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Euer Euch liebender Okkupant

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In der Sowjetunion herrscht allgemeine Wehrpflicht, die Dienstzeit beträgt heute zwei Jahre. Bis 1967 dauerte sie allerdings drei Jahre und war somit eine der längsten Dienstpflichten eines nicht kriegführenden Landes überhaupt. In Wirklichkeit jedoch bestand damals die allgemeine Wehrpflicht nur auf dem Papier: Studenten und Angehörige der Intelligenz wurden kaum einberufen, die Armee bestand hauptsächlich aus Bauernsöhnen und einfachen Arbeitern, der allgemeine Bildungsgrad war sehr niedrig, nur wenige Rekruten hatten 10 Schuljahre abgeschlossen.Seit der Reform werden auch Studenten und Akademiker einberufen, die Studenten manchmal mitten aus dem Studium heraus, was sich auf den intellektuellen Standard natürlich positiv auswirkt. Ein Soldat mit akademischer Bildung urteilt aber auch ganz anders und natürlich viel kritischer über Situationen, in denen sich er und die Armee befinden. So unterzeichnete ein sowjetischer Soldat, der sich 1968 in der Tschechoslowakei befand, einen Brief an seine Familie in Moskau mit den Worten: „Euer Euch liebender Okkupant.“

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In der Sowjetunion herrscht allgemeine Wehrpflicht, die Dienstzeit beträgt heute zwei Jahre. Bis 1967 dauerte sie allerdings drei Jahre und war somit eine der längsten Dienstpflichten eines nicht kriegführenden Landes überhaupt. In Wirklichkeit jedoch bestand damals die allgemeine Wehrpflicht nur auf dem Papier: Studenten und Angehörige der Intelligenz wurden kaum einberufen, die Armee bestand hauptsächlich aus Bauernsöhnen und einfachen Arbeitern, der allgemeine Bildungsgrad war sehr niedrig, nur wenige Rekruten hatten 10 Schuljahre abgeschlossen.Seit der Reform werden auch Studenten und Akademiker einberufen, die Studenten manchmal mitten aus dem Studium heraus, was sich auf den intellektuellen Standard natürlich positiv auswirkt. Ein Soldat mit akademischer Bildung urteilt aber auch ganz anders und natürlich viel kritischer über Situationen, in denen sich er und die Armee befinden. So unterzeichnete ein sowjetischer Soldat, der sich 1968 in der Tschechoslowakei befand, einen Brief an seine Familie in Moskau mit den Worten: „Euer Euch liebender Okkupant.“

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Welche Rolle spielt nun die Armee in dem riesigen sowjetischen Vielvölkerstaat? In erster Linie ist die Armee natürlich auf Verteidigung gegen äußere Feinde und zur Abschreckung gegen Angriffe konzipiert. Der Hauptfeind des sowjetischen Soldaten sind immer noch der amerikanische Imperialismus, die westlichen Verteidigungsbündnisse, vor allem die NATO, dazu kommen noch kleinere Feinde, wie etwa die faschistischen Regime in Griechenland und Chile. Freilich ist in den letzten Jahren eine zunehmende Verschiebung festzustellen: Jetzt sitzt ein Haupttgegner im Osten — in China. Dieses Feindlbild wird dem sowjetischen Soldaten im täglichen Politunterricht eingeprägt. Der Politunterricht, am Morgen 15 Minuten, am Abend 45 Minuten, wird von den Politkommissaren erteilt, die es in jeder Einheit gibt

Aber auch die integrative Funktion, welche die Armee unter den ■vielen Völkern und nationalen Minderheiten ausübt, darf nicht unterschätzt werden. Die Befehlssprache in der Armee ist Russisch, Sprachschwierigkeiten gibt es kaum, da in allen nationalen Republiken Russisch als erste Fremdsprache gelehrt wird. Hinzu kommt jedoch, daß die Soldaten nur in seltenen Fällen in der näheren Umgebung ihres Heimatortes dienen, meist werden sie in weit entfernte Teile der Sowjetunion geschickt. Kirgisische Steppenbewohner dienen im hohen Norden, Russen in den mittelasiatischen Steppen, die an China grenzen. Es ist nicht verwunderlich, daß es bei vielen Soldaten zu Assimilationsschwierigkeiten kommt. Krankheiten, vor allem Erkrankungen des Nervensystems und Allergien, sind die Folge.

Drittens spielt die Armee natürlich auch die Rolle eines Macht- und Ordnungsfaktors in der innenpolitischen Situation des Landes. Soldaten, die aus ihrem sozialen Kontext herausgerissen und in eine ihnen völlig fremde Umgebung versetzt werden, mit deren Bewohnern sie keinen Kontakt haben und deren spezielle Problematik ihnen unverständlich ist, können, besonders wenn sie sich in strenger Isolation befinden, unschwer dazu bewegt werden, auf die Bevölkerung zu schießen. Bei den Streiks, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in sibirischen und südrussischen In-dustrierevieren stattfanden, wurde auch die Armee eingesetzt. Die Streiks wurden blutig unterdrückt. Der jahrelange harte Armeedrill wirkt sich natürlich auch auf die Psyche der Soldaten aus: wer drei Jahre lang als sprachloser uniformierter Befehlsempfänger existieren muß, kann auch im zivilen Leben die Zwänge eines totalitären Regimes leichter ertragen, sein Gerechtigkeitsempfinden wird abgestumpft, er wird ganz allgemein leichter lenkbar.

Offiziell genießt der sowjetische Soldat alle staatsbürgerlichen Rechte. Er darf wählen, er darf heiraten, er darf ein Fernstudium betreiben oder fortsetzen. Jeden zweiten Sonntag hat er Ausgang. In der Praxis werden diese „Rechte“ jedoch von dem flexiblen Terminus „gute Führung“ abhängig gemacht. Ganz besonders eingeschränkt ist das Recht auf Ausgang. Bis zum Ablegen des Fahneneides, während der ersten zwei Monate Grundausbildung, darf kein Soldat die Kaserne verlassen. Im ersten Dienstjahr wird nur in ganz seltenen Ausnahmefällen Ausgang gewährt. In der Regel erhält ein Soldat während der zweijährigen Dienstzeit vier- bis fünfmal genehmigten Ausgang. Es kommt deshalb oft vor, daß Soldaten unerlaubt die Kaserne verlassen. Werden sie erwischt, so müssen sie bei wenigen Stunden Abwesenheit mit 15 Tagen Karzer rechnen. Der Arrest wird in einer ungeheizten Einzelzelle abgesessen, nur jeden zweiten Tag gibt es warmes Essen, an den dazwischenliegenden Tagen nur 250 Gramm Brot und heißes Wasser. Noch strenger wird das Ausgangsrecht bei Raketeneinheiten und sonstigen geheimen Truppenteilen gehandhabt — dort haben nicht einmal die Offiziere Ausgang.

Sehr beschränkt ist das Ausgangsrecht auch bei den Truppenteilen, die um die großen Städte Moskau, Leningrad, Kiew stationiert sind. Offenbar sind um die Städte gewaltige Truppenverbände massiert, denn bereits so, bei fast völliger Ausgangssperre, ist das Stadtbild der Großstädte mit Uniformierten überschwemmt. In Moskau patrouülieren Armee-Einheiten gemeinsam mit der Miliz auf allen Hauptstraßen, großen Plätzen und in der U-Bahn. Auf allen Bahnhöfen, auch auf kleinen Vorortebahnhöfen, sind Milizionäre oder Militärpolizisten postiert, die nach Deserteuren Ausschau halten. Flüchtige Soldaten erkennt man am Haarschnitt, denn das Haar eines sowjetischen Soldaten darf maximal zwei Zentimeter lang sein.

Haben Soldaten trotz aller drakonischen Maßnahmen doch einmal Ausgang, so dürfen sie keine Restaurants oder Gaststätten besuchen und keinen Alkohol trinken. Man fürchtet wohl, daß betrunkene Soldaten ausländischen Spionen in die Hände fallen könnten. Der Monatssold eines Soldaten beträgt drei Rubel (plus 70 Kopeken für Zigaretten) — das entspricht etwa 70 Schilling.

Ein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt es in der UdSSR nicht. Natürlich gibt es aber wie überall auch in Rußland Soldaten, die sich dem Wehrdienst entziehen wollen, indem sie Krankheiten simulieren. Eine beliebte Methode: durch Einatmen von Saccharinpulver entstehen scheinbare Lungenflecke. Der Soldat wird als Tb-Verdächtiger ins Spital eingeliefert und so lange durchleuchtet, bis ihm das Saccharinpulver ausgeht.

Wie überall in der sowjetischen Administration, spielt auch in der Armee die Partei eine wichtige Rolle. Die Partei wird durch den Politikom-missar vertreten. Offiziell ist der Politkommissar der erste Stellvertreter des Kommandanten der Einheit. Da jedoch alle Kommandeure Parteimitglieder sind, sind sie auf Parteiebene dem Politkommissar untergeordnet. Sowohl Kommissare wie auch Kommandeure sind bei den Soldaten wenig beliebt. Immer wieder kommt es zu verbalen Beschimpfungen, manchmal auch zu schweren Prügeleien zwischen Soldaten und Offizieren. Für tätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten bekommt ein Soldat zwei Jahre Strafbataillon zusätzlich.

Aus welchen Bevölkerungsschichten rekrutiert sich unter diesen Umständen der Unteroffiziers- und Offiziersbestand der Armee? Unbeliebt ist der Wehrdienst vor allem bei der Intelligenz und bei den Arbeitern. Diese ablehnende Haltung hat sowohl moralische als auch individuelle psychologische Ursachen. Für den Arbeiter, der aus dem vielfarbigen Leben großer Städte herausgerissen wird, bedeutet der zweijährige monotone Dienst Unterdrückung seiner persönlichen Interessen, Verdienstausfall, Konsumverzicht und Entzug sozialer Kontakte.

Anders ist es bei der Landbevölkerung. Für den Bauernburschen, der noch kaum sein Dorf verlassen hat, ist die Armee das Tor zur Welt. Viele von ihnen bleiben bei der Armee, besuchen Unteroffizierskurse und dienen weiter. Gegen Ende der jeweiligen Dienstzeit kommen auch Werber der Miliz und Werber für die sibirischen Großbaustellen in die Kasernen und machen den Soldaten verlockende Angebote. Wer auf eine Baustelle oder zur Miliz geht, für den ist der Militärdienst zwei Monate früher zu Ende. Auch ist die Bezahlung in der Armee höher als in vergleichbaren zivilen Berufen. Während ein Ingenieur nach Studienabschluß 120 Rubel verdient, bekommt ein junger Leutnant 160. Die Uniform ist gratis. Außerdem ist die Armee für junge Kolchosbauern meist der einzige Weg, einem lebenslangen Dasein in der Kolchose zu entkommen. (Der Angehörige der Kolchose hat keinen Paß und darf das Dorf nicht verlassen!) Für die Burschen bleibt also hauptsächlich die Armee, für die Mädchen nur ein Studium. Beliebt ist der Militärdienst vor allem bei Ukrainern. Sie dienen — vielleicht aus historischen Gründen — besonders gem. In der Armee gilt das Sprichwort: „Ein Ukrainer ahne Stern ist wie eine Bestätigung ohne Stempel.“ Viele Marschälle der Sowjetarmee sind oder waren Ukrainer: Gretschko, Malinowski, Timoschenko, Budjon-nyj, um nur einige zu nennen. Die Angehörigen nationaler Minderheiten spielen hingegen in der Armee kaum eine Rolle. Sie bilden während des Dienstes eigene Clans und rücken kaum in höhere Chargen auf.

Parallel mit dem allgemeinen Wehrdienst läuft die militärische Ausbildung der männlichen Studenten und die Unterweisung der gesamten Bevölkerung in Zivilverteidigung. An vielen Hochschulen und Instituten gibt es eine eigene militärische Fakultät, an der alle Studenten zu Offizieren der Reserve ausgebildet werden. Sie besuchen wöchentlich militärtechnische Vorlesungen und werden jeden Sommer zu mehrwöchigen praktischen Übungen einberufen. Es kommt jedoch

Bürgerrechte eher theoretisch nicht selten vor, daß Studenten trotzdem schon während oder nach Abschluß des Studiums einberufen werden. Dies kann, wie bei politischen Oppositionellen oder bei aus-wanderungswilligen Juden, Schikane sein — ein Auswanderungswilliger muß nach Beendigung des Wehrdienstes fünf Jahre warten, bis er sein Gesuch einreichen darf. In der Regel werden jedoch 20 bis 30 Prozent aller Absolventen jetzt zum Wehrdienst einberufen, weil offenbar Bedarf besteht. Die Studenten halten einen zweijährigen Wehrdienst für eine persönliche Katastrophe, weü ihnen ihre mühsam erworbenen Fachkenntnisse wieder verlorengehen.

Die ganze Bevölkerung — die Schulkinder, die Arbeiter in Fabriken und Betrieben, die Bewohner nach Häuserblöcken geordnet — wird in Zivilverteidigung unterwiesen. In regelmäßig wiederholten Instruktionen wird ihnen beigebracht, wie sie sich bei atomaren, chemischen, bakteriologischen und natürlich auch konventionellen Überfällen verhalten sollen. Die ganze Bevölkerung muß an regelmäßig abgehaltenen Luftschutzübungen teilnehmen; die in den letzten Jahren erbauten Häuser haben alle eingebaute Luftschutzkeller, die Bewohner von Altwohnungen begeben sich in spezielle Luftschutzräume in ihrem Viertel.

Alle sowjetischen Ärzte, zumeist sind es Frauen, haben einen militärischen Rang und werden jedes Jahr zu militärischen Übungen eingezogen. Bei den Reservisten werden probeweise Mobilmachungen durchgeführt: der Reservist wird mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und darf bis zum Morgen in der Kaserne frieren.

Nicht zu unterschätzen ist auch die moralische Aufrüstung, die in der Sowjetunion vor allem seit dem Konflikt mit China mit ungehinderter Stärke betrieben wird. Durfte bis Mitte der sechziger Jahre kein Kriegsspielzeug hergestellt oder verkauft werden, so findet man heute kaum einen Jungen ohne seine knatternde Plastikmaschinenpistole. Die historischen Taten der sowjetischen Armee werden überall auf Plakaten und riesigen Transparenten glorifiziert, die Liebe zur Heimat gilt als eine der höchsten Tugenden. Mag die tatsächliche Situation auch nicht der von der offiziellen Propaganda geforderten entsprechen, so wird die Wehrkraft der Sowjetunion auf Grund der geschilderten Maßnahmen doch unzweifelhaft auf einem hohen Niveau gehalten.

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