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Das Management globaler Schildbürger

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Was noch vor einigen Jahrzehnten ebenso nachsichtig wie leichtfertig als angebliche Skepsis krankhaft pessimistischer Gemüter lächelnd abgetan wurde, ist jetzt Gewißheit: die Hand am ölhahn — von wem gesteuert? — kann Europa in die Knie zwingen. Aber falls es noch einmal gutgehen sollte — wofür niemand garantieren kann —, bleiben die Aussichten trüb. 1980 wird der EWG-Raum kaum ein Drittel seines ölbedarfs aus eigenen Quellen decken können. Das Gespenst einer totalen Energiekrise — für eine hochentwickelte und technisch kopflastige Gesellschaftsstruktur gleichbedeutend mit der Möglichkeit einert letalen Existenzkrise — hat Utopia verlassen und seinen Schatten drohend auf eine in ihrer unbeschwerten Sorglosigkeit und kurzsichtigen Selbstsicherheit unübertroffene Gesellschaft geworfen.

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Was noch vor einigen Jahrzehnten ebenso nachsichtig wie leichtfertig als angebliche Skepsis krankhaft pessimistischer Gemüter lächelnd abgetan wurde, ist jetzt Gewißheit: die Hand am ölhahn — von wem gesteuert? — kann Europa in die Knie zwingen. Aber falls es noch einmal gutgehen sollte — wofür niemand garantieren kann —, bleiben die Aussichten trüb. 1980 wird der EWG-Raum kaum ein Drittel seines ölbedarfs aus eigenen Quellen decken können. Das Gespenst einer totalen Energiekrise — für eine hochentwickelte und technisch kopflastige Gesellschaftsstruktur gleichbedeutend mit der Möglichkeit einert letalen Existenzkrise — hat Utopia verlassen und seinen Schatten drohend auf eine in ihrer unbeschwerten Sorglosigkeit und kurzsichtigen Selbstsicherheit unübertroffene Gesellschaft geworfen.

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Die Kapazität amerikanischer Raffinerien ist überfordert, auf jenem Kontinent, dem der Moloch des motorisierten Individualverkehrs seine Existenz verdankt, tritt seit längerer Zeit konvulsiv Treibstoffverknappung auf. Wer aber spricht schon von den wirklich lebenswichtigen Sektoren, die uneingesehen und abseits des wochenendlichen Herumgebrauses auf den Landstraßen und Autobahnen liegen? Die bedrohte Mobilität der Flotten und Armeen und ihre politische Konsequenz, die sozialpolitischen Folgen eventuell stillstehender Industrien und erkalteter Heizungen in jenen urbanisti-schen Strukturen des Westens, die von Ballungen der Wohnsilos gekennzeichnet sind?

Das, was noch gestern überheblich als Kassandraruf unbeachtet blieb, ist heute Realität und bestätigt den vorausschauenden „common sense“, der noch jenen wenigen eignet, die sich geschichtliches Denken in größeren und daher wesentlichen Zusammenhängen erhalten haben. Während, wie üblich, das Ahnen um das Unwesentliche, im gegebenen Falle um die Gefahr für das eigene Benzinglücksgefühl, dem leichtgläubigen Zeitgenossen-- der satten--Prosperität“ Schreckensschauer über den Rücken jagt, bleibt die Bestandaufnahme in den außerhalb der unmittelbar empfundenen Widrigkeiten liegenden Bereichen unvollständig und die wichtigste Frage unausgesprochen: wie konnte es so weit kommen?

Als es am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts galt, die noch die Weltmeere beherrschende englische Flotte — den Anforderungen maritimen Fortschritts gemäß — von Kohle auf öl umzustellen, sicherte sich das Empire erst die Herrschaft über die damaligen Ölquellen des Mittleren Ostens. Erst dann gab die Admiralität das grüne Licht für Umbauten, erst dann kamen aus White-hall entsprechende Anweisungen an die Werften. Das alles geschah ohne Sonderstab und Studienkommission, Rechenzentrum und computerisierte Forschungsanstalt, Zukunftsforscher, Politologen und Soziologen. Auf Einwände, das Zeitalter der Kanonenbootpolitik sei vorbei, ist hier nicht einzugehen — seit sich in Amerika Stimmen erheben, die nach militärischer Besetzung der ölfelder rufen, obwohl man vor 17 Jahren Frankreich und England in den Rücken fiel, als sie (viel zu spät) versuchten, mit der Landung in Suez zu Konzepten zurückzufinden, die durch eine kindliche Euphorie der unmittelbaren Nachkriegszeit verlassen wurden. Auch in unserer Zeit setzen sich noch ganze Armeen in Bewegung — sei es auch nur um ein ideologisches Experiment in der Tschechoslowakei auszulöschen —, wenn bedroht erscheint, was eine weltfremde, ausschließlich egozentrisch ausgerichtete Wohlstandsgesellschaft nicht wahrnehmen will, nämlich: machtpolitische Interessen. Warum es so weit kommen konnte, daß ein auf dem Konsum aufgebautes System überraschend der Bedrohung durch das Versiegen seiner wichtigsten Energiequelle gegenübersteht, hat einige Gründe: die Unwandelbarkeit der großen Prinzipien, die unsere Welt weiterhin beherrschen, obwohl man sie nicht wahrhaben will; die Unbelehrbarkeit der theoretisierenden Weltverbesserer; die Wandlung der strategischen Anwendung der Machtmittel seit den Zeiten Gladstones oder Winston Churchills, aber noch mehr die Abwertung des europäischen Staatsmannes zum Politiker. Die gegenwärtige Lage, in der es zu derartigen Überraschungen 'kommen kann, ist besonders dadurch gekennzeichnet, daß sich Abwägen und Analyse einer gegebenen Situation, Erfassung einer Gefahr und Abschätzen des Voraussehbaren aus der spirituellen Domäne in Bereiche und Kategorien verschoben hat, in denen als wissenschaftliche und realistische Einsicht verkleidete Anmaßung — die für alles ein Wort und von allem keine Ahnung hat — den Anspruch erhebt, unabänderliche Gesetze — die seit Menschengedenken das Leben auf dieser Welt prägen — mit Mitteln, über deren Gültigkeit erst spätere Generationen urteilen werden können, überwunden zu haben. Das unverantwortliche Experiment hat die Erfahrung verdrängt und die unbeschwerte Zuversicht „von Kindern, die Fähnlein schwingend in Gewässer, in denen Haifische schwimmen, baden gehen“, die zusammenfassende Verantwortung ersetzt. Doch ebenso wie Geist durch Biochemie und Liebe durch Hormonhaushalt nicht zu kontrollieren sind, so entzieht sich grundlegende politische, wirtschaftliche und soziale Problematik der Bewältigung „durch die Gehirne aus Metall“ und der Lösung durch bloße Anhäufung lebloser Daten. Auch wer alle Worte kennt, kann noch kein Gedicht schreiben.

Obwohl sich im Bereich der Politik noch einige wenige gegen jene Doktrinen und Ideologien wehren, die trotz sichtbarem Versagen und tragischen Fehlschlägen immer noch behaupten, eine exakte Wissenschaft zu sein, so hat man tatsächlich die grundsätzlichen Positionen schon längst und kampflos aufgegeben.-Der Rollentausch wurde unauffällig vollzogen: was Mittel sein sollte, hat sich selbständig gemacht; Experten für Teilbereiche — die nur in beratender Funktion gehört werden sollten, wenn über das Ganze gesonnen wird — sind allerhöchste Instanz geworden. Daher wurde auch zwei Jahrzehnte lang die latente und voraussehbare Krise in der Energieversorgung nicht in Kategorien ihrer Konsequenzen für das Schicksal von Staaten, Völkern, Kontinenten und Lebensformen behandelt, sondern ausschließlich auf der minderen Ebene der eventuell anfallenden Widerwärtigkeiten für die Lebensqualität des einzelnen und mit dem üblichen Seitenblick auf die von einem ephemeren Wohlbefinden abhängende Wählerstimme, sowie in den leichtverständlichen Begriffen der Preise und Zahlen.

Programmierer, die die Computer füttern, scheinen nicht die Botschaft entschlüsselt zu haben, die, am März vom Generalsekretär der OPEC, Abderrahman Khene, in Wien vorgetragen, unmißverständlich zum Ausdruck brachte, daß die natürlichen Vorräte an Energie dazu bestimmt seien, „eine historische Rolle in einem Zusammenhang zu spielen, der nicht nur die hochindustrialisierten Länder, sondern auch China und die Sowjetunion betrifft“.

Aber trotz allen Sturmwarnungen bevorzugt die Berichterstattung, die — um Bundeskanzler Bruno Kreisky zu bemühen — allzuoft zwischen Preisausschreiben dahinvegetiert, immer noch das Gespräch über Wohlstandskutschen, obwohl doch gerade in Wien von berufener Seite klar gesagt wurde, daß das öl, lange bevor es gänzlich versiegt, nicht nur von den Zapfsäulen der Tankstellen aus gesehen werden müßte.

Die Frage drängt sich auf, ob der den Westen beherrschende, rührend einfältige Glaube an eine konfliktlose Zukunft ausschließlich die Folge einer Verdrängung der drückenden Probleme, oder aber einer anscheinend totalen Inkompetenz jener ist, die auch in den aussichtslosesten Lagen die Fähigkeit nicht verlieren, das Wesentliche zu ignorieren und im Bösen das Gute zu sehen. Man muß nicht ausschließlich in militärischen Begriffen denkein, um zu erkennen, daß die Möglichkeit einer Energiekrise fahrlässig und leichtfertig behandelt wurde.

Fragen des Überlebens blieben unberücksichtigt, wenn es darum ging, den Verbrauch weiter zu steigern, neuen Bedarf zu schaffen und das uneingeschränkte Glücksgefühl des Plastikzeitalters auf der globalen ebenso wie auf der lokalen Ebene zu mehren. Es gibt kaum einen Unterschied zwischen den politisch-wissenschaftlichen Uhrmachereien in den Regionen zwischen Bonn und Washington oder dem Boden- und Neusiedlersee. Auch hierzulande wird jede Dampflokomotive, die man aus dem Verkehr zieht und über kurz oder lang verkommen oder verschrotten läßt, bejubelt, als ob es darauf ankäme, wieder einen großartigen Sieg über den Rückschritt zu feiern — obwohl Rauch und Dampf entlang der Bahnstränge wahrscheinlich harmloses Kinderspiel sind im Vergleich mit der Verpestung der Luft in und über den megaloma-nen Konzentrationen der Industrien. Als ob das Seelenheil davon abhinge, stellt man weiter ungestört auf Diesel um, denn Kohle macht schmutzige Hände und öl, so müßte man meinen, wird ewig fließen. Einst, als Staatsmänner noch solche waren und, entsprechend einer ganzen Schule des Denkens, nicht nur das Nächstliegende, Sichtbare und Greifbare in ihre Erwägungen einbezogen, bevor sie sich mit kritikloser Begeisterung auf Neuerungen, deren Folgen erst verantwortet sein wollen, stürzten, galt es, alle Fragen des Eisenbahnwesens in allerengster Zusammenarbeit mit den Außenpoli-tikern und Militärs zu lösen. Denn die heute vergessene Erfahrung lehrte, daß Kommunikationen auch dann funktionieren müssen, wenn der Himmel nicht heiter und die Versorgung mit Rohstoffen beeinträchtigt ist.

Doch heute die Frage nach dem Vorhandensein notwendiger Reserven wie Dampflokomotiven, Heizhäusern und Kohlevorräten zu stellen, für den Fall, daß eines Tages die Pipelines versiegen, die Oberleitungen ausfallen und die Kohlenzüge aus dem nördlichen Ausland zu rollen aufhören, heißt Verlegenheit oder nachsichtiges Lächeln auslösen.

Der zeitgemäßen, aber beinahe ausschließlich kosmetischen Gestaltung dieser Welt entsprechend, verkommen inzwischen weitere Dampflokomotiven auf grasüberwucherten Abstellgleisen oder werden zu technisch-historischen Denkmälern oder Kinderspielzeug degradiert. Auch in Ländern, die zwischen den großen Blöcken liegen und stündlich einem unerwarteten politischen oder wirtschaftlichen Druck ausgesetzt werden können, trübt die bequeme Überzeugung, die idyllischen Zeiten würden andauern und das Lamm friedlich neben dem Löwen liegen, den Blick.

Nur schnell das letzte Kohlenbergwerk schließen und die Arbeiter umsiedeln und umschulen! Auch wenn es schon seit längerer Zeit möglich ist, Schiffe, Industrieanlagen und Ausrüstungen einzumotten und für den Abruf bereitzuhalten. Daß es einmal lebensnotwendig werden könnte, die Dampflokomotiven aus den Schuppen zu holen und die Kohlenförderung neu anzukurbeln, paßt nicht so richtig in das Bild einer Welt, die schon lange zu einem großen Lunapark für alle umfunktioniert worden ist. Man sage nicht, man könne — wenn nötig — improvisieren. Die neueste Geschichte kennt einige Länder, die improvisierend untergegangen sind und der Glaube, im Bedarfsfall mit allem fertig zu werden, ist nur eine der vielen Folgen einer Lebensart, die tatsächliche und greifbare Bewährungen durch spielerische und dramatisierte Pseudoherausforderungen ersetzt hat. Wenn — wie zu lesen — Freunde der alten Eisenbahn den historischen Zug auf eine besonders romantische Strecke schicken, dann müssen die freiwilligen Feuerwehren ausrücken und das Dampfroß mit Wasser versorgen, denn die Anlagen zur Wasserspeisung hat man schon längst im Zuge einer dubiosen Kosmetik der Bahnhofsanlagen beseitigt.

Weitere Beispiele gefällig? Da ging doch vor nicht allzulanger Zeit ein Bild durch die Tagespresse, auf dem man sehen konnte, wie die 41 Meter hohe Kohlenmisch- und Mahlanlage des Gaswerkes Leopoldau mit hundert Kilogramm Sprengstoff unter Entwicklung pathetischer Staubwolken fernsehgerecht umgelegt wurde. „Damit ist das Kohlezeitalter der Wiener Gaswerke endgültig beendet“, hieß es im zükumftsbejahenden Jargon. Hinab in das Nichts mit einem weiteren Symbol der finsteren Vergangenheit, da man doch die Sinnlosigkeit solcher Anlagen förmlich greifen kann, wenn das ausländische Erdgas durch die Leitungen rauscht!

Das Wissen darum, daß jede Leitung zwei Enden und irgendwo einen Hahn zum Abdrehen haben muß, scheint ebenso verlorengegangen zu sein, wie die Fähigkeit, einzukalkulieren, wie leicht die Hand am Abstellhahn politischen Druck ausüben kann und daß es immer Zeiten gab und geben wird, in denen man für sein Geld nicht das zu kaufen bekommt, was frommt. Das wäre dann auch ungefähr der Zeitpunkt, um der Leopoldauer Kohlenmisch-und Mahlanlage, die man doch so stolz vernichtete, ebenso nachzuweinen, wie den verschrotteten Dampflokomotiven, den aufgelassenen Nebenbahnen, den abgetragenen Bahnhöfen, verkommenen Bergwerken, aufgelassenen Fabriken, und auch dem Leopoldauer Gas und Koks, falls die öl- und Erdgasheizungen in den Wohnblocks erkaltet dastehen sollten, weil es eben einmal kein ausländisches öl, Gas, Koks und Strom geben muß.

Der Gang durch die Galerie globaler Schildbürgerstreiche kann beliebig lang fortgesetzt werden: das öl als bedrohte und versiegende Energiequelle und die Kolonnen überschwerer Lastzüge auf den überforderten europäischen Autobahnen und Straßen, die verstopften Flaschenhälse der Grenzübergänge, die Tankzüge mit ihrer brisanten Last, die bei Unfällen das Grundwasser verseucht, eine Ortschaft gründlicher verwüsten kann als ein mittlerer Bombenangriff und — gleich daneben — die defizitären Bahnen, die den Transport grober Güter zu ihrem und anderer Vorteil übernehmen könnten. Man sage nicht, es gehe um die letzte Entfernung vom Güterbahnhof zum Verteiler. Die Zeitverluste, von denen die Seligkeit des Konsumenten abzuhängen scheint, müßten doch zu überwinden sein.

In der Welt scheint sich eine Peripetie anzubahnen: noch nie war eine Zeit so stolz auf ihre Leistungen und noch nie war eine Systemstruktur gegen Eingriffe höherer Gewalt und die selbstzerstörende Automatik der eigenen Entwicklung so wehrlos, verwundbar und unabgeschiimt. Doch die fehlenden Absicherungen, Sicherheitsventile und Kontrollsysteme gehen nicht auf das Konto der Techniker, denn die tun, was von ihnen verlangt wird. Es gibt keinen Zweifel: die Voraussetzungen für einen im Augenblick der Belastung unabwendbaren Zusammenbruch dieser verfeinerten, überkomplizierten und ausschließlich für Schönwetterbetrieb aufgebauten Maschinerie wurden im Bereich des Geistes gelegt. Die unsichtbare und doch tödliche Bedrohung dieses in Technicolor gehaltenen Spielplatzes der sozial • auswattierten, geschäumten und auffrisierten westlichen Scheinwelt mit Wasserspülung, Pille und verdrängtem Todesbewußtsein kann nur durch eine Rückkehr zu Haltungen abgewendet werden, die man — besonders in den deutschsprechenden Ländern Europas — nach 1945 als angeblich schwachsinnige Lesebuchweisheiten verdammte. Einst hieß es, das Leben sei Pflicht, Los und Aufgabe, und keinesfalls rechenschaftsloses Streben nach billiger Unterhaltung, Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit. Auch Rechenschaft gegenüber der Zukunft und nicht ein ephemeres carpe diem. Damals vergaß man zu sagen, daß zwar politischer Mißbrauch von Bescheidenheit, Opferwillen, Einsatz, Tapferkeit und Würde, doch nicht die Tugenden als solche verwerflich seien. Solange die moralische Basis nicht wiederhergestellt sein wird, gibt es keine Hoffnung. Und auch keinen heilen Ansatz für die Arbeit der Experten.

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