Kontrollapparate in der Reparaturwerkstätte; aber sie müssen als ,,Rezeptoren" des erwarteten Wissens und dieses auch als Instruktion für andere aufbereiten und weitergeben können. Je mehr Erfahrung mit Innovationen vorliegt, desto höher steigt die Fähigkeit, das jeweils Neueste zu filtern und dessen Anwendung zu steuern sowie die Folgen der Innovation abzuschätzen. Solches Erfahrungswissen veraltet nicht, es wächst viel mehr im Zeitverlauf.

Kopf oder Bauch?

Erfahrungswissen zeigt seine Stärke besonders auch in Krisensituationen. Fällt im Operationssaal während eines Eingriffs eine hoch entwickelte Technologie aus, muss irgendjemand imstande sein, mit einfacheren Mitteln die Situation zu retten. Dieses ruhende oder ,,silent knowledge" bringt Souveränität. Wer über dieses Wissen verfügt, hat Handlungsentscheidungen ,,im Gefühl". Ohne das silent knowledge gibt es keine "situative Kompetenz". Diese ist als Fähigkeit unersetzlich, in den sich immer wieder neu und anders ergebenden Situationen, nicht nur in der Chirurgie, sondern auch in Politik, in Wirtschaft und Forschung, gezielt zu entscheiden. Und manchmal muss das sehr rasch - etwa in einem Telefonat - geschehen.

Ein Anteil von Wissen - auch von Fachwissen - muss vom Kopf ,,in den Bauch" rutschen, um von dort aus wirksam zu werden. Das bedeutet in manipulativen Bereichen ein Absinken von Wissen ins Unbewusste, das sich in körperliche Reaktionen, der Stimme, der Hände usw. umsetzt. In Wissenschaftsformen, die starke Deutungsanteile haben, wie dies zum Beispiel in Kunst, Geschichte, Rhetorik und Politik der Fall ist, kann das ,,in den Bauch gerutschte" Wissen in jeweils situationsentsprechende Art herangeholt und neu gestaltet präsentiert werden. Das ,,alte" Wissen erneuert sich dadurch.

Auch mit der Einsicht verhält es sich ähnlich. Denn Einsicht gewinnt man nicht ein für alle Mal. Sie muss sich immer wieder neu konstituieren. Das ist eine der Konsequenzen, die aus dem Boom der Information und der Pluralisierung der Werte und damit der Differenzierung des Denkens sich ergibt. Die "Wissensgesellschaft", so ablenkend in oberflächliche Alleswisserei sie sich auch auszuwirken vermag - Halbwissen wäre demgegenüber noch vorzuziehen -, hätte auch eine gute Seite. Sie könnte den Zeitgenossen einen neuen Anreiz und eine deutliche Herausforderung bieten, sich zu einer verstärkt individualisierten Selbstentdeckung aufzumachen. Der Hauptvorwurf, der von mehreren Seiten dem alten König Lear gemacht wurde, als er sich allerdings schon auf dem Weg zu seinem eigenen Verfall befand, war, dass er keinerlei Mühe darauf verwandt hätte, sich selber kennen zu lernen.

In der Tat ist ja das Selbst der zwar zunächstliegende, aber auch der für den Menschen am schwierigsten zu entdeckende Kontinent. Für diese schwierige und teils erschreckende ,,Reise zu sich selbst" sind ganz andere Wissenformen nötig als diejenigen, die technologische Innovation produzieren und implementieren. Das, was man als ,,Erlösungswissen" oder Heilswissen bezeichnen mag und das sich in Religion und Kirche zu Dogma und Theologie verdichtet, bedarf ganz anderer Strukturen der Ausformung und Vermittlung des personenhaft gebundenen philosophischen Bildungswissen (Max Scheler). Letzteres entwickelt sich im intersubjektiven oft auch stark durch emotionale Beziehungen getragenen Austausch und im Streit der Meinungen. Sowohl das Heilswissen als auch das eben erwähnte Bildungswissen sind viel direkter auf das Selbst des Menschen beziehbar als das wissenschaftlich-technologische Wissen.

Die Diskussion über die Wissensgesellschaft wird es in Hinkunft vermeiden müssen, von einem eindimensionalen Wissenschaftsbegriff auszugehen. Auch die bloße Unterscheidung in Natur- und Geisteswissenschaften greift zu kurz. Wissen, seine Vermittlung und soziale Entstehung ist um vieles komplexer als die gegenwärtige Euphorie über Speicherung und Verfügbarkeit von Wissen durch homepages und das Internet insgesamt uns glauben machen will. Das Zauberwort ,,Zugriff" vereinseitigt die Sicht und überdeckt die relevanten Probleme der inneren Zugänglichkeit und der Fähigkeit zur Aneignung von Wissen aus der jeweiligen Lebenslage oder Lebensgeschichte von Menschen und Gruppen.

Gefährliches Internet Dramatisch wird es, wenn die Lebenszeit kürzer wird und die Gegenkräfte, die es blockieren, zum Beispiel sich mit sich selber auseinanderzusetzen, stärker werden. Da steigt die Gefahr, dass die eigenen Abwehrmechanismen gegen Wissensverwendung für Wandel zunehmen. Ablenkungen bieten sich ja reichlich an: immer mehr vom Selben zu tun, statt die späte Freiheit zu nutzen, um Neues zu wagen, oder aber gerade auf das abzufahren, was das Seniorentum schick erscheinen lässt. Das Internet ist da für die älteren Generationen selber, aber auch für ihre Berater und Animateure eine nicht unbeträchtliche Gefahr. Man irrt sich leicht, Informationsgewinn für Wissen, und dieses bereits auch für Einsicht zu halten. Gefährlich sei an der Technik, schrieb Elias Canetti vor über einem halben Jahrhundert, dass sie von dem ablenke, was der Mensch wirklich braucht.

Gewiss, die Gesellschaft der Zukunft verlangt neue Projekte und neue Ideen für das dritte und das vierte Alter. Und Hochbetagte, die zum letzteren zählen, sind laut europäischen Vergleichsstudien viel stärker einsamkeitsbedroht als die Jungsenioren. Die Infrastrukturen für bürgerschaftliches Engagement sollten deswegen auch in der Richtung auf das hohe Alter ausgebaut werden. Die gesellschaftlichen Initiativen von unten und von oben wären in gleicher Weise zu berücksichtigen. Dabei kann die Internet-Kompetenz eine Rolle spielen. Die Gesellschaft der Zukunft wird in der Tat eine sein, die sich selber entdeckt und die damit experimentiert, welche Wege zu begehen sind. Und je mehr persönliche Selbstentdeckung - oft auch durch Anstöße aus tiefgreifend verändernden Erlebnissen, die man wagt (Martin Buber: alles wirkliche Leben ist Begegnung) - desto besser lässt sich auch herausfinden, wo die Kontrollpunkte für die eigene Lebensführung liegen.

Derjenige Mensch ist im Alter besonders glücklich, der eine bestimmte Lebensführung für sich selber auswählen und verwirklichen kann. Die Psychologie nennt dies den "locus of control" und meint damit den Platz in sich, von dem aus man glaubt, die Selbststeuerung hinsichtlich der eigenen Lebensführung vornehmen zu können. Das ist vielleicht noch wichtiger als die klinisch feststellbare Gesundheit beziehungsweise deren kleinere bis mittlere Beeinträchtigungen.

Es gibt Menschen, die an einer Reihe von Beschwerden leiden und sich mit diesen Leiden abplagen, aber trotzdem subjektiv das Gefühl haben, sich selbst steuern zu können. Andererseits gibt es solche, die relativ gesund sind, aber aus irgendeinem Grund den "locus of control", den Punkt, sich selbst zu steuern, verloren haben und sich nicht mehr bemühen, ihn wiederzugewinnen. Sie haben den Eindruck, gelebt zu werden statt zu leben.

Soll nicht die Demokratie eingeschnürt werden, verlangt die Informations- und Wissensgesellschaft verstärkte personale Zuwendungen, nicht nur als Kompensation für technologische Informatik sondern als "Erweiterungsmöglichkeiten nach innen".

"Szene" für die Alten Eine Gesellschaft der Zukunft wird einen Mix von Selbstinitiativen und Kontrolle dieser Selbstinitiativen durch sich selbst brauchen. Vielleicht wird es in zehn bis 15 Jahren so etwas wie Altersszenen geben, so wie es heute die Jugendszenen gibt. Denn auch die Jugendszenen haben weitgehend die Jugendorganisationen abgelöst oder ergänzt. Es ist Vorsicht geboten für alle diejenigen, die in den Vereinen eine mühsame Angebotsarbeit leisten. Sie dürfen nicht übersehen, dass sich Szenen mit den verschiedensten Bildungshintergründen, Wissenswünschen, politischen Anliegen und Informationsbedürfnissen bilden und noch stärker bilden werden. Und sie werden computergestützt und vernetzt sein. Es ist wichtig, Projekte, die in den Szenen entstehen, zu beobachten und zu bewerten. Dafür wird die Verwaltung und werden die Gemeinden, wollen sie lebendig bleiben, Sorge tragen müssen. Auch das sind Konsequenzen des Info-Booms.

Entscheidend ist, ob sich die Menschen, bei allem Anzapfen und Anhäufen von Information, was leicht Selbstzweck werden kann, im Extremfall auch Flucht vor Beziehung und Liebe, vor Muße und Nachdenklichkeit, immer wieder die Frage stellen, die Friedrich Nietzsche sich stellte: "Was tue ich denn da, was ich da tue?" Die Alten müssten Meinungsführer einer solchen Selbstbefragung in der "Wissensgesellschaft" werden.

Der Autor ist em. Professor für Soziologie an der Universität Wien.

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