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Hafenstadt Wien

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EIN HAUCH DER FREMDE umfängt einen, wenn man den Wiener Hafen betritt. Die Frachter, die im schmutzigen Donauwasser Bord an Bord liegen, ein Schornstein neben dem anderen, mit den verschiedenfarbigen Nationalitätenmanschetten, die Matrosen, die in fremden, unverständlichen Sprachen Worte wechseln, und die milchiggrauen Nebelfetzen, des frühen Morgens vermitteln eine ganz eigenartige Atmosphäre, in der man die fremden Länder und die Weite des Globus fühlt.

Die Atmosphäre jedoch ist keineswegs mit der eines Seehafens wie Rotterdam, Hamburg, Amsterdam oder Triest zu vergleichen. Hier in Wien findet man die typische Stimmung eines Flußhafens.

Den internationalen Charakter des Wiener Hafens merkt man unter anderem auch an den Geschäften nahe der Donau, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind und so ganz nebenbei von der Aufwärtsentwicklung Wiens als Hafenstadt Zeugnis geben. Schilder preisen in fremden, meist slawischen Sprachen an, daß in diesen Geschäften Waren billigst zu erstehen sind.

Die Matrosen — das Gros stellen Jene aus den Ostblockstaaten dar — gehen mit ihren Schifferpässen an Land. Dieses siebensprachige Dokument berechtigt, sich im Hafengebiet frei zu bewegen. Bei den oftmaligen Grenzübertritten erspart es auch die jedesmal notwendige, mühsame Visabeschaffung.

Will aber ein Donauschiffer in die Stadt fahren, den Prater besuchen oder Besorgungen außerhalb der Hafenzone machen, so muß er seinen Matrosenpaß beim Hafenwachzimmer gegen einen Ausgangsschein einsetzen, der nur für den betreffenden Tag gilt und bis 24 Uhr befristet ist. Dies ist keine österreichische Erfindung, sondern eine Folge einer internationalen Abmachung mit den Ostblockstaaten, die in ihrer Ffemdenangst westlichen Schiffein den Aufenthalt ebenfalls nur bis Mitternacht gestatten.

NICHT NUR AUS DIESEN ÄUS-SERL1CHKEITEN besteht der Wiener Hafen, Äußerlichkeiten, die vielleicht nur dem Nichteingeweihten auffallen. In Wirklichkeit weiß aber jeder Wirtschaftsmann die Bedeutung des Hafens zu schätzen, obwohl Wien nach dem zweiten Weltkrieg durch die alliierte Besatzung abgehalten worden war, seine Chance als Donauhafenstadt so zu nützen wie es möglich gewesen wäre. Es wurde in dieser Zeit von Linz übertroffen. Um dieses Manko auszugleichen, wurden erst nach Abschluß des Staatsvertrages viele hundert Millionen Schilling von der Gemeinde Wien in den Hafen investiert, da vorher jede Manipulation problematisch war.

Man hatte das Gefühl, daß trotzdem nichts Rechtes in jenem Gebiet entstehen wollte, das man als Hafen bezeichnet. Aber in den letzten Monaten wurde es anders; der große Aufschwung begann. Eine Hafenbetriebsgesellschaft m. b. H. wurde gegründet, eine Gesellschaft, bei der die Gemeinde Wien 95 Prozent der Anteile zeichnet. Die restlichen fünf Prozent sind in Händen der Wiener Messe AG., deren Direktor, Landtagspräsident von Wien Bruno Marek, der Vorsitzende des Aufsichtsrates ist. Präsident Marek erklärte, daß dieses neue Unternehmen keineswegs nur auf diesen zwei Gesellschaftern aufgebaut bleiben soll. Zur Zeit sind Verhandlungen mit der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft im Gange, die sich mit Finanzierungsfragen und Gesellschaftsanteilübernahme befassen.

ES IST EIN GIGANTISCHES PROJEKT, das hier vorliegt und zum Teil sogar schon im Entstehen begriffen ist. Sagt man Wiener Hafen, so muß man wissen, daß hiermit eigentlich drei Häfen gemeint sind, die räumlich getrennt voneinander liegen. In Albern wird gegenwärtig Getreide und Mais ausgeladen. Das Hafenbecken ist 720 Meter lang und 90 Meter breit. Die Ufereinfassung besteht aus lotrechten Stahlspundwänden, an denen die Schiffe zum Ausladen anlegen. Am Kai stehen vier Riesensilos mit einer

Aufnahmefähigkeit von je 20.000 Tonnen und ein kleinerer Silo mit 5000 Tonnen Inhalt. Fünf pneumatische Saugvorrichtungen dienen zum Entladen der Schiffsbäuche] Insgesamt können 85.000 Tonnen in Albern gelagert werden.

Zu einem Hafen gehört aber auch eine Hafenbahn, um die Güter, wenn sie nicht mit Lastwagen vom Hafen weggebracht werden, auf dem Schienenweg ins Landesinnere zu transportieren. In Albern beträgt die Gleislänge der Hafenbahn etwa 17,5 Kilometer. Vergangenes Jahr liefen 166 Schiffe ins Hafenbecken ein und fanden genügend Platz.

Die Zukunft Alberns aber sieht anders aus. Der Hafen soll um zwei Blecken vergrößert werden. Die Planung ist bereits abgeschlossen, das Projekt teilweise schon in Bau. Die neuen Becken werden einem Industrie-und einem Kohlenhafen dienen und durch eine sogenannte Einlaufstraße mit dem Donaustrom verbunden sein.

Hafen Nummer zwei ist Freudenau, im Volksmund vielleicht besser als „Winterhafen“ bekannt. Er dient als Schutzhafen, vornehmlich bei Treibeis auf dem Strom, und kann rund 400 Schiffen Platz bieten. Er dient vor allem als Umschlagplatz für Stückgüter.

Dieser Hafen ist allerdings heute noch kaum ausgebaut, aber die Hafenbetriebsgesellschaft hat gerade mit Freudenau etwas Besonderes vor. Hier soll eine Zollfreizone errichtet werden, die für die Wiener Wirtschaft von enormer Bedeutung wäre. Linz besitzt eine Zollfreizone seit 1953. Die Folgen waren, daß der Hafen besser und intensiver ausgebaut werden konnte, zumal das Bauen auch noch billiger war als heute. Und der Umschlag stieg gewaltig. 1962 waren es mehr als 3,3 Millionen Tonnen, während Wien mit seiner größeren Wirtschaftskapazität auf knapp 1,8 Millionen Tonnen ka.m.., Angesichts .dieser Zahlen kann nun wohl nicht mehr die Notwendigkeit eines ausgebauten Hafens mit Zollfreizone bestritten werden.

Für den Hafenausbau wurde von der Gemeinde Wien übrigens für das laufende Jahr ein Budget von fünf Millionen Schilling ausgeworfen.

Zollfreizonen gibt es außer in Linz überdies auch noch in Solbad Hall bei Innsbruck und in Graz, die sich im Laufe der Zeit sehr bewährt haben. Die Zollfreizone der Niederösterreichischen Zollfreizonen- und Flugbetriebsgesellschaft m. b . H. auf dem ehemaligen Flugplatz Bad Vöslau entwickelte zwar bisher noch keine nennenswerte Aktivität und ist auch kaum bekannt, dürfte sich aber in der Zukunft ebenfalls einen bedeutungsvollen Platz sichern.

WIEN DARF SEINE ZUKUNFTSCHANCE nicht aus der Hand geben und muß Zollfreizonen bekommen. Bis jetzt ist sie mit 400 Meter Länge und 150 Meter Breite geplant und soll ganz nahe einem Becken des Ereuden-auer Hafens liegen. Sollte sich eines Tages die Notwendigkeit erweisen, daß Wien ebenso einen Zollfreihafen benötigt, so kann ohne technische Schwierigkeiten sofort ein Stück des Beckens als Zollfreihafen erklärt werden.

Wien ist die letzte Station des Westens im Handel mit dem Osten und daher gerade wirtschaftspolitisch so enorm wichtig, da die Ein- und Ausfuhr aus und nach dem Osten — besonders mit einer Zollfreizone — eine heute noch kaum abschätzbare Bedeutung für die gesamtösterreichische Wirtschaft mit sich bringt. Die Wirtschaftsfachleute wissen, daß dem Hafen in seiner Rolle als Stapelplatz für Güter aus der COMECON, der kommunistischen „Wirtschaftsgemeinschaft“, und aus dem EWG-EFT A-Raum große Bedeutung zukommt.

Der Hafen Freudenau selbst ist nach dem Muster des größten europäischen Seehafens, Rotterdam, geplant. Die Kaimauern — zur Zeit ist nur etwa ein Kilometer voll ausgebaut — müssen noch verlängert werden. Die Hafenbetriebsgesellschaft verpachtet die an den Kais gelegenen Gründe an interessierte Firmen, die dort ihre Lagerhäuser bauen können.

Einmalig ist aber ein Projekt, das vorsieht, die Ent- und Beladekräne von der Hafenbetriebsgesellschaft errichten zu lassen und je nach Bedarf zu vermieten. Man hat sich dazu entschlossen, um den Betrieb auch für die Firmen rentabel gestalten zu können, da man ihnen so die Anschaffungskosten für die Kräne erspart. Die Praxis hat in Rotterdam gezeigt, daß nur etwa 40 Prozent der Kräne tatsächlich ausgelastet sind. Um von einem Stillstehen der übrigen sechzig Prozent in Wien abzusehen, hat man diese Lösung gefunden.

Der zur Zeit umschlagmäßig größte Hafen ist Lobau, der dem Verladen und der Lagerung von Mineralölen dient. Gegenwärtig ist dort aber nur die Österreichische Mineralölverwaltung etabliert. Im Zuge der Entwicklung sollen auch andere Ölgesellschaf-ten dort ansiedeln, die heute noch an der unteren Donaukanallände oder an der Stromlände direkt ihre Tanklager haben. In diesem Punkt gehen Stadtplanung und Wirtschaftsplanung konform. Es ist vorgesehen, die an der Donaulände etablierten Firmen ins Hafengebiet zu übersiedeln.

ES IST KEINE UTOPIE, wenn man Wien in gar nicht so ferner Zukunft als bedeutende innerkontinentale Hafenstadt ansieht. Während man noch über das Hafenausbauprojekt staunt, liegen schon Zukunftspläne vor. die in ihren Ausmaßen wahrlich gigantisch erscheinen.

Die Zeit ist nicht mehr allzu fern, wo Güter auf dem Wasserweg aus dem

Herzen des nordamerikanischen Industrieraumes, aus Chikago, direkt zu uns und weiter hinunter, auf den Balkan, gelangen können.

Mit der iröffnung des Lorenzo-Kanals in Nordamerika wurde es der Wirtschaft möglich, Großgüter vom Innern des Kontinents direkt in alle Welt zu verschiffen, auch nach Europa. Noch muß sich hier die Wirtschaft der Schiene und der Straße bedienen, nicht mehr lange jedoch.

Es besteht die Möglichkeit eines Wasserweges vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, die Großschiffahrtsstraße Rhein—Main—Donau, die zur Zeit schon streckenweise ausgebaut ist. Seit September vergangenen Jahres führt die Schiffahrt schon bis Bamberg. Der Ausbau des weiteren Streckenver-laufs Bamberg—Nürnberg ist . fertig projektiert, finanziell gesichert und stellenweise auch schon in Angriff genommen. Die Strecke soll bis 1969, spätestens 1970. befahrbar sein. Im Anschluß daran dürfte 1975 der Durchstich dieses Kanals zur Donau erfolgen, womit die durchgehende Verbindung Atlantik—Schwarzes Meer

Wirklichkeit wird. Dreizehn Jahre müssen noch verstreichen, dann können die Güter auf dem Wasserweg direkt von Chikago über Rotterdam und Wien ins SeJrWarze Meer transportiert werden. Wien wäre die letzte westliche Station.

NEBEN DIESEN TRANSKONTINENTALEN WASSERWEGEN werden in Zukunft auch noch zwei bedeutende Verkehrswege in Wien ihren Kreuzungspunkt haben: die Europastraßen „ E 5“ und „E 7“.

„E 5“ läuft von London nach Istanbul, wobei die Westautobahn einen Teil dieser Europastraße darstellt. Diese Europastraße ist aber wiederum nur ein Teil eines gewaltigen Beton-bandes, das sich von London quer durch Europa und weiter über Indien nach Südasien bis Singapur führen soll: die Transsüdasienstraße.

Der Landweg Nord—Süd wird die ,.E 7“ sein, die von Warschau nach Rom führen und auf österreichischem Boden auf der zukünftigen Autobahn Wien—Tarvis laufen wird. Auch hier sieht man die enorme Bedeutung Wiens als zukünftigen Kreuzungsmittelpunkt, zu dem sich neben Straße, Wasserweg und Schiene auch der Luftverkehr gesellt, der in Wien auf dem modernen und weiter ausbaufähigen Flughafen Schwechat eine Drehscheibe findet.

Fragt man sich, was dies eigentlich mit dem Hafen zu tun habe, so wird man bei näherem Überlegen die Zusammenhänge erkennen. Wien kann sich bei kluger Planung, die sich aber nicht nur auf die nächste Zukunft beschränken darf, zu einer der wichtigsten Städte Europas entwickeln, wenn nicht zur wichtigsten Stadt Mitteleuropas überhaupt. Die derzeitige politische und wirtschaftliche Situation in der Welt läßt einen intensiven Wirtschaftsaustausch zwischen Ost und West wohl noch kaum als Realität erscheinen, der aber sicherlich einmal spruchreif werden wird — und wenn auch erst in den nächsten Generationen.

WIENS EINGLIEDERUNG IN DIE ZUKUNFT muß aber schon jetzt beginnen, um den Anschluß nicht zu verpassen — und ein Schritt zu dieser Eingliederung besteht im Ausbau des Wiener Hafens, der schon im nächsten Jahrzehnt eine unentbehrliche Drehscheibe für den West-Ost-Handel werden wird.

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