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Im Souterrain der Legalität

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Eine der wichtigsten und sehr genau eingehaltenen Maximen des sowjetischen Lehens lautet: „Sei wie alle anderen, fall nur nicht auf.“ Die ziemlich lückenlose Befolgung dieses ungeschriebenen Gesetzes ruft beim westlichen Ausländer oft den Eindruck grauer Eintönigkeit und Uniformität des sowjetischen Alltags hervor.

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Eine der wichtigsten und sehr genau eingehaltenen Maximen des sowjetischen Lehens lautet: „Sei wie alle anderen, fall nur nicht auf.“ Die ziemlich lückenlose Befolgung dieses ungeschriebenen Gesetzes ruft beim westlichen Ausländer oft den Eindruck grauer Eintönigkeit und Uniformität des sowjetischen Alltags hervor.

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Die heroische, freudig-strahlende offizielle Wirklichkeit läßt für individuelle Manifestationen nur einen sehr begrenzten Spielraum offen und innerhalb dieses Spielraums können sich eben nur solche Lebenserscheinungen entfalten, die dem offiziellen Bild entsprechen. Sieht man von diesem Raum ab, der vor allem dazu verwendet werden kann, mit strahlendem Blick an der Werkbank für den Bau des Sozialismus zu arbeiten, freiwillig unbezahlte Arbeit zu leisten oder sonst gute Werke zu demselben Zwecke zu tun, so ist fast das ganze Leben mit einem feinmaschigen Netz harter bürokratischer Vorschriften und Gesetze überzogen, die ein unbeschwertes, den individuellen Begabungen und Intentionen entsprechendes Leben sehr erschweren. Die Lücken des Systems müssen also so gut als möglich genutzt und die drückenden Vorschriften ohne größere Verluste unterlaufen werden. Das solcherart entstehende Souterrain der Legalität ist der reichhaltige Nährboden für eine sowjetische Subkultur, die oft seltsame und im Westen ganz unverständlich scheinende Blüten treibt.

Eine Vorschrift, die besonders geeignet ist, Illegalität zu produzieren, ist die sowjetische Meldepflicht. Jeder Sowjetbürger ist angemeldet, an seinem Heimatort ist er „ständig“ gemeldet, an einem vorübergehenden Studien- oder Arbeitsort „zeitlich begrenzt“. Es ist ziemlich schwierig, eine „ständige Meldung“ an einem bestimmten Ort — auf dem Land, in irgendeiner Provinzstadt — aufzulösen und etwa nach Moskau zu übersiedeln. Ebenso schwierig ist es etwa für einen Studenten, seine zeitlich begrenzte Moskauer Meldung in eine ständige umzuwandeln. Denn Moskau ist eine „geschlossene Stadt“ (wie auch Leningrad und Kiew), und man kann nicht einfach aus Astrachan oder Irkutsk nach Moskau übersiedeln, weil es einem da besser gefällt. Das verbreitetste Mittel zur Umgehung der Meldebestimmungen ist die fiktive Heirat. Denn durch Heirat mit einem Moskauer beziehungsweise einer Moskauerin erwirbt man die ständige Meldung zugleich mit dem Anrecht auf einen Teil des Wohnraums, der dem Ehegatten gehört. Die fiktive Heirat tritt in einer betrügerischen Form auf, wobei die Betrogenen meist alte Männer sind, die, so hofft die energische Provinzlerin, sowieso bald sterben und ihr die komfortable Wohnung samt Inventar überlassen. Oder sie wird in gegenseitigem Einvernehmen geschlossen und in harten Rubel bezahlt — eine fiktive Einheirat nach Moskau kostet zwischen 800 und 3000 Rubel.

Ist man für eine fiktive Heirat zu ungeschickt oder zu unbemittelt, schlüpft man am besten bei anderen illegal in Moskau lebenden Bürgern unter — es gibt ganze Häuserblocks, die von illegalen Untermietern bewohnt werden, nur hin und wieder wird die Hausverwaltung mit Rubelspenden beruhigt. In der letzten Zeit sind auch fiktive Ehen mit auswanderungswilligen Juden ziemlich gesucht und Gerüchten zufolge werden in Moskau überhaupt nur mehr fiktive Ehen geschlossen. Dieses Problem ist deshalb so virulent, weil sehr viele geistig beweglichere Provinzler, seien es Parteibürokraten, Beamte, Techniker und natürlich Intellektuelle, aus der bewegungslosen Langeweile des russischen Landes in die Hauptstädte drängen, in denen sich dadurch ein großes Intelligenzpotenzial anhäuft, wodurch wiederum ihre Anziehungskraft noch weiter gesteigert wird.

Prostitution ist eine typische Entartungserscheinung der Klassengesellschaft und deshalb in der Sowjetunion natürlich offiziell nicht vorhanden. Und wirklich, vergleicht man mit den Verhältnissen, die in Rußland vor der Revolution herrschten, als Prostitution aus materieller Not weit verbreitet war, oder mit dem heutigen Westeuropa, so ist käufliche Liebe ein im heutigen Rußland wenig gehandeltes Gut. Es gibt sie aber doch, nur ist das Gewerbe weniger kommerzialisiert als im Westen, genau abgegrenzte Reviere und feste Tarife sind jedenfalls unbekannt. Ein bekannter Prostituiertenstandplatz in Moskau ist das Marx-Denkmal vis-ä-vis vom Bolschoitheater; die Mädchen werden dort daher logischerweise „Marxistinnen“ genannt. Die Grünfläche auf der anderen Straßenseite hingegen ist dem männlichen Gesehlecht vorbehalten.

Im übrigen wird der russische Ausdruck „prostitutka“ in einem Sinne verwendet, wo wir eher „leichtes Mädchen“ sagen würden. Solche gibt es allerdings recht viele und sie lassen sich leicht nach den Kreisen gruppieren, in denen sie verkehren: die einen bevorzugen Künstler und die Welt der Boheme, wo sie keinerlei direkte materielle Entschädigung erhalten, dafür wird tagelang gezecht, getanzt, gefeiert und ein kleiner Job beim Film oder bei der Bühne springt vielleicht auch dabei heraus. Andere wieder bevorzugen die reichen Provinzbosse, die in Moskau oft wochenlang ihren administrativen Geschäften nachgehen. Der Alkohol fließt hier reichlicher, der Rubel rollt leichter und die ganzen Ungangsformen sind etwas gröber. Schließlich gibt es auch Russinnen, die sich, wohl mit halboffizieller Zustimmung, der Betreuung von Ausländern widmen. Die Kontakte werden meist in der Bar des neuen „Intourisf'-Hotels am Beginn der Gorkij Straße geknüpft. Diese Bar ist überhaupt ein beliebter Treffpunkt der Moskauer Halb- und Unterwelt: Schieber und Spekulanten, ahnungslose, mit Dollars raschelnde Ausländer, zwielichtige Russinnen und die allgegenwärtigen Spitzel geben sich dort ein tägliches Stelldichein. So nett, gutmütig und großherzig diese Mädchen, die mit Ausländern verkehren, sicherlich sein mögen, ebenso sicher erzählen sie auf der anderen Seite dem Geheimdienst weiter, was sie Interessantes erfahren haben.

Einen Hauch orientalischer Märchenhaftigkeit verbreitet in der sowjetischen Hauptstadt die grusinische Hautevolee, die sich bei allabendlichen Gelagen von der schweren Tagesarbeit des Geldverdienens erholt. Die Grusinier, oder besser gesagt die ganze kaukasische Geldaristokratie, beherrschen den Markt für Obst, Südfrüchte und Gemüse. Mit viel Geschick und rücksichtsloser Preistreiberei holen sie Riesenprofite aus der vitaminhungrigen Moskauer Bevölkerung heraus. Sie werfen mit Hundertrubelscheinen wie mit Kleingeld um sich und haben für die Russen, die sich für 120 Rubel Monatslohn abrackern, nur ein verächtliches Achselzucken übrig. Für Grusinien arbeiten in Moskau gut organisierte Banden von Autodieben. Sie stehlen vor allem im Winter Autos, die der Besitzer vorsorglich mit einer Flache zugedeckt hat, schieben irgendein Wrack darunter, der Wagen wird umgespritzt, bekommt eine neue Nummerntafel und wieder ist Grusinien um ein Auto reicher.

Das nicht übermäßig reiche sowjetische Warenangebot und die Tatsache, daß Moskau überbevölkert ist und noch dazu täglich einige Hunderttausend Provinzler zum Einkaufen in die Stadt kommen, läßt natürlich einen blühenden grauen Markt entstehen. Die Provinzler bilden in den großen Warenhäusern im Zentrum der Stadt riesige Schlangen und warten geduldig fünf oder sechs Stunden, bis sie ihre Pelzstiefel oder ihre Daunendecke endlich bekommen. Die normal arbeitende Moskauer Bevölkerung hat gegen sie kaum eine Chance. So bildete sich der Brauch, daß rüstige Pensionistinnen für Mangelware Schlange stehen und dann mit Strumpfhosen oder Büstenhaltern als ambulante Händlerinnen in den umliegenden Bürohäusern hausieren gehen und dabei einen stattlichen Nebenverdienst in ihre Tasche fließen lassen. Gehandelt wird überhaupt mit allem, besonders in der näheren Umgebung der großen Ausländerhotels: Ikonen, Gold, Valuta, ja sogar Porsche- oder Mercedes-Wagen wechseln im Handumdrehen verstohlen den Besitzer.

Rauschgift ist in Moskau zwar bekannt — in Usbekistan wird wie im benachbarten Afghanistan Haschisch gepflanzt, doch ist es für die Russen offensichtlich reizlos. Alkohol wird vorgezogen — man kann kleine Gruppen von Menschen vor Apotheken stehen sehen, die auf die Öffnung warten und dann hastig kleine Fläschchen starken Alkohols oder hochprozentiges Kölnischwasser in sich hineingießen. Für die meisten tut es allerdings der normale Wodka — nach Geschäftsschluß ist er bei Taxichauffeuren unter der Hand zu erhalten.

Kriminalitätsstatistiken werden in Rußland nicht veröffentlicht, aber die Kriminalität ist nicht so niedrig, wie sie eigentlich der Theorie nach sein sollte. Sie dürfte vorsichtiger Schätzung zufolge allerdings auch nicht höher sein, als in einer normalen westeuropäischen Großstadt. Gestohlen wird zwar ziemlich viel, angefangen bei Mänteln und sonstigen Kleidungsstücken und allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Die Taschendiebe stehen an beruflichem Können ihren westlichen Kollegen sicherlich nicht nach. Aber auf die Frage amerikanischer Journalisten, die während des Nixon-Besuchs Moskau bevölkerten, ob man nach Einbruch der Dunkelheit noch über die Gorkijstraße gehen könne, starrten die Moskauer nur verständnislos.

Von einer seltsamen Unruhe erfaßt wird die Stadt vor allem während der drei großen Feiertage — Jahrestag der Revolution, Neujahr und 1. Mai. Betrunkene taumeln überall, der Alkohol löst die Zungen und schwächt die Selbstdisziplin, angestaute Aggressionen brechen los, die Polizei ist überall und nirgend. Nun, jede lebendige Großstadt hat ihre Probleme und auch die quirlende 7-Millionen-Stadt Moskau ist nicht frei davon, auch wenn die „Prawda“ sich darüber ausschweigt.

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