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„GESTATTEN, LLOYD 600, 1,7 PROMILLE, BLECHSCHADEN.” — „Sehr angenehm, Jaguar, vier Liter, Sport, 2,4 Promille, ein Toter.” So stellten sich zwei „Promilleo- näre” am Steuer vor, von denen einer gerade die Gefängniszelle betrat, in der der andere schon saß. Der „Witz” war im „Simplicissimus” zu lesen, hätte sich aber auch in Wirklichkeit ereignen können. Auto- unfall mit Todesfolge, eben ein Kavaliersdelikt. Setzt man einen Namen ein, wird der „Witz” zum Fall. Franz J., 23 Jahre alt, Hilfsarbeiter von Beruf, raste mit seinem Pkw in Wien auf den Gehsteig: ein Toter, ein Verletzter. Franz J. war betrunken. Er wurde verurteilt. Von den 100.000 Menschen, die jährlich auf der ganzen Welt ihr Leben auf der Straße verlieren, sind der größte Teil junge Menschen unter 30 Jahren. Täglich sterben 275 Menschen als Folge von Verkehrsunfällen. Dies hat ein englischer Arzt in einer von der WHO publizierten Broschüre in Genf festgestellt. Allein in Österreich ereigneten sich in der letzten Oktoberwoche 50 Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang. Bei insgesamt 1422 Unfällen wurde in 89 Fällen Trunkenheit des Lenkers festgestellt. Es gab 137 Fälle von Fahrerflucht.

IN BAYERN DISKUTIERTEN Juristen über die erschreckend hohe Zahl von Verkehrsunfällen. Sie gaben ihrer Tagung den Leitsatz „Der moderne Straßenverkehr zwischen Recht, Moral und Glauben”. Angesichts der enormen Zahl von Verkehrstoten in der Bundesrepublik (14.000 Tote im Jahre 1960), schlugen die Juristen vor, die Unfälle nicht nur nach objektiven Tatbeständen zu beurteilen, sondern sich eingehender mit der persönlichen Schuldfrage zu befassen. Das sei aber nicht leicht, meinten erfahrene Richter. Es überfordere die Gerichte. Die Mediziner, die auch anwesend waren, hoben den Finger: die hohe Geschwindigkeit der Autos überfordere den Menschen. Es entsteht daher ein Konflikt zwischen Technik und menschlichem Leistungsvermögen. Autofahren ist, so wurde postuliert, eine Charakterfrage und eine Frage des Könnens, der Erfahrung.

Wenn aber Autofahren eine moralische und eine pädagogische Frage ist, müsse es möglich sein, die Unfälle auf ein Minimum zu reduzieren. Doch: Autos sind Statussymbole geworden. So ein prominenter Soziologe. Das Auto entwickelte sich aus primitiven Anfängen zu einem Stadium, da ein paar bequeme Ledersessel, eingebaut in eine Masse Metall, die oft mehr als eine Tonne wiegt, innerhalb weniger Sekunden vom Stillstand auf eine Geschwindigkeit von rund 100 Kilometern je Stunde gebracht werden kann —, und zwar durch leichtes Berühren einiger Hebel. Dies spielt sich zum Teil auf Straßen ab, die einstens für den Pferdeverkehr geplant worden waren.

VOR 50 JAHREN WAR DER BESITZ eines Kraftwagens eine Ausnahme. Auch der Autofahrergruß war nicht Allgemeingut: das Tippen mit dem Finger gegen die Stirn. Heute ist der Kraftwagen ein Massenartikel wie Zahnbürste, Eisschrank und Transistorgerät. Sein Erwerb hängt aber noch immer vom Geldbeutel ab und vom Besitz eines Führerscheins. Darüber hinaus gilt aber der Wagen als das, was er schon im spätbürgerlichen Zeitalter gegolten hatte, als Signum des Erfolgreichen. „Was unterscheidet eigentlich noch die Menschen?” — „Die Automarke”, sagen die Kulturkritiker und grinsen böse. So unberechtigt ist die Antwort nicht. Dem Anschein nach weist das Menschenbild unserer Tage kaum noch Schattierungen auf. Das ist nicht so. Vor allem, da der Konsum zur Demonstration wird. Der im Prestigeaufwand gezeigte Verbrauchsstatus bestimmt weitgehend die gesellschaftliche Geltung. Man kauft etwas, das man nicht (unbedingt) braucht, mit dem Geld, das man nicht hat, um dem zu imponieren, den man nicht mag. Der Mercedes des Generaldirektors erweckt weniger Neid, als der Opel des Nachbarn. Neid als Mittel sozialen Kontaktes! Die Flucht in den äußeren Aufwand ist allenthalben zu sehen, die fragwürdige Losung: „Wer angibt, hat mehr vom Leben”, in aller Munde. In der Ständeordnung galt die Devise „Jedem das Seine, aber nicht jedem das gleiche”. Ein Über-dem-Stand-leben galt als ungehörig. Seit die ständische Ordnung zerstört ist, gilt das Geld als Maßstab. Geld adelt (es muß aber viel Geld sein), ersetzt die hierarchische Ordnung indes nur partiell.

DAS AUTO SCHAFFT EIN VÖLLIG NEUES Lebensgefühl. Es ist „das Vehikel der Freiheit” schlechthin. Das eigene Auto verleiht dem Menschen ein Maß individueller Freiheit wie kein anderes Verkehrsmittel: das Gefühl, an keinen Fahrplan gebunden zu sein, anhalten zu können, wo man will, den Weg nach Belieben ändern zu können. Der Kraftwagen und sein Siegeszug ist auch mit der Marktwirtschaft verbunden, mit freiem Wettbewerb, mit der westlichen Demokratie, deren größte Länder (USA, Frankreich, Bundesrepublik, England und Italien) gleichzeitig die größten Autohersteller haben. Der Kraftwagen hat den Menschen, aber auch die Welt gewandelt. Als Henry Ford seinen ersten billigen Wagen vom Band ließ, hätte er sagen sollen: Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr (die Mechaniker) könnt sagen, ihr seid dabei gewesen. Huxley erkannte die Umwälzung, die das Auto hervorrief und nannte dieses Säculum das des Rades.

DIE KUNST DES AUTOFAHRENS ist nur zum geringen Teil eine technisch-organisatorische Angelegenheit, im wesentlichen besteht sie in der Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen. Und hier liegt nun, wie die meisten Untersuchungen bewiesen, fast alles im argen. Hier beginnt das moralische und pädagogische Problem. Damals, als der Wagen noch die Ausnahme war, gab es gebundene Vorstellungen von Pflicht an der Allgemeinheit, von Verantwortung für das Gesetz und den Nächsten. Der Herrenfahrer war ä priori ein Gentleman und ein Chauffeur von Profession besaß zwar eine Würde anderer Art als sein Herr, war aber kaum weniger gentlemanlike. Auch noch heute verleiht der am Morgen bestiegene Wagen ein gehobenes Selbstgefühl.

Arbeiter und Angestellte haben das immer wieder erklärt. Auch wenn man zehn Minuten später in der Lohnbuchhaltung arbeitet oder an der Drehbank steht. Dennoch kreisen die Gedanken und Gespräche immer wieder um das eigene Auto, auf das aber der moderne, gehetzte Mensch aber auch seine Unlustgefühle abreagiert. Der Wagen gibt seinem Herrn auch Macht über viele Pferde. Macht korrumpiert jedoch. So schieben sich in allen Ländern der Erde zornige vor allem aber junge Männer in den pulsierenden Verkehr mit angelassenem Motor und abgeschaltetem Gewissen. Sie sagen: Was ist der und wer bin ich! Der Mensch am Steuer wird also „maßlos”, „rasend”, er handelt wie im Rausch, wobei das euphorische Gefühl mit einer fast „blasphe- misehen Respektlosigkeit” verbunden ist. Er nützt die ihm gebotene „göttergleiche freie Wahl von Raum und Zeit” unbedenklich aus. Das Glück der Erde scheint sich von den Pferderücken auf den Platz hinterm Steuer verlagert zu haben. Im Auto ist man vor allen Dingen anonym. Auch zu zweit ist man einsam, aber nicht allein, selbst inmitten der Großstadt. Das wissen junge Paare. Der neue Wagen erglänzt in Lack und Chrom, in deren Unversehrtheit der Ehrenkodex vieler heutiger liegt. Der schnelle Wagen verhöhnt geradezu die alten Leiden der Entfernung, und seine Scheiben reflektieren arrogant eine fliehende, ängstliche, verwischte Welt. Wer sieht da noch den alten Menschen, der hilflos am Rand der Asphaltbänder steht? Auch heute noch erklingt die Melodie des Totentanzes auf den Straßen — doch nicht mehr in feierlichen Gesängen, sondern in kreischenden Bremsen und zersplittertem Glas. Der Tod auf der Straße schlägt zu, wo er will. Er vernichtet Ferienpläne, Zukunfts- hoffnungen, Terminpläne, er löscht in Sekunden ganze Familien aus. Denn er faßt Schuldige, Unschuldige, Vorsichtige und Leichtsinnige, Gerechte und Ungerechte.

DAS AUTO WIRD ZUM SEELENARZT. Es kompensiert mühelos mangelnde innere Dynamik, es ersetzt fehlenden inneren Fortschritt augenblicklich durch desto größeren äußeren Fortschritt, es wirkt wie Siebenmeilenstiefel, verschafft Zutritt zu einer Art Zauberwelt — die groß; Faszination aller Primitiven. Die US-Autoindustrie bestreitet nicht, daß sie ihre Produkte nicht zuletzt deshalb mit so starken Motoren ausrüste, damit sich die anderwärts allzu verhaltene Männlichkeit der Lenker wenigstens am Volant bestätigen könne. Als Chrysler in Detroit merkte, daß viel mehr Männer in einem Autogeschäft erschienen, wenn in der Auslage ein schnittiges Kabriolett ausgestellt war, beauftragte die Firma den bekannten Konsumentenforscher Dichter, diesem Phänomen nachzuspüren. Dichter kam zu dem Ergebnis, das Kabriolett sei für den Amerikaner ein Symbol für Romantik, Abenteuer und Sex-Appeal. Die Limousine hingegen bedeute den Alltag, die Tretmühle, das Zuverlässige. Das Kabriolett sei sein heimlicher Wunsch. Das Problem: Wie die Vorteile der beiden Elemente in einem Wagen vereinen? Die Lösung, so rkündete Dichter, sei das Coupe. Es wurde nämlich in den USA in den letzten Jahren zum erfolgreichsten Autotyp. Zu scharf belichtet? Keineswegs. Auch im Abendland gibt es seltsame Dinge. In einer österreichischen Tageszeitung stand kürzlich folgendes Inserat in der Spalte Heiratswünsche: „… Mercedes, 34/178, sucht Anschluß. Bei Verstehen Ehe möglich”. Nicht das Ich wurde angeboten, sondern das Statussymbol. Daß etwa Eigenschaften, die dem Pferd zugeordnet waren, von den auf tiefenpsychologischer Basis arbeitenden Werbemanagern längst auf das chromblitzende Vehikel übertragen wurden, ist evident: „Auch Sie müssen ihn lieben, den rassigen, schnellen XYZ.” Oder: „Erfolgreiche Männer fahren den XYZ.” Die Psychologen wissen auf alles die richtige Antwort. Auch erklären sie, weshalb jemand fahrerflüchtdg wird. „Mit allgemeinen Ausdrücken wie Verantwortungslosigkeit oder Angst vor Strafe ist es allein nicht getan… Schuld ist vor allem der krasse Egoismus, den so viele Menschen unserer Tage zeigen. Der heutige Mensch trägt den Egoismus wie ein Schutzschild vor sich. Man will Unbequemlichkeiten vermeiden, man ist nicht bereit, auch nur ein kleines Opfer auf sich zu nehmen. Wir können die Fahrerflucht in gewisser Beziehung als Symptom einer seuchenartigen Zeiterscheinung an- sehen.”

DAS VERHÄLTNIS ZUM AUTO IST also deshalb noch nicht ganz normalisiert, weil die Gefahren, die Versuchungen dieser genialen Erfindung noch nicht völlig erkannt, geschweige denn, bewältigt sind. Wahres Autofahren beginnt ja erst dort, wo der Transport aufhört. Schließlich manifestiert sich im motorisierten Rowdytum auf unseren Straßen der Glaube an die Gewalt in erschreckender Weise. Alles in allem: Die Autos sind ja gar nicht wirklich Autos, und die Fahrer nicht wirklich Fahrer. Autos sind Symbole, und das Fahren ist, frech nach Clausewitz, eine Fortsetzung der menschlichen Existenz mit anderen Mitteln. Es sitzen eben immer nur Menschen hinterm Lenkrad. Und das macht die Lösung des Verkehrsproblems fast unmöglich.

In der Technik gibt es kein Ende, auch nicht beim Auto. Der Autofriedhof ist, wie es Sigismund von Radecki formulierte, kein Chaos: vor der Ordnung, wartend auf das Wort, sondern ein Ohaos nach der Ordnung, bereits taub für jeden Anruf. Das Ende, das vorläufige, ist die Hölle des Hochofens, in dem alles zu Feuerfluß und Schlacke zusammenschmilzt. Das fließt dann durch eine Rinne zu neuem Stahl. Daraus werden wieder neue Autos. Die kommen in den Autosalon. Sie werden gekauft und gefahren. Und landen wiederum auf dem Autofriedhof. Ein ewiger Kreislauf — unser aller Spielzeug.

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