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Land der Zukunft — Land der Tränen

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Sibirien, Zukunft und Problem der UdSSR. Von Oswin Cornelius Pfeiffer. Safari-Verlag, Berlin.

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Sibirien, Zukunft und Problem der UdSSR. Von Oswin Cornelius Pfeiffer. Safari-Verlag, Berlin.

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247 Seiten mit 26 Karten und Schaubildern und 1 Faltkarte

Als der Kosakenhetman Jermak im Auftrag der russischen „Fugger", des Hauses Stroganoff, im Jahre 1581 mit wenigen hundert Leuten den Ural nach Osten zu überschritt, gewann er dem Moskauer Zaren nicht nur ein neues Land, sondern förmlich einen Erdteil: Sibirien mit dem angrenzenden russisch-asiatischen Besitz: 6,3 Millionen Quadratkilometer Boden sind darin allein von Wäldern bedeckt, von deren schlagbaren Beständen 1950 nur 30 Prozent genutzt wurden. Kein westlicher Kolonialbesitz hat solche Dimensionen, solche Werte, keiner grenzt wie Russisch-Asien in breitester Front unmittelbar an das Mutterland. Man spricht mit Recht vom „amerikanischen Tempo". Das sibirische gab und gibt diesem nichts nach. 50 Jahre nach der Ueberschreitung des Urals war schon ein Netz von befestigten Stützpunkten (Ostrogs) von 10.000 Kilometer Länge und 5000 Kilometer Breite über Sibirien gespannt, das ostsibirische Jakutsk (1632) gegründet. 16 Jahre später umschiffte der Kosak Deschnew das nach ihm benannte Kap im äußersten Osten Rußlands. Diese Expansion übersprang die Behringstraße, und am 30. August 1812, als sich Napoleons Truppen Moskau näherten, donnerten in der Bodega- bucht in Kalifornien die ersten russischen Salutschüsse als Zeichen der Machtergreifung und der Gründung des Forts Roß. — Der heutige asiatische Raum der Sowjetunion ist mit 15 Millionen Quadratkilometer doppelt so groß wie die USA. 22 Prozent hievon können landwirtschaftlich genutzt werden. Dieses gesamte ungeheure Gebiet war 1939 von 33,2 Millionen Menschen bewohnt, nach den Wahlübersichten zum Obersten Sowjet kann die Bevölkerung für 1951 auf 55 Millionen geschätzt werden. Im Jahre 1926 gab es östlich der Linie Moskau—Baku nur eine Stadt mit mehr als 250.000 Einwohnern (Taschkent), heute sind es mindestens 16! Man rechnet damit, daß Sowjet- Asien Lebensraum für mindestens weitere hundert Millionen Menschen bietet, daß übrigens die Ge- »amtbevölkerung der Räteunion in 50 Jahren 570 Millionen betragen wird.

Die Schwierigkeiten, welche die Natur der Ansiedlung und der Gewinnung der Bodenschätze entgegenstellt, sind so unermeßlich wie die Weiten dieses Reiches. In den Sandsteppen des Südens mußte bis 1947 eine Schwefelindustrie mittels Flugzeugen mit Wasser versorgt werden, in Jakutsk wiederum eine 200 Meter dicke Frostbodenschicht durchbohrt werden, bis die Stadt genügend Wasser bekam. Die Schrecken der Taiga sind durch viele Schilderungen bekannt. Hier im Norden zeigen sich die Leistungen der russischen Agronomen: Ein speziell gehärteter Winterroggen (Wjatka) gedeiht bis zum 70. Breitegrad im Kontinentalklima, eine- Pflanze mit der 1948 schon mehr als acht Millionen Hektar bebaut waren. Aus der Kreuzung von Sommerweizen mit einer als Unkraut gefürchteten Steppenquecke entstand der berühmte Sommerweizen Nr. 22.850, der sich auch bei stärkstem Regen nicht umlegt (also hervorragend für Maschinenernten geeignet ist), einen höchst geringen Wasserbedarf hat und immun ist gegen Pilzkrankheiten. Es werden Seidenraupen gezüchtet, die sich bescheidenerweise statt mit Maulbeer- mit Birkenblättern begnügen, und aus Birken besteht ein großer Teil der sibirischen Wälder. Nahezu unvorstellbar sind die mineralischen Schätze: das „Kusbaß" (am Flusse Tom bei Stalinsk) förderte schon 1947 jährlich 29 Millionen Tonnen bei einem abbaufähigen Vorrat von 1558 Millionen, das Revier Karaganda damals 12 Millionen Tonnen (bei 545 Millionen Tonnen Vorrat). Das Kohlenvorkommen Tunguska an der Lena gilt mit 2000 Kilometer Länge und 1000 Kilometer Breite als das größte der Erde. Der Erzberg „Magnitäja Gora" am Osthang des Ural hat ein Vorkommen von 419 Millionen Tonnen, bei einem Eisengehalt von 30 bis 61 Prozent. Diese Aufzählung ließe sich fast beliebig verlängern.

Die Entwicklung des asiatischen Besitzes war für die Räteunion von Anbeginn ein vordringliches Anliegen. Schon 1928 wurde Magnitogorsk gegründet, das gegenwärtig 1,4 Millionen Einwohner hat. Der zweite Weltkrieg mit der deutschen Invasion löste eine fieberhafte Ver- lagerungs- und Gründungstätigkeit aus. 1941 wurden 1360 Betriebe aus den gefährdeten Westgebieten in den Transuralraum gelagert und dort 900 neue gegründet. Allein während des Krieges entstanden ostwärts der Wolgalinie Industrien mit Millionen-Kapazitäten. Parallel damit erfolgte der Bau von gigantischen Wasserkraftwerken, von neuen Verkehrswegen und Bewässerungsanlagen.

Wie dies alles im menschenleeren Raum geschaffen werden konnte, ist nur zu bekannt: Diese rasante Entwicklung ist das Ergebnis von „Blut und Tränen" ungezählter Arbeitssklaven. War Sibirien schon in der Zarenzeit das Verschickungsland für politische Strafgefangene, so hat diese Methode in Sowjethänden seither Maßstäbe angenommen, die jede westliche Vorstellung überschreiten. Wer über das furchtbare Los der Strafgefangenen in knappster und deshalb um So ergreifenderer Form unterrichtet werden will, der lese das Kapitel „Das Zwangsarbeitersystem" (Seite 90 bis 102).

Das ungewöhnlich aufschlußreiche, alle Gebiete berührende und wohl durchdachte, mit zahllosen Einzelangaben ausgestattete Werk verdient in der westlichen Welt Aufmerksamkeit und ernstes Interesse. Es zeigt die ungeheuren Kräfte, die in planmäßiger Arbeit in einem Europa streng verschlossenen Raum dem Boden entrissen und in Wirtschaftsmacht umgesetzt werden. Manche der unter Stalin gefaßten Pläne, wie der Bau des großen turkmenischen Kanales, sind von den Nachfolgern stillschweigend fallengelassen worden. Andere, wie die Anlage des Waldgürtels im Steppenberich, auf das normale Maß von Meliorationen herabgesetzt worden. Was bleibt, ist aber bedeutend genug um einmal im Kampf der Wirtschaftsgiganten eine unvergleichlich größere Rolle zu spielen als etwa das „europäische Rußland" selbst.

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