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Eroberte Eiswelt

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Es wurde in der letzten Zeit sehr oft daran erinnert, daß der Nordpol, bisher im ewigen Eis verschollen und versunken, in einem Schnittpunkt wichtiger Weltwege liegt und auch zu einer Wegkreuzung der Strategen geworden ist. Das Eindringen des Menschen in“ die einst von der Natur streng abgeschlossene, eisige und frostige Welt der Arktis darf aber nicht nur vom Blickpunkt der Strategen gesehen werden. Hier vollzieht sich eine mit großer Zähigkeit durchgeführte i Ersdiließertätigkeit, die zunächst und in erster Linie darauf abzielte, diese Gegenden für Menschen bewohnbar zu machen.

Als die ersten Eroberer der Arktis, die wagemutigen Forsdier und Entdecker auszogen, staunte man über ihre Erlebnisse' und Berichte, man dachte aber überhaupt nicht daran, daß „dort oben“ jemals Siedlungsland gesucht werden könnte oder aber, daß diese Gebiete eine wirtschaftliche oder politisdie Rolle spielen würden. Es ist interessant, daß gerade die zwei Großmächte, die USA und Sowjetrußland, die über so viel Raum und auch noch über viele un-erschlossene und unausgenützte Gebiete verfügen, der Erschließung der polarnahen Räume das größte Augenmerk zuwenden. Rußland hat sich, seit es von der ruhelosen Dynamik der Planwirtschaft und der sich ständig steigernden Industrialisierungssucht erfüllt ist, mit größter Energie und ohne Rücksicht auf Kosten und Opfer der Vorverlegung der menschlichen Siedlungsgrenze nach dem Norden gewidmet. Durch Förderung wissensdiaftlicher Expeditionen größten Stils hat man dort alle jene Unterlagen geschaffen, die als Basis für eine planvolle Besiedelungspolitik der arktisdien Gegenden notwendig sind. Daß die ent- . gegenstehenden Schwierigkeiten gelöst werden konnten und daß man heute tatsächlich davon sprechen kann, daß sich die menschliche Siedlungs- und Kulturgrenze im eurasischen Räume um viele Breitegrade nach dem Norden verlagert hat, ist, wenn man alle politischen und militärischen Spekulationen außer Berechnung läßt, eine Großleistung. Es hat keinen Sinn, daran vorüberzusehen, daß die vielen Unternehmungen wissenschaftlicher und praktischer Art, die von der Sowjetunion im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte durchgeführt worden sind, außerordentlich bedeutsame Ergebnisse erzielten. Man würde ihrer mit größerem Ruhm gedenken können, wäre diese Erschließungstätigkeit nicht in sehr vielen Fällen von Zwangsverschidsten und Strafgefangenen durchgeführt und der erzielte Erfolg nicht mit dem Verlust von Millionen v<pn Mensdienleben erkauft worden.

Das Ringen um die Ersdiließung der polnahen Gebiete begann mit der systematischen Forschertätigkeit in den der russischen Nordküste vorgelagerten Insel- und Meeresgebieten und gleichzeitig mit der Arbeit der Pflanzenzüchter, die sich um neue Sorten verschiedener Kulturpflanzen bemühten, mit deren Hilfe die Ernährung der Neusiedler in den arktischen Gebieten gesichert werden sollte. Die zähe und zielstrebige Geduldsarbeit der wissenschaftlichen Pflanzenzüchtung, die in allen Ländern am Werke war und ist, um die von der Natur vorgezeichneten Grenzen der einzelnen Kulturgewächse zu überschreiten, wurde bisher meist nur am Rande vermerkt. Der Name Luther Bur-banks, des großen amerikanischen „Pflanzenzauberers“, ist immerhin einigermaßen bekanntgeworden, die Namen Mit-s di u r i n und Z i z i n kennt man kaum. Mitschurin ist es zu verdanken, daß heute in Murmansk und in Kamtschatka ausgedehnte Obstgärten blühen und in Gegenden, wo der Frost bis zu minus 60 Grad erreicht, Äpfel-und Kirschbäume gedeihen! Er hat es zuwege gebracht, daß in Moskau und in Tambow Weintrauben geerntet werden können, obwohl diese Städte weit nördlieh jener Linie liegen, welche die Nordgrenze des Weinbaues bezeichnet. Man muß bedenken, daß jede menschliche Dauersiedlung im polarnahen Gebiet der Bereitstellung wenigstens eines gewissen Minimums vitaminhaltiger Nahrungsmittel bedarf, um sdiweren Gesundheitsschädigungen entgegenzuwirken. Wenn daher heute in Kardien und auf der Kola-Halbinsel, im hohen Norden Ostasiens und am Unterlauf der großen sibirischen Ströme Hunderttausende und Millionen von Menschen dauernd wohnen und damit die Voraussetzung für die Ausbeutung der dortigen Bodenschätze und den Betrieb großer, widi-tiger Industriezentren bilden, so ist dies vor allem den geglückten Bemühungen um kälteharte und sdinellreifende Nutzpflanzen zuzuschreiben. Man hat seinerzeit aus russischen Weizensorten in Kanada neue Kulturformen gezüchtet, die den Bedingungen des kurzen, nördlichen Sommers genügten. Der berühmtgewordene „Mani-toba“ und d'e Sorte „Garnet“, die um fast drei Wochen früher reift als die ursprünglichen Weizensorten, sind Beispiele dafür Zunächst auf dem amerikanischen Kontinent, später aber auch im hohen Norden Europas und Asiens, hat man die Getreidefelder immer näher an die Welt des ewigen Eises herangesdioben und selbst der Be griff dessen, was man unter dem „Norden“ versteht, hat sich gewandelt. Dort, wo früher Tundra und Wüste waren, fährt heute der Lappländer mit seinen Renntieren an wogenden Weizenfeldern vorbei. Das ist aber noch kein Abschluß, sondern erst Basis für -eine neue Entwicklung. Jetzt haben die russischen Pflanzcnzüchtcr w;eder die von den Kanadiern gezüchteten Sorten in Sibirien akklimatisiert und sie durch Einkreuzen neuer Wildformen verbessert. Mit Hilfe von Züchtungen, für die sie auch eigene botanische Höhenstationen im Pamirgebiet anlegten, sind sie heute dabei, frostunempfindliche und ungemein rasch-reifende Getreidesorten herauszukreuzen, die weiteren Bodengewinn für den Planzen-bau in den arktisdien Gebieten bedeuten werden. Selbst in dem nur sechs bis sieben Wochen dauernden Polarsommer erzielt man bereits reife Nutzpflanzen und man hat auch entdeckt, daß man nördlich des Polarkreises auf geeignetem Moorboden Grünfutter ernten und in Silos einlagern kann. Das aber ermögl'cht wieder die Durchbringung von Milchkühen im ausgesprochen polaren Klima und damit die Milchversorgung menschlicher Ansiedelungen in diesen hohen Breiten. In glasgedeckten Gewächshäusern, die oft Flächen von einem Hektar und mehr umfassen, werden Gurken, Tomaten und andere Gemüsearten gezüchtet und so die neugeschaffener Städte vor dem gefürchteten Skorbut bewahrt. '

Auf diesen hier nur knapp umrissenen Grundlagen basiert jene fieberhafte Tätigkeit in Nordsibirien, die immer neue Städte aus dem Tundraboden wachsen läßt und in dem von der transsibirischen Eisenbahn durchzogenen Raum gewaltige Industriezentren aufgerichtet hat. War im Jahre 1905 der eingleisige, über 700 Kilometer führende Schienenstrang der transsibirischen Bahn eine technische Meisterleistung, so sind heute die zehn oder zwölf Parallelgleise dieser Strecken, von denen die russische Presse berichtet, nur ein kleines Detail des gigantischen Aufbauprogramms, das über siebzig neue Produktionszentren von mehr als je 50.000 Einwohnern aus dem Boden stampfte und innerhalb von zwei Jahrzehnten die im sibirischen Bereich tätigen Menschen von 15 auf 60 Millionen ansteigen ließ. Nicht nur die Pflanzenzüchter und Geographen, die Meteorologen und die Polarforscher sind die Pioniere dieser völligen Umkrempelung eines halben Erdteils, sondern hier, im weltfernen Raum von Nowosibirsk, Krasn.^jarsk und Kom-somolsk, arbeiten auch die Physiker Wa-wilow und Alekhmian und der berühmte Kernphysiker und Atomforsdier Peter Kapitza mit ihren tausendköpfigen Stäben von Gelehrten und Assistenten. Da man wenig über ihre Tätigkeit und die Produktion in diesen neuen industriellen Großstädten erfährt, mehren sich die Gerüchte, daß man dort auch den geheimnisvollen kosmischen Strahlen auf der Spur sei. Hält man sich aber auch nur an die bekannten Tatsachen, dann sieht man, daß die Fortschritte auf dem Gebiete der Kohlen-,

Stahl-, Eisen- und Kupferproduktion gewaltig sind.

Vor zehn Jahren untersuchten die ersten Ingenieure mit einer Handvoll von Helfern inmitten einer arktisdien Einöde und umgeben von Wolfsrudeln und anderen wilden Tieren die Ergiebigkeit neuer Goldadern. Heute erhebt sich in diesem Gebiet eine Stadt von Wolkenkratzern, Krasno-turinsk, die erst gebaut wurde, als die Schlacht von Stalingrad ihrem Ende zuging. Der Grundstein von Serwolensk, an den Ufern des Amurflus&#171;es, wurde erst 1943 gelegt und heute hat die Stadt bereits 80.000 Einwohner.

All das aber sind nur wenige Einzelheiten von der Erschließerarbeit im Norden Eurasiens. Unter völligem Ausschluß der Weltöffentlichkeit Ist dort, mit größter Selbständigkeit ausgestattet, die „Hauptverwaltung des nördlichen Seeweges“ tätig, die mit unerhörtem Menschen- und Materialeinsatz an der Erschließung von Rohstoffen und Verkehrswegen und an der Industrialisierung der nordsibirischen Tundra arbeitet. Eine Gruppe von 170 Schiffen und 200 Flugzeugen ist eingesetzt, um die Erkundung der russischen Polargebiete weiterzuführen und abzuschließen. Ein „hydrographischer Fünfjahrplan“ für die nördlichen Gewässer wurde aufgestellt, der an die 4 50 Expeditionen vorsieht, um Leuchttürme, Radio- und Radarstationen zu errichten. Die Wetterstationen sind weit in die Eisregion vorgeschoben und eine neue Expedition von Physikern und Geographen ist im Frühjahr dieses Jahres nach Nowaja-Semlja aufgebrochen, um wissenschaftliche Forschungen anzustellen. Seit es im Jahre 1932 einem russisdien Schiff gelungen ist. die „Nordostpassage“ vom Atlantik zum Pazifik durchzuführen, hat man diese Route durch den Ausbau von Polarstationen und Beobachterposten gesichert und heute wird sie in jeder Schiffahrtsperiode sdion ziemlich regelmäßig durchfahren.

Die eisgepanzerten Sperren der Arktis sind gesprengt.

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