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Russische Spaziergänge

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SCHON WENIGE STUNDEN nach der Ankunft in Moskau hat man die Gewißheit, sich in einer Weltstadt zu w befinden. Es ist gar nicht so leicht, festzustellen, was am deutlichsten diesen Eindruck bestimmt, da gleichzeitig überall spürbar wird, daß es sich um eine ganz andere Art von „Welt“ handelt, die in dieser Metropole ihren Ausdruck findet. Moskau hat heute 8 Millionen Einwohner und ist die Hauptstadt eines Reiches von 208 Millionen, dessen Ausdehnung fast dreimal so groß ist wie die USA. Steht man am Roten Platz oder unten am Ufer der Moskwa, so sieht man die Mauern des Kreml vor sich, hinter denen die Amtsräume Chruschtschows liegen, also man weiß, daß sich hier einer der beiden politischen Pole befindet, von denen die heutige Geschichte unserer Welt gestaltet wird. Aber nicht dieses Wissen ist ausschlaggebend.

In der Gorkistraße und am Roten Platz drängen sich auf den Gehsteigen die Menschenmassen um jede Tageszeit bis spät in die Nacht, und es heißt, daß täglich über eine Million Menschen aus der Umgebung und : der Provinz nach Moskau hereinströmen und die Stadt wieder verlassen. Auf den breiten Straßen des Zentrums fahren die Autos zur Stoßzeit in zwei Viererreihen, und man hat größte Mühe, die Fahrbahn zu überqueren. Uberhaupt — die Dimensionen. Man kann sie nur mit Paris vergleichen, denn nur dort findet man Plätze und Boulevards von solcher Ausdehnung, und nur dort auch wurde eine Stadt mit solch autoritärer Geste angelegt. Wien etwa wirkt dagegen wie das miniaturhafte Gebilde aus einer Spielzeugschachtel.

BLICKT MAN AUS DEN FENSTERN des Ausländerhotels „National“, so hat man die Türme des Kreml und als Abschluß des Roten Platzes die bizarre Silhouette der Basiliuskathedrale vor sich, wie die ein Bild aus Tausendundeiner Nacht aussieht. Sie ist, ähnlich wie sämtliche Kremlkirchen, keine Kirche mehr, sondern ein Museum. Es ist dem westlichen Europäer kaum augenscheinlich zu machen, wie ernüchternd und gefahrdrohend die Tatsache wirkt, daß man vor der, mit leuchtenden Ikonen bedeckten Ikonostasis der Kremlkirchen, den hölzernen Schreibtisch irgendeines Aufsehers stehen sieht. Auch der schärfste westliche Skeptiker wird das schaurige Gefühl haben, daß man hier die Axt an die Wurzel europäischen Erlebens gelegt hat. Mit demselben Blick aus dem Fenster des „Hotel National“ erkennt man die kilometerlange Schlange von Menschen, die sich vom Alexander-Garten aus, am Historischen Museum vorbei,. bis an das Lenin-Mausoleum windet. Schulen, Gruppen verschiedenster Art, Kolchosbauern, Besucher vom Land stehen hier, um das wächserne Gesicht des toten Lenin zu sehen. Anschließend schlendert man an der dahinter -liegenden Kremlmauer vorbei, wo auch Gorki und Lunatscharski begraben sind. Und natürlich auch Stalin — ohne Büste, ohne ehrendes Wort, nur sein Name ist auf dem flachliegenden Stein zu lesen.

EINE ATTRAKTION IN MOSKAU ist das riesige Freibad an jener Stelle, an der einst die später abgerissene Erlöserkirche stand. Dort wird das Wasser der städtischen Fernheizwerke in einer Temperatur von 29 Grad abgelassen, so daß auch bei minus 30 Grad Kälte im Winter unter freiem Himmel unzählige Schwimmer zu sehen sind. Es gibt auch andere Überraschungen in Moskau, etwa wenn das Garderobenpersonal in Museen und Theatern den Besuchern, auch einfachsten Bauersfrauen, sorgfältig in den Mantel hilft, oder wenn man in manchen Museen genötigt wird, Pantoffel anzuziehen, um den Parkettboden zu schonen. Und dann auch unliebsame Entdeckungen: daß es in Moskau kein Telephonbuch gibt, keinen ordentlichen Straßenplan, daß man die Stadt ohne Sonderbewilligung nicht weiter als auf 40 Kilometer verlassen kann, und daß die Bedienung in den Restaurants trotz den immensen Preisen zu wünschen übrig läßt — man wartet oft mehr als eine Stunde, weil das Personal, am Trinkgeldnehmen offiziell verhindert, herumsteht und sehr gern einfach weggeht, wenn man Winkversuche unternimmt.

Blickt man von den sogenannten Lenin-Bergen, einer größeren Uferböschung an der Moskwa, wo sich auch der Riesenbau der Universität erhebt, auf die Stadt hinunter, so findet man die Skyline gekennzeichnet von fünf riesigen Wolkenkratzern im Stalin-Stil. Moskau ist keine schöne Stadt, und schon gar nicht, wenn man die weiten Bezirke mit vorfabrizierten Häusern, die in Monatsfrist aufgestellt werden, ansieht. Aber man spürt eine starke Dynamik, die hier das ganze Leben erfaßt, man merkt, daß von hier aus ein gewaltiges Land regiert wird. *

LENINGRAD HINGEGEN IST architektonisch eine wunderbare Stadt von imperialer Herrlichkeit. Dennoch, oder gerade deshalb, ist der Eindruck für den westlichen Besucher in mancher Hinsicht noch beklemmender als in Moskau: In Leningrad merkt man noch Spuren des alten Glanzes, der einstigen höfischen Welt, der eleganten hochkultivierten Gesellschaft. Der Newski-Prospekt mit seinen Barockpalais, Kirchen, Gartenanlaigen, vornehmen Häusern aus der Gründerzeit, den hohen Kandelabern, ist eine der schönsten Straßen der Welt. Was sich aber darauf bewegt, ist deutlich erkennbarer Kommunismus, in Aussehen und Kleidern, nicht zu reden vom Bild der Auslagenfenster. Auch durch die „Eremitage“ gehen vor allem — und dies sicherlich nicht zum Nachteil — einfache Leute, Bäuerinnen mit Kopftuch, Arbeiter, Soldaten.

Die meisten Kirchen sind gesperrt oder Museen, in der 3,5-Millionen-Stadt „arbeiten“ nur 15 Kathedralen, wie das in der heute üblichen Terminologie vielsagend heißt. So geht man erschüttert durch' die alten Straßen, über die unzähligen Wasserläufe, die Leningrad manchmal Ähnlichkeit mit Venedig geben, und denkt an die Ströme Blut, die.während der Revolution hier ■ flössen. Das Leid, das Leningrad traf, nahm auch später kein Ende, denn während der 900 Tage dauernden Belagerung im zweiten Weltkrieg durch die Deutschen, starben hier eine Million Menschen an Hunger. Man denkt aber auch an die Zeit von Puschkin und Dostojewskij und gleichzeitig an den Wahnsinn zaristischer Weltfremdheit, der gigantische Reichtümer neben der bitteren Armut der Bevölkerung stapelte. Aber das ist Rußland — ein Land furchtbarer Extreme.

WÄHREND LENINGRAD AUCH außerhalb der berühmten „weißen Nächte“, in denen es nicht dunkel wird, einen unverkennbar nördlich kühlen Charakter hat, ist Kiew eine südliche, weiche, vergleichsweise „herzliche“ Stadt. Schon die Lage auf den Uferbergen des Dnjepr mit dem Ausblick auf die Auen des Stromes und weit hinaus in die Ebene ist bevorzugt im Vergleich zu Moskau und auch Leningrad. Kiew, die älteste Stadt Rußlands, die „Mutter der russischen Städte“, hat heute die dritthöchste Zahl an Einwohnern, nämlich 1,2 Millionen. Viele Gärten und Grünflächen lockern die Häuserreihen auf, doch war durch arge Zerstörungen während des Krieges dem stalinistischen Baustil Tür und Tor geöffnet. Die Kreschatik-Straße ist von gewaltigen Häuserblocks gesäumt, deren wuchtige Fassaden nur als Ausgeburten eines Alptraums bezeichnet werden können. Die Sophienkathedrale mit den herrlichen Mosaiken aus dem 11. Jahrhundert ist in den offiziellen Verzeichnissen natürlich als „Sophienmuseum“ zu finden.

WENN MAN DIE BILDER dieser drei Städte — Moskau, Leningrad, Kiew — an sich vorüberziehen läßt, so muß man wohl sagen, daß es sich um Kristallisationen nicht nur eines uns sehr fremden Landes, sondern eines ganzen Kontinents, einer fremden, in sich geschlossenen Welt handelt. Zweifellos findet man in Moskau die unübersehbaren Merkmale einer enormen Vitalität, die in diese Stadt einströmt, aber diese Energien kommen nicht aus Bereichen westlicher Zivilisation, sondern aus den unendlichen Weiten der noch östlicher liegenden Gebiete, aus den gleichsam unmittelbar angeschlossenen Kolonien, aus Sibirien, aus Mittelasien. Was bedeutet ein einzelner Mensch in diesem gigantischen Land, in dem riesige Gebiete noch erschlossen und urbar gemacht werden müssen? Und doch regen sich, etwa in Moskau, schon die Individualitäten einer neuen Generation, die ihre Wünsche und Interessen anmelden. Man sagt, jeder Vierte in Moskau sei ein Lernender, er besuche, sei es untertags oder abends, irgendeine Schule, nehme an irgendwelchen Kursen teil. Der „Lesende“ in der Metro, in Trolleybus, ist in Moskau beinahe zur typischen Figur geworden. Und genau dort liegt einer der schärfsten Widersprüche, die innerhalb des kommunistischen Regimes nicht aufgehen: Man führt in volksbildnerischem Ehrgeiz die Menschen zum Wissen und Denken, will ihnen aber dann beides an genau festgelegter Stelle limitieren. Und das ist nicht möglich. Der einmal geweckte Geist geht seinen eigenen Weg, oft mühsam, unter größten Schwierigkeiten, aber auf die Dauer hemmen ihn keine willkürlich errichteten Hindernisse.

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