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Das makabre Roulette

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Bereits vor dem Abklingen der großen Urlaubswellen, in verschiedenen Ländern durch unterschiedliche Ferienzeiten ausgelöst, steht fest, daß der Sommerreiseverkehr in Europa wieder eine steigende Zahl von Verkehrstoten gefordert hat. Doch schon in den vorangegangenen ersten fünf Monaten dieses Jahres starben angeblich 393 Menschen mehr auf den deutschen Straßen als im gleichen Zeitraum von 1974: Ein Anstieg von 7,8 Prozent. Die Bilanz der Verletzten erhöhte sich mit einer Zunahme von 6751 um 4,1 Prozent.

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Bereits vor dem Abklingen der großen Urlaubswellen, in verschiedenen Ländern durch unterschiedliche Ferienzeiten ausgelöst, steht fest, daß der Sommerreiseverkehr in Europa wieder eine steigende Zahl von Verkehrstoten gefordert hat. Doch schon in den vorangegangenen ersten fünf Monaten dieses Jahres starben angeblich 393 Menschen mehr auf den deutschen Straßen als im gleichen Zeitraum von 1974: Ein Anstieg von 7,8 Prozent. Die Bilanz der Verletzten erhöhte sich mit einer Zunahme von 6751 um 4,1 Prozent.

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Zu den Hauptursachen zählt nach Angaben aller örtlichen Polizeibehörden das zu schnelle Fahren, da der Schock Ölkrise überwunden zu sein scheint. Die psychische Motivation künstlich erzeugter Eile muß wohl in der ethischen Einstellung zum Auto liegen, die in Westeuropa geradezu steinzeitlich unterentwickelt ist. Das Fahrzeug wird zum

Sportgerät stilisiert, schnittiges Spurten gilt als Kriterium vitalen Lebensstils. Ein wirksames Umerziehen, weg vom unterschwelligen Naivglauben, der rasantes Fahren dynamischen, erfolgreichen Typen zuschreibt, dagegen Gelassenheit als „altväterlich“ geradezu diskriminiert, müßte freilich auch ein Verbot gewisser, wenngleich absatzbewährter Werbekonzeptionen einschließen. Angesichts der kritischen Wirtschaftslage der Autobranche, deren Lobby sich gegen alle nicht direkt aufschwungverheißenden Experimente erfolgreich wehrt, bleibt dies allerdings eine Utopie. Die Torheit ist eine krisenfeste Marktlücke. Und die Todesstatistiken des Straßenverkehrs steigen weiter.

Freiwillige Einsichten ohne exekutiven Zwang bleiben nach wie vor ein Problem unaufgeklärter Geisteshaltung: Nachdem am 15. März des Vorjahres in der Bundesrepublik die wegen der Ölkrise verhängten Tempo-Begrenzungen einer „empfohlenen“ Richtgeschwindigkeit von 130 km/h wichen, hielten sich die Autofahrer zunächst einige Monate an die Mahnung, verfielen aber dann in die alte Rasanz — und zwar auch dort, wo die Tempolimits laut Landesgesetzen mit Verkehrstafeln deutlich gekennzeichnet waren. Die rationale Erkenntnis nahm zusehends ab, die „sportliche“ Indolenz siegte. Befragungen von Unglücksopfern — wo noch möglich — ergaben, daß bei der überwiegenden Mehrzahl von Unfällen durch überhöhte Geschwindigkeit nicht wirkliche Zeitnot, sondern falsch verstandenes „Temperament“ und alarmierende Unkenntnis der Fahreigenschaften des eigenen Wagens den Fuß auf das Gaspedal hatten treten lassen. Und wenngleich die makabre Rekordziffer des Jahres 1973 von 16.300 Toten im Straßenverkehr augenblicklich noch nicht wieder erreicht ist, könnte sich doch am Ende dieses Jahres die inzwischen veröffentlichte Hochrechnung des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs bewahrheiten, die für 1975 sogar 17.000 Verkehrstote voraussagt. Sollte die düstere Prophezeiung des ADAC zutreffen, läge die Schreckensbilanz heuer um rund 2400 über den 14.601 Unfalltoten von 1974.

Besonders auf den bundesdeutschen Autobahnen, auf denen heute teilweise Richtgeschwindigkeiten von 130 km/h, respektive abgestufte Begrenzungen gelten, übertreten nach Radarmessungen zunehmend mehr Fahrer die gebotenen oder empfohlenen Tempolimits. Sie treten wieder „sportlicher“ auf die Tube, überholen auch bei Regen, Nebel oder durch Baustellen bedingtem Gegenverkehr aggressiver und leichtsinniger, sind in Kolonnen ungeduldiger geworden. Am meisten gegenüber den auf Steigungen oft in Schwärmen auftretenden, langsam dahinkriechenden in- und ausländischen Fernlastern. Die schweren Brummer hemmen freilich auch den Verkehrsfluß mit am stärksten, denn die bundesdeutschen Autobahnen bilden mehr als alle anderen in Europa eine Drehscheibe für den internationalen Transport.

Der heiße Konkurrenzkampf im europäischen Fuhrgeschäft verleitet die nach Prämien jagenden Lkw-Lenker dazu, ohne Rücksicht auf ihren Ermüdungsgrad geradezu im Akkord zu fahren. Das plötzliche und tödlich wirkende Einnicken am Steuer eines Schwerfahrzeuges ist das Ergebnis dieses mörderischen Systems. Es verstößt zwar gegen deutsche und europäische Gesetze, denn kein Lkw-Chauffeur darf im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft länger als acht Stunden pro Tag fahren, nicht weiter als 450 Kilometer und nicht schneller als 80 Stundenkilometer. Aber auf den von jährlich drei Millionen ausländischen und 1,5 Millionen deutschen Lastriesen überfluteten Autobahnen der Bundesrepublik, liegt das Risiko, in einer Lkw-Kolonne geschnappt zu werden, statistisch bei etwa eins zu zehntausend.

Von den eingereisten Schwertransportern werden in täglicher Routine durchschnittlich 70 bis 80 Fahrzeuge überprüft. Die Wachleute kontrollieren Führerschein und Wagenpapiere. Doch in Sachen Verkehrssicherheit lassen sie die Fahrer meist nur Nummernschilder reinigen. Schon Beleuchtungsprüfungen sind die Ausnahme. Wiegen läßt man aus tarifrechtlichen Gründen, und nicht wegen der Sicherheit. Nur wenn Mängel nicht zu übersehen sind, legt man das Fahrzeug bis zur Schadensbehebung still. Einige hundert andere Laster fahren unterdessen ungeprüft vorbei. Mit einer wirksamen technischen Kontrolle sind die Beamten glatt überfordert. Leben hat Nachrang.

Traurige Bekanntheit für das makabre Roulette mit der eigenen körperlichen Leistungsgrenze, gefolgt von Ubermüdungssymptomen als häufige Ursache schrecklicher Lkw-Unfälle, haben in der Bundesrepublik besonders Holländer, aber auch Österreicher erworben. Die Gefahr wird zunehmend deutlicher. Im Bereich der bayerischen Autobahn-polizei Rosenheim beispielsweise gab es im letzten Jahr 157 Lkw-Unfälle. Schuld waren 9 Deutsche und 148 Ausländer. Eine bundesweite Statistik soll erst 1976 vorliegen.

Die Verkehrsrisiken ließen sich zwar durch technische Grenzkontrollen verringern, doch solche gibt es in der Bundesrepublik mit ihren föderativen Länderkompetenzen bisher nur in Bayern. Dort registriert die landeseigene Grenzpolizei, freilich nur stichprobenartig und deshalb auch hier noch mit zu wenig Effizienz, pro Jahr an etwa 10.000 ausländischen Lkw's Sicherheitsmängel. Ein Drittel dieser Fahrzeuge läßt man wegen zu großer Mankos erst gar nicht ins Land. Die anderen müssen vor der Einreise in Ordnung gebracht werden. An den außerbayerischen Grenzübergängen indes werden bei der Einreise eines Fernriesen von den Zollstationen lediglich Fahrausweis, Transport-und Zolldokumente bis ins letzte Detail geprüft — aber niemand kümmert sich darum, ob der Chauffeur nach stundenlangem, monotonem Trott schon halb im Dämmerzustand, oder das schwere Lastschiff verkehrstauglich ist. Für Fahrsicherheit und Überlebenschancen scheint man sich nicht zu interessieren.

Zu einer wirksamen Waffe gegen den todbringenden Schlaf im Fahrerhäuschen könnte neben einem heilsamen Etwachen der Staatskanzleien der Länder freilich auch der sogenannte Europa-Fahrtenschreiber werden. Dieser Apparat registriert automatisch alle Verstöße gegen vorgeschriebene Pausen und Tempoüberschreitungen. Die Nichtbeachtung von Regelungen hat je nach Schweregrad Verwarnungsgelder oder Bußgeldbescheide zur Folge. Aber noch sind solche Geräte eine Seltenheit. Erst 1980 muß jeder Lkw der Europäischen Gemeinschaft damit ausgerüstet sein. Bis dahin bleiben Überwachung und Beweisführung bei Unfällen problematisch. Zwar muß jeder Ausländer, der auf bundesdeutschen Straßen einen Lkw steuert und keinen Europa-Fahrtenschreiber hat, Kontrollbücher über Fahrzeiten, Strecken und Ruhepausen führen; aber welcher Prämienfahrer im Akkord vertraut seinem Buch die Wahrheit an? Stichproben gegen Todesgefahr sind fraglos die schlechtesten aller Versuche, Unglücksbilanzen zu senken. Wirkliche Hilfe können nur zum einen rigorose technische Überprüfungen an allen Grenzen bringen, zum anderen aber gesetzliche Verbote des leidigen Prämiensystems für ausländische Lkw-Fahrer, flankiert von wirksamen Einhaltungskontrollen. Doch dies ist wiederum eine europäische Frage.

Was die Personenkraftwagen auf Autobahnen betrifft, ist der Streit um eine gesetzliche Einführung von Tempolimits an Stelle bisheriger Richtgeschwindigkeiten neuerdings heftiger denn je entbrannt. Während auf Bundesstraßen die derzeit noch versuchsweise geltende 100-km/h-Begrenzung im allgemeinen von den Autofahrern hingenommen wird, dürften sich die Auseinandersetzungen um eine sinnvolle Limitierung auf Autobahnen in nächster

Zeit eher verschärfen. Denn Experten verschiedener Lager sind sich hier über direkte Zusammenhänge zwischen Geschwindigkeitsbegrenzung und Sinken der Unfallstatistik offenbar völlig uneins. Warnungen werden vor allem dagegen laut, von den bisher ermutigenden Tests mit Tempo 100 auf Landstraßen Rückschlüsse auf gleiche Erfordernisse bei Autobahngeschwindigkeiten zu ziehen. Hier soll weiterhin ein rascherer Reisefluß möglich sein.

Das Problem Autobahntempo stellt sich im Unterschied zu Landstraßen vor dem Hintergrund erheblich weiterer Strecken, die es meist zu überwinden gilt. Lange Fahrtzeiten und damit auftretende Ermüdung sind selbst im Binnenverkehr gewichtige Argumente, in einem Land, in dem es keineswegs so ungewöhnlich ist, daß zumal Berufsfahrer an einem Tag bis zu 800 Kilometer zurücklegen, beispielsweise also nicht ganz die Strecke von Hamburg bis München. Und sogar grenzüberschreitende Tagesfahrten von tausend Kilometern, etwa die Entfernung Bonn— Wien, sind auch außerhalb des Urlauberverkehrs nicht unbedingt sensationell.

Der Bonner Bundesverkehrsminister Gscheidle will vorerst den bis 1977 geplanten Großversuch mit Richtgeschwindigkeiten abwarten. Doch bereits heute steht fest, daß in der Bundesrepublik als einzigem westeuropäischen Land, in dem auf weiten Autobahnstrecken noch keine Begrenzungsschilder für Geschwindigkeiten stehen, in absehbarer Zeit das Tempolimit kommt.

Uber das künftig erlaubte Tempo auf Bundesstraßen indes ist das Urteil schon so gut wie gesprochen. Diese Verkehrswege bilden denn auch gegenüber den Autobahnen ein weitaus drängenderes Problem: Nahezu fünfmal mehr Menschen als auf den großen deutschen Fernlinien ohne Gegenverkehr starben hier allein im vergangenen Jahr bei

Unfällen. Und das, obwohl die im Oktober 1972 bisher probeweise eingeführte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 Stundenkilometer einen deutlichen Rückgang der Unglückszahlen brachte.

Ein Gremium von Verkehrssachverständigen, bestehend aus sieben Wissenschaftlern von der Kölner Bundesanstalt für Straßenwesen, die den Großversuch mit Tempo 100 auswerteten, haben jetzt der Bonner Regierung empfohlen, auf allen zweispurigen Landstraßen außerhalb geschlossener Ortschaften nach dem 1. Jänner des kommenden Jahres das bisherige Experimentier-Limit von 100 Stundenkilometern als Dauerregelung einzuführen. Denn seit Beginn der Tempodrosselung zeichnete sich eine deutliche Verringerung vor allem von drei Unfallarten ab, ohne daß der Verkehrsfluß nennenswert beeinträchtigt wurde: Die bei Vorbeifahren zumeist durch Schneiden von Fahrzeugen in gleicher Richtung verursachten Kollisionen verringerten sich während des Großversuches im Zweijahresvergleich auf sämtlichen Straßen außerhalb von Ortschaften um 24,5 Prozent, auf Bundesstraßen sogar um 32,8 Prozent. Die Zusammenstöße mit Fahrzeugen des Gegenverkehrs beim Überholen waren auf sämtlichen Straßen außerhalb verbauten Gebietes ebenfalls um 24,5 Prozent und auf den Bundesstraßen um 33,1 Prozent rückläufig. Die Zentrifugaleffekte, durch die Autos bei zu hohen Geschwindigkeiten aus Kurven geschleudert wurden, nahmen auf allen Straßen außerhalb von Ortschaften um 20,9 Prozent und auf den Bundesstraßen um 29,4 Prozent ab. Das Gutachten der Verkehrssachverständigen kommt überdies zu dem -Schluß, daß der Rückgang der Unfallzahlen mit Personenschäden auf Grund der Geschwindigkeitsbegrenzung vom „öl-schock“ unabhängig verlaufen ist.

Die Reaktion auf die Limit-Empfehlung der Verkehrsexperten ist in allen politischen Lagern übereinstimmend positiv aufgenommen worden. Bundesverkehrsminister Kurt Gscheidle will noch in diesem Herbst gemeinsam mit den Bundesländern darüber befinden, ob die ursprünglich bis Ende 1975 vorgesehene Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h auf zweispurigen Straßen außerhalb von Ortschaften unbefristet weitergelten soll. Außerdem ließ Gscheidle dieser Tage wissen, wer nach dem 1. Jänner kommenden Jahres die Pflicht zum Tragen von Sicherheitsgurten nicht beachte, müsse zwar kein Bußgeld bezahlen, verliere jedoch bei einem Unfall wahrscheinlich den Anspruch auf vollen Versicherungsschutz. Aber, so Gscheidle entgegen allen Erfahrungen mit Richtlinien ohne Strafandrohung, die Kraftfahrer würden gewiß einsichtsvoll sein und ihrer Verpflichtung „aus eigenem Antrieb“ nachkommen. Vielleicht bringt die Furcht vor dem Risiko einer geschmälerten Versicherungsdeckung wenigstens scheinbar und teilweise ein Bewähren des frommen Glaubens an Erleuchtung ohne Büttel.

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