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Die Welt im Haus

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VOR FÜNF VERGLASTEN AUSHÄNGEKASTEN in der Wiener Josefstadt stehen trotz grauem, unfreundlichem Himmel und schneidendem Wind zwei Männer und können ihre Blicke nicht von farbig bedruckten Papierbögen trennen — wenn man nähertritt, sieht man Landkarte neben Landkarte. Die fünf Kasten in der Skoda- gasse sind ein bescheidener Augenfang. Aber dort, hinter dem Glas, wo die Karte der Republik Oesterreich im Maßstab 1:500.000 angeheftet ist, stellt sich die Geschichte eines fast 120 Jahre alten wissenschaftlichen Institutes vor, das, wie wenig andere, eben den Namen Oesterreich durch die ganze Welt trug, jene Welt, die sich symbolisch fast, in dem wuchtigen Gebäudeviereck zwischen Hamerlingplatz, Kupkagasse, Krotenthallergasse und Skodagasse ein Stelldichein gibt. Noch sieht man die Reliefbuchstaben der alten Aufschrift: „Karto graphisches, früher Militärgeographisches Institut" — heute „Landesaufnahme“ als Teil des Bundesamtes für Eich- und Vermessungswesen —, in der Skodagasse. Unscheinbar die langen Gänge mit den vielen Türen, an denen wir im Hause vorübergehen, wo gerade Erneuerungs arbeiten im Gange sind. „Topographie“ steht über der einen, „Kartographie“ über der anderen, „Gravur“ über der nächsten Türe, „Steinschleiferei“ im Erdgeschoß, „Setzerei“ ein Stück weiter. Das „B-Gebäude", wie es im Amtsgebrauch (zum Unterschied vom A-Gebäude auf dem Friedrich-Schmidt-Platz nächst dem Rathaus) heißt, birgt nicht nur eine Welt in sich, sondern es ist wie ein Körper mit vielen Organen, von denen jedem eine wichtige Aufgabe zukommt.

BIS ZUM JAHRE 1918 waren Armee und Flotte bei uns die Träger der Kartographie, deren Wirkungskreis sich bis an die Seine erstreckte, Sizilien, Kreta und die westkleinasiatische Küste sowie den Großteil des Schwarzen Meeres einschloß, den Donbogen entlanglief, von dessen östlichstem Punkte die Richtung auf Lemberg einschlug, Lublin und Warschau umrandete, quer durch Deutschland bis an den Rhein und den Aermelkanal ging, und über See in den Räumen um Jan Mayen, Spitzbergen, Franz-Josefs-Land und Nowaja-Semlja gearbeitet hat. Geschichtlich reicht die Tradition unserer Kartographie bis ins 14. Jahrhundert zurück, wo ės gezeichnete Karten Ungarns und Böhmens gab, deren Güte gelobt wurde, bis auf Professor Johann Stabius, der die 'Erblande im Auftrag Kaiser Maximilians I. zwischen 1506 und 1526 aufnahm. Aus dem Jahre 1547 stammt die älteste Karte mit Triangulierungsunterlage, der Plan Wiens von Hirschvogel, aus 1561 der österreichische Atlas von Lazius. 1726 fertigte Ingenieur-Oberstwachmeisfer Haring die Karte des Banats im Auftrage des Prinzen Eugen, 1760 Peter Anich und Blasius Huber die Karte Tirols. Die Geheimhaltung der militärischen Karten war früher sehr streng. Bei der Kopierung der josephinischen Aufnahmen für Oberösterreich mußten aus dem Original viele Einzelheiten weggelassen werden. Diese Geheimhaltung wurde erst auf Intervention Radetzkys 1810 aufgehoben.

DER RUHM DES MILITÄRGEOGRAPHISCHEN INSTITUTES hatte seine Gründe. Die Balkankartographie wurde von ihm auf eine, anderen fortgeschrittenen Ländern entsprechende Stufe gehoben. Einzeloffiziere oder Spezialmissionen vermaßen Bosnien, die Herzegowina, das Limgebiet, Serbien, Montenegro, Albanien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien und die europäische Türkei. Türkische, rumänische, bulgarische und griechische Offiziere studierten bei uns Kartographie. Die österreichisch-ungarische Kriegsmarine bereicherte die adriatische Seekartographie und jene des Mittelländischen Meeres. Zwischen 1841 und 1873 hat das MGI 20 Millionen, im ersten Weltkrieg mehr als 300 Millionen Blätter, das sind mehr als

1000 Waggonladungen, hergestellt. 1869 waren in neun Abteilungen 70 Personen, 1913 bereits 715 Menschen beschäftigt. Auszeichnungen bei Ausstellungen in Antwerpen, Genf, London, Paris und Venedig ehrten das MGI, das zur größten kartentechnischen Anstalt Europas emporwuchs. Eine Reihe von Persönlichkeiten, deren Namen mitunter in Wiener Straßenbezeichnungen aufscheinen, wirkte im MGI; Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs, schrieb grundlegend über das Institut und mappierte selbst 1879 in Bosnien; Dobner von

Dobenau stellte 1875 die erste Schnellpresse in Dienst; August von Fligelys Namen trägt ein Kap auf Franz-Josephs-Land, es gibt auch einen Fligely-Fjord auf Grönland. Franz von Hauslab, Träger des Militär-Maria-Theresien-Ordens, nahm den Erzberg geologisch auf. Artur Freiherr von Hübl führte 1896 die Photogrammetrie ein. Die technische Gruppe des MGI entwickelte Vervielfältigungsarbeiten derart gut, daß noch nach dem ersten Weltkrieg, als kein großes Reich mehr das Institut stützte, eine Kommission in Südamerika nach österreichischem Muster die Vermessung führte.

NACH DEM JAHRE 1918 wurde das Institut mit der Katastervermessung zusammengelegt und das Bundesvermessungsamt errichtet. Ab 1923 trägt es den heute bekannten Namen: Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen, und besteht aus drei Gruppen: Eichwesen, Kataster und Landesaufnahme. Die Landesaufnahme stellt die Landkarten her. Diese sind das Ergebnis eingehender Geländeaufnahmen, ausführlicher Bearbeitung und sorgsamen Druckes. Das Luftbild wird vom Flugzeug aus einer Höhe zwischen 5000 und 6000 Meter aufgenommen. Pa pJiotogramjnetjsche Auswer.tegerät gestattet, die . Oberfläche der Erde mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Was Photogrammetrie ist, und was diese geheimnisvolle, an drei Seiten von einer Schutzhülle umgebene Maschine bedeutet, vor der ein Mann sitzt, links und rechts an Rädern dreht, immerfort den Blick wie ein Astronom an einem Fernrohr einem Gegenstand zugewandt, den wir, von unserem Standort aus, nicht sehen? Wir hören, daß diese Maschine ein photogrammetrisches Auswertegerät ist. Photogrammetrie ist ein Meßverfahren, das auf räumlichem Sehen beruht; zwei Bilder, von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommen, ergeben, ins Auswertegerät gelegt, mit einer von der Hand geführten Meßmarke ab-

getastet, auf mechanischem Wege den Grundriß und die Schichtenlinien des durch Luftbild aufgenommenen Gebietes. Nebenbei — während unser Photograph eine Aufnahme vorbereitet — hören wir, daß ein einziges solches Auswertegerät eine Million Schilling kostet. Kein Wunder, daß man es vor Staub — dem schlimmsten Feind hier — durch die vorgehängten Hüllen schützt, daß ein Spezialbodenbelag vorhanden ist, den man überdies nicht mit Straßenschuhen betreten darf, und daß schließlich eine Klimaanlage nicht nur gleichbleibende Temperatur, Sondern, was genau so wichtig ist, immer den gleichen Feuchtigkeitsgehalt der Luft garantiert: denn Genauigkeit ist Trumpf.

DAS LUFTBILD SIEHT PHANTASTISCH AUS, aber wer glaubt, daß man nur aus 6000 Meter photographieren braucht und die Kopien aneinanderhängen kann, der irrt. Was wir gerade gut erkennen, ist etwa der Wald. Das dort — ja, das halten wir für eine Bahn, ist aber in Wirklichkeit eine (übrigens neue) Straße. Und das kleine Strichlein dort links — ja, das könnte ein Weglein sein — glaubt man, tatsächlich ist es ein Zaun. Man sieht schon: das Gelände muß zürn Feldvergleich'b’egaffiįėn1werden’ ledėf Wėg bis zum Ende; dann"3 wieder : zürück“Air artfltt'eh Abzweigung, wieder zum Ende, von der Abzweigung zur Abzweigung der Abzweigung — was das bedeutet, etwa im hügeligen Gelände, kann man sich nur dunkel vorstellen. Die Tagesnorm von zwei Quadratkilometern beim Feldvergleich entspricht also allein schon einer gewaltigen physischen Leistung, abgesehen von der geistigen Arbeit, die dabei geleistet werden muß. Die Tätigkeit heißt man Bildkrokierung. Der Topograph überprüft nach der Auswertung noch einmal, was der „Krokierer“ gemacht, er zeichnet die Gletscher und Felsen. Dann kommt die Beschäftigung mit der Nomenklatur (es gibt Nomenklaturkommissionen — zum Beispiel in Vorarlberg, die letzthin mit der Schreibung des Namens Montafon von sich reden machte). Die Geographen werden ebenso befragt wie der Alpenverein. Ja, der Name ist wichtig. Die Bahn (Kursbücher) und die Post sind ebenso an den genauen Karten und Ortsnamen interessiert wie die Behörden. Hier im achten Bezirk werden ja amtliche Kartendokumente hergestellt.

DAS VERMESSUNGSWESEN und besonders die Kartographie hat Nachwuchssorgen. Die Industrie bietet Ingenieuren, die zu ihm kommen, mehr, als der Staat zahlen kann. Zudem sind eminente zeichnerische, ja künstlerische Fähigkeiten notwendig. Es dauert viele Jahre, bis ein Mann selbständig arbeiten kann (eine Karte „nur“ zwei Jahre, bis sie fertig ist). Die österreichische Landesaufnahme ist kein Zuschußbetrieb, wie man nach den beispielhaft billigen Kartenpreisen annehmen müßte. Das Ausland gibt Aufträge und diese bringen Devisen, und von diesen Geldern sind viele der Spezialmaschinen, die wir in den Räumen sehen, angeschafft worden. Nie ruht die Arbeit. Wenn eine Karte fertig ist, werden bereits Aenderun- gen gemeldet. Das ist wie bei einem Lexikon. Man schafft in einemfort daran und wird, genau genommen, nie fertig.

IN DER SKODAGASSE stehen vor den Aushängekasten ein Mann und ein Mädchen. Es scheint, sie träumen von Reisen. Die Gesichter sehen so trostvoll aus, so geweitet. Mohammed Idrisi, einer der bedeutendsten arabischen Geographen, der im zwölften Jahrhundert am Normannenhofe lebte, hat mit Recht die Landkarten genannt: „Gärten der Bildung und der Trost der Seele“.

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