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Bei den "Tagen der Utopie" im April dieses Jahres im Vorarlberger Bildungshaus Arbogast präsentierten Denker aus den verschiedensten Bereichen ihre Entwürfe für eine gute Zukunft. Der gemeinsame Nenner: die Tendenz zur Dezentralisierung (S. 21). Ein alternativer Weg aus der Wirtschaftskrise könnte ein neues Währungssystem sein, auf globaler sowie auf regionaler Ebene (S. 22). In Zukunft wird Energie zwar teurer, aber das Leben umso besser (S. 23). Auch die Organisationsform der Arbeit muss überdacht werden (S. 24). Redaktion: Veronika Thiel Die Fähigkeit utopisch zu denken, von einer besseren Welt zu träumen, ist so etwas wie der aufrechte Gang unseres Geistes.

Wir haben den Glauben an geschlossene Gesellschaftsentwürfe verloren. Als Augenzeugen der Implosion des letzten großen Systems lernten wir die Unmöglichkeit einer Idee für alle und alles. Und in dem Maße, wie sich die Geschichte in eine Vielzahl heterogener Geschichten aufgespaltet hat, ist heute eine universelle Perspektive unmöglich geworden. Utopien, tiefgreifende Verbesserungsvorschläge in Gestalt umfassender Zukunftsbilder, die bestehende Systeme, abseits von Machbarkeitsstudien und mittelfristigen Realisierungschancen, radikal in Frage stellen, galten und gelten als intellektuell naiv. Als hätte der "utopisch Denkende" die Lektion des Zusammenbruchs des real existierenden Kommunismus nicht kapiert, als weigerte er sich, die Komplexität unserer Gesellschaft anzuerkennen.

Naive Utopisten

Gleichzeitig hat sich unsere eigene Lebenswelt in den letzten Jahrzehnten zunehmend fragmentiert, aufgefächert in immer mehr parallele Realitäten der eigenen Existenz. Identität auf Zuruf definiert unsere Zuordnung: Wir sind Volvo-Fahrer, Globalisierungskritikerin und Fan von Manchester United, greenpeacespendender Operngänger, Vegetarierin, Katholik, heterosexuelle Hobbyköchin und seit dem französischen Referendum Europäer etc.

Diese Erfahrungen scheinen im gesellschaftspolitischen Diskurs eine Art Schock hinterlassen zu haben, ein Schamgefühl für gesellschaftlich weiterreichende Konzeptionen. Resignatives Fazit der letzten Jahrzehnte: Die bessere Verwaltung des Bestehenden ersetzt die politische Vision. Überraschenderweise ist aber gerade diese Dezentralisierungserfahrung der eigenen Identität beziehungsweise Ideologie ein intellektuell unverdächtiger, kraftvoller Hintergrund für neue gesellschaftspolitische Entwürfe.

Energie im Kleinen

Wenn man den Referentinnen und Referenten der "Tage der Utopie 2005" zuhört, vernimmt man eine Grundthese , die sich durch alle ihre Arbeiten zieht. Eine Gemeinsamkeit, die vielleicht signifikant ist für eine Tendenz in der Einschätzung zukünftiger Entwicklungen und ein Hinweis auf ähnliche Mentalitäten bei den Hoffnungen ihrer Verfasser, wohin diese idealerweise münden werden. Diese Überschneidungen sind für uns als Gastgeber des Symposiums umso interessanter, als dass wir unsere Vortragenden weder aus einer spezifischen Schule akquirieren, noch sie inhaltlich aufeinander abstimmen. Wiewohl der Wissensstand der Experten über Arbeiten in verwandten Bereichen enorm ist, was sicher auch zu Angleichungstendenzen im Denken führt. Natürlich skizzierte sich während unserer Auseinandersetzung mit dem Thema in den letzten Jahren eine Art Anforderungsprofil an utopische Entwürfe heraus: Die Ausgewogenheit sozialer, ökologischer und ökonomischer Bedürfnisse, die Fähigkeit, das eigene Zukunftsbild als vorläufig und anpassungsbedürftig zu erkennen und eine reflektierte Distanz zum niemals heiligen Zweck.

Trotzdem hätte beispielsweise die Negative Utopie des "Untiers" von Ulrich Horstmann, der am Höhepunkt des Kalten Krieges eine Philosophie der ultimativen, die Menschheit von allem Leid endlich befreienden Auslöschung formulierte, seinen Platz. Einerseits, weil dies quasi eine zeitlose Position wäre (abgesehen davon, dass Horstmann etwa im Gegensatz zu Schopenhauer mit der Atombombe ausgestattet philosophierte), andererseits, um zu zeigen, wie sehr sich die Stimmung in der Auseinandersetzung mit Zukunft in den letzten Jahren gewandelt hat. Ein Klima, das allerdings für uns gar nicht so sehr über die Öffentlichkeit der Massenmedien wahrnehmbar ist, als durch eine Unzahl halbprivater, aber hochprofessioneller Initiativen, außergewöhnlicher Projekte meist kleiner Unternehmen und neuer Vereine, Netzwerke, über die man von Bekannten und übers Internet erfährt. Die Verlagerung der "utopischen Energie" in die kleine, sich neu und aus einem konkreten Bedürfnis heraus sich selbst konstituierenden Einheit ist allerdings typisch. Typisch für eine Haltung von exzellent ausgebildeten Menschen, die, bevor sie ein Ansuchen an die öffentliche Hand stellen, auch bevor sie sich in einer politischen Partei engagieren oder eine große Institution zu bewegen versuchen, selbst "unternehmerisch" tätig werden. In diesem Geist agieren auch die meisten Referentinnen und Referenten der Tagung bzw. eine Reihe neuer »Utopisten«, in dem sie weniger auf uno, eu oder auf das Parteiensystem setzen, sondern auf Eigeninitiativen der Bürger selbst. Ihre Konzepte münden allerdings niemals in liberale Rückzugstendenzen des Gemeinwesens, sondern in neue Formen der kollektiven Solidarität mit der Not des Einzelnen.

Kollektive Solidarität

In fast allen Entwürfen ist die Abkehr vom Zentralen jene Bewegung, die die gesellschaftspolitischen Parameter neu ordnet. "Flotte statt Tanker" bedeutet: Werkstätten statt Fabriken, elektronische Archive statt Bibliotheken, Biomasseanlagen statt Atomkraftwerke etc.

Ein erster kritischer Reflex wäre, diese Konzepte als romantisierende Reaktion auf die Globalisierung zu werten, als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Wirtschaft mit einem menschlichen Antlitz. Diese Motivation kann durchaus ein Impuls zu verschiedenen Ideen gewesen sein. Die Argumentation, warum zentralistische Organisationsformen abgelöst werden, ist allerdings vielschichtig:

* Die Dezentralisierung des Wissens: Durch die Entwicklung der Informationstechnologie ist die Speicherung von Wissen nicht mehr an urbane Zentren beziehungsweise physische Orte wie Bibliotheken gebunden. Der Zugang zu Information ist extrem beschleunigt, billig, sie ist beliebig kopier- und verteilbar. Netzwerke beginnen, langsame und oft freudlose hierarchische Organisationsformen abzulösen.

* Die Dezentralisierung der Energieversorgung: Aufgrund der Endlichkeit der fossil-atomaren Ressourcen (auch die Uranvorkommen sind absehbar beschränkt) kommt es zur breiten Nutzung einer Vielzahl erneuerbarer Energieträger. Statt der blutig umkämpften Ölquelle in einem feudal regierten Land gibt es einen Mix aus hoher Energieeffizienz und vielen kleinen lokalen Energieversorgern, privat organisiert, nachbarschaftlich oder über das Gemeinwesen.

* Die Dezentralisierung der Technologie: Durch die steigende Miniaturisierung und Informatisierung sind Produktionsmittel wie Computer, Industrieroboter, computergesteuerte Maschinen, die früher nur dem so genannten Kapital zur Verfügung standen, nun breit, ja fast allgemein zugänglich. Das schlüssigste Beispiel dafür ist der quasi unfinanzierbare Großrechner im Vergleich zum heute jedermann zugänglichen pc und was dieser alles kann. Dies führt zu einem Comeback der Werkstatt, einer technologisch hoch entwickelten, international vernetzten lokalen Ökonomie mit kleinen Betrieben und einer Abkehr von zentral organisierten Industriekomplexen.

* Dezentrale Währungssysteme: Das Prinzip des aktuellen Geldkonzeptes ist Verknappung, Mangel. Die meisten Menschen in Europa werden ihre Fähigkeiten zunehmend für eigene Unternehmungen einsetzen. Dies benötigt - ergänzend zu überregionalen und globalen Währungen - neue, lokale Systeme, die kooperations- und nicht konkurrenzfördernd wirken. Die der Fülle an Zeit und Talent entsprechen und nicht dem Mangel an Lohnarbeit.

Neue Art des Wohlstandes

Drei Dinge fallen sofort auf: Von Komfortverzicht ist nicht die Rede, eher von einer anderen Art des Wohlstandes. Etwa jener, die einem maßgeschneiderten, lange tragbaren Mantel von bestem Tuch und Design entspricht im Gegensatz zum jährlich wechselnden, günstigen, von Kindern hergestellten Konfektionsteil aus Asien.

Diese neue Generation von Utopisten ist ausgesprochen technikfreundlich. Bei jedem von ihnen steht ein Roboter im zukünftigen Keller, der ihre Texte korrigiert, illustriert, druckt, bindet, verpackt und zur Post fährt. Vor 20 Jahren jedenfalls war die Technik aus Sicht vieler Intellektueller die Inkarnation des Bösen, vielleicht auch, weil sie damals noch so wenig alltäglich, nicht leistbar und unverständlich war.

Und: ihre Zukunftsbilder sind Landschaftsaquarelle, die Stadt kommt kaum vor, das Ideal sucht sich ein Dorf. Das ist auch historisch konsequent, die Sehnsucht des Visionärs konzentrierte sich oft auf quasi abgrenzbare, organisierbare Einheiten. Die Unüberschaubarkeit der Stadt, die Größe, die wiederum große technische Lösungen provoziert, eben auch ihre Funktion als Zentrum eignet sich wenig für den fragilen Entwurf der Alternative. Die Frage, ob hier nicht manchmal diesbezüglich an der niedrigsten Stelle über den Zaun gesprungen wird, ist insofern berechtigt, wenn man an die sozialen oder ökologischen Herausforderungen in den Großstädten denkt und an die vielfältigen urbanen Qualitäten.

Widerstand der Konzerne

Der Widerstand gegen diese Entwicklungen ist scheinbar groß. Am Beispiel der Energieversorgung ist die Auseinandersetzung schlüssig zu beschreiben: Zentral gesteuerte Technologien kumulieren Kapital in enormen Größenordnungen. Die Investitionen für Raffinerien, Pipelines, Kraftwerke, Stromnetze basieren auf langfristigen Finanzierungen. Ein Mix etwa aus kleinen Wasserkraftwerken, Biomasse- oder Fotovoltaikanlagen, konsequenten Effizienzsteigerungsprogrammen oder Passivhäusern, die bereits mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen, ist für diese Industrie eine wirtschaftliche Katastrophe. Die Forschung im Bereich der Atomfusion oder die vermeintliche Renaissance der Kernspaltung korrespondiert dagegen ideal, weil dies zentral gesteuerte, über die bestehende Infrastruktur verteilbare Energieformen sind.

Gleiches gilt für die Auseinandersetzung im Bereich High-Tech. Der Konzern Microsoft mit seinem gigantischen Forschungs-, Entwicklungs- und Marketingaufwand kämpft gegen die Open-Source-Haltung, repräsentiert durch Linux, ums Überleben. Dies - wie auch zum Beispiel die Öl- oder Atomlobby - mit enormem Kapital, Kompetenz und aktiver politischer Vertretung.

Sinn für die Möglichkeit

Aber wenn es denn dieses Match überhaupt gibt - ein treffenderes Bild ist vielleicht eher Wachstum, Verfall und parallele Ablöse durch das organisch platzgreifende Neue -, scheint es uns vollkommen offen zu sein. Die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Gerechtigkeit, ihre Fähigkeit, in Verbindung zu treten, zu kommunizieren und zu lernen ist mächtig. Dass zum Beispiel ganze Stadtverwaltungen wie etwa München auf das Betriebssystem Linux umsteigen, ist ein einziger, minimaler Hinweis in diese Richtung.

Der Mensch hat einen Sinn für die Möglichkeit. Die Fähigkeit utopisch zu denken, von einer besseren Welt zu träumen, ist so etwas wie der aufrechte Gang unseres Geistes, eine Fähigkeit, die uns zum Menschen macht. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr unterstützt den Realismus der Utopie aus naturwissenschaftlicher Perspektive: "Die Wirklichkeit ist im Grunde Potenzialität, sie hat zwar eine Tendenz, die Welt wird aber in jedem Augenblick neu erschaffen."

Die Autoren sind die Veranstalter der "Tage der Utopie".

buchtipp:

tage der utopie

Entwürfe für eine gute Zukunft

Hrsg. Von Hans-Joachim Gögl und Josef Kittinger. Hämmerle Verlag, Hohenems 2005. 190 Seiten, brosch., e 14,-

info: www.tagederutopie.org

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