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Vom Hüterbub zum Staatsoberhaupt

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Wenn ein neu angekommener ausländischer Botschafter oder Gesandter dem Staatsoberhaupt der Sowjetunion sein Beglaubigungsschreiben überreicht, dann tritt er im großen Kremlpalast einem Manne gegenüber, der äußerlich viel besser in den prunkvollen Rahme i paßt als seine drei Vorgänger. Die fremden Diplomaten schreiten durch das weite Portal des großen Zarenpalastes die hohe Paradetreppe hinauf. Alles ist wie einst zu den Zeiten des Zaren. Selbst das Bild, auf dem der Kaiser Alexander III. die Dorfältesten empfängt, hängt hoch oben. Früher trat der ausländische Diplomat, in glänzender Galauniform oder im Frack und weißer Binde, einem Manne in etwas saloppem schwarzem Anzug mit weichem, unfeierlich weißem Kragen entgegen. So empfingen alle drei Vorgänger Marschall Woroschilows: Jakob Swerdlow, Michael Kali-nin und Nikolaus Schwernik, die fremden Vertreter.

Jetzt steht eine straff militärische Gestalt auf dem roten Teppich des riesigen Sankt-Georg-Saales. Die goldenen, breiten Achselstücke des Marschalls, die breiten roten Generalsstreifen an den Hosen, die ganze russische Marschall-Uniform passen zum Stil dieses Saales, der dem alten russischen militärischen St.-Georgs-Orden geweiht ist. An den weißen Wänden leuchten die goldenen Buchstaben der Namen der Regimenter der kaiserlich-russischen Armee, die Namen der Offiziere, die diesen Orden seit Katharina II. bis zum ersten Weltkrieg verliehen bekommen haben. Die Gestalt Marschall Klim Woroschilows paßt besser in diesen Rahmen als die Gestalten der Zivilisten — seiner Amtsvorgänger.

Das Amt des sowjetischen Staatsoberhauptes ist eigentlich ein rein repräsentatives, so wie das vieler Staatsoberhäupter. Doch auch seine repräsentativen Pflichten sind eng umgrenzt. Im wesentlichen erschöpfen sie sich eben in der Uebernahme der Beglaubigungsschreiben der fremden Diplomaten. Und doch ist dieses Amt bedeutungsvoll. Wie in ferner Erinnerung an die Zaren soll die Gestalt des Bundespräsidenten, sein Name, für die Millionen der Bewohner der Sowjetunion ein Symbol, wenn möglich eine Legende sein.

Man könnte das Leben Klim Woroschilows sehr romantisch beschreiben. Geboren ist er am 4. Februar 1884 im Dorfe Werchnaja des ukrainischen Gouvernements Jekaterinoslaw. Diese Hauptstadt des damaligen Gouvernements heißt heute Dnjepropetrowsk. Der Vater des kleinen Klim war aber weder Ukrainer noch Bauer. Der Zufall hatte ihn in dieses ukrainische Dorf verschlagen. Er war Urrusse, gedienter Soldat und war Streckenwärter der Eisenbahn und als solcher in diesem Dorfe stationiert. Damals, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, bildeten die Eisenbahner eine Art Elite der revolutionären Bewegung. Sie waren, außer vielleicht den Uralarbeitern, die ersten Arbeiter in Rußland, die sich schon ganz vom bäuerlichen Boden gelöst hatten. Es ist daher kein Wunder, daß der kleine Klim schon im Vaterhaus eine gegen den Zarismus oppositionelle Atmosphäre eingeatmet hat. Sonst lebte der kleine Klim wie jeder Dorfbub. Schon mit sieben Jahren half er in einem nahen Kohlenbergwerk, um ein paar Kopeken zu verdienen. Mit zehn Jahren hütete er für die Bauern das Vieh.

Man könnte nun romantisch von dem märchenhaften Aufstieg des Hüterbuben zum Staatsoberhaupt des größten Reiches der Welt sprechen. Vom Sohn des Streckenwärters im Kremlpalast der Zaren. Doch da ist an und für sich nichts Sensationelles. Die Geschichte kennt zahlreiche solche Schicksale. Vor allem in Revolutionen. Der Aufstieg Woroschilows ist nicht sensationeller als etwa der des Abraham Lincoln vom Holzhacker und Tag-löhner zu einem der geschichtlich größten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ein Sattler, Friedrich Ebert, war der erste deutsche Reichspräsident. Und an die geschichtliche Größe eines Lincoln kommt Woroschilow nicht heran. Sein Aufstieg verlief auch nicht so blitzschnell wie derjenige des Artillerieleutnants Napoleon Bonaparte und seiner Marschälle.

Der Vater Woroschilows, der Streckenwärter Jefrem Woroschilow, wäre kein Eisenbahner, wenn er nicht, trotz seiner Armut, bestrebt gewesen wäre, seinen Sohn etwas Rechtes lernen zu lassen. In der Dorfschule lernte Klim lesen, schreiben und rechnen. Dann gab ihn der Vater in die nahe Stadt Lugansk in die Lehre, in eine Fabrik als Dreher.

Hier, in Lugansk, welche Stadt ihm zu Ehren Woroschilow heißt, beginnt auch die politische Karriere des heutigen Bundespräsidenten und Marschalls.

Die Atmosphäre war in Rußland in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts so, daß selbst Schüler und Lehrlinge sich bereits mit revolutionärer Politik beschäftigten. Seit den siebziger Jahren haben die Revolutionäre eine Reihe von Attentaten durchgeführt, die Periode des „Ins-Volk-Gehens“ war gerade vorüber, überall in Rußland gärte es. Doch es waren die späteren Sozialrevolutionäre, die nicht-marxistische Bewegung, die vor allem den russischen Bauern zu einer Revolution hinreißen wollten. Als der junge Woroschilow in die Fabrikwerkstätte kam, entstanden die ersten Ansätze zu einer Arbeiterbewegung, die ersten geheimen marxistischen Zirkel. Dort las, debattierte und studierte man eifrig. Schon 1S98, erst vierzehnjährig, wurde Woroschilow Mitglied eines geheimen sozialistischen Kreises in Lugansk. Mit 15 Jahren, 1899, spielte bereits der aufgeweckte und energische Bursche eine bedeutende Rolle, anläßlich des ersten Streikes in Lugansk. Als 1903 sich die sozialistische Bewegung in Rußland spaltete, da gehörte Woroschilow zu den Parteigängern Lenins. In den sozialistischen Kreisen des Donezer Industriegebietes wird der junge Dreher immer bekannter und vorläufig erreicht seine revolutionäre Karriere für lange Jahre ihren Höhepunkt: 1907 reist der kaum 23jährige als Vertreter seiner Organisation zum Parteikongreß nach London. Für Jahrzehnte seine erste und einzige Reise ins Ausland.

Schon diese Jugend macht den Marschall im Jieutigen Rußland zur legendären Gestalt. Zu einer Art lebendigem Denkmal, zu einem Symbol. Er ist nach Stalins Tod der letzte, der allerletzte, der bis zu den Uranfängen des Bolschewismus zurückreicht, der letzte Teilnehmer der heute schon längst zur Geschichte, gewordenen großen Parteikongresse, in der Zeit, als noch die Zaren herrschten.

In diesen Zeifen ist Klim Woroschilow jedoch keineswegs äußerlich und in seiner Lebenshaltung der typische russische Revolutionär, der Bücherwurm. Nein, er ist voll über-r schäumenden Lebens, verschmäht die Freuden des Lebens keineswegs. Er liebt Wein, Weib und Gesang, wenn auch unter Wein Wodka zu verstehen ist und unter Gesang die längst zum russischen Volksinstrument gewordene Handharmonika und die Balalaika. Er liebt fröhliche, laute, ja überströmende Geselligkeit. Er lebt das gar nicht langweilige, gar nicht hungrige Leben des hochqualifizierten, relativ hoch entlohnten Arbeiters. Trotz aller sozialistischen Anschauungen steht er mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität. Auch in seinem Beruf.

Als sich die Gelegenheit dazu ergibt, eröffnet er eine eigene Werkstatt, beschäftigt Gesellen, wird zum zugriffigen, harten kleinen Unternehmer, wie ihn das damalige Rußland vielfach kennt. Er tritt auf die erste Stufe der Leiter, die zum Kapitalisten führt. Das hat ihm die Flüsterpropaganda der Opposition, damals zwischen 1928 und 1932, als er an der Seite Stalins die „Kulaken“ verfolgte, auch immer angekreidet.

Er versteht es, sich auch sonst einzurichten. Als der erste Weltkrieg ausbricht, der patriotische Taumel Rußland ergreift, behält der Dreher einen kühlen Kopf. In seinen Schaftstiefeln, der sauberen, adretten Kleidung, dem sorgfältig gescheitelten Haar mit der militärisch nach oben gestrichenen Stirnlocke, sieht er wie ein gedienter Unteroffizier aus. Doch er drängt sich nicht in die Armee. Er bleibt solange wie möglich außerhalb. Als er endlich einrücken muß, da versteht er sich auch das zu richten. Er wird Sanitäter, immerhin besser als Infanterist im Schützengraben.

Als der Zarismus stürzt, erwacht die bolschewistische Partei zu neuem Leben. Mit seiner ganzen Kraft, mit seinem ganzen Temperament stürzt er sich in die Revolution. Als der Bolschewismus die Macht erobert, ist Woroschilow in Leningrad. Und als die bolschewistische Revolution, um an der Macht zu bleiben, das furchtbare Terrororgan, die Tscheka, schafft, ist es auch Woroschilow, der mit Dserschinski zusammen dieses Organ leitet. Doch es entwickelt sich der Bürgerkrieg. Wer weiß, wie Woroschilow geendet hätte, wenn er Tschekist geblieben wäre. Jetzt überträgt ihm die Partei, wie vielen Arbeitern, eine militärische Aufgabe. Er geht zurück in seine Heimat, nach Lugansk, und organisiert dort im Rücken des Feindes eine Partisanenabteilung. Später die 5. ukrainische Rote Armee. Als eine der Entscheidungsschlachten des Bürgerkrieges geschlagen wird, ist Woroschilow mit seiner Armee dabei. In Zaryzin, das heute Stalingrad heißt. Er ist dort einer der Kommandierenden. Zaryzin wird vielfach zum russischen Schicksal auch Woroschilows. In Zaryzin entscheidet sich nicht nur der Bürgerkrieg. In Zaryzin beginnt auch das Schicksal der bolschewistischen Revolution. Denn in Zaryzin beginnt der Kampf zwischen Stalin und Trotzki. Es ist keine Frage, auf wessen Seite Woroschilow steht. Der Dreher steht natürlich auf der Seite des Schustersohnes gegen den Intellektuellen, den Herrensohn. Trotzki, mit seinem scharfen Blick, mit seiner Verachtung des überschäumenden Lebens, ist ihnen allen unheimlich. Denn in Zaryzin wird nicht nur tapfer gekämpft, werden nicht nur Gegenrevolutionäre erschossen. Die Lebenslust der ehemaligen Proletarier, jetzt Herren über Leben und Tod in der belagerten Stadt, äußert sich in lauten Gelagen. Damals wurde die Freundschaft zwischen Stalin und Woroschilow geschlossen. Vorerst sollten sie sich noch oft auf den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges treffen. Woroschilow bleibt im Süden.. Er ist Armeekommissar, gelegentlich auch Armeekommandant. Im polnischen Krieg versucht er die Pläne Stalins durchzusetzen. Er marschiert nach Lemberg. Bekanntlich ein Mißerfolg. Woroschilow macht im persönlichen Leben den Eindruck eines typischen Russen. Gutmütig, großzügig, rasch vergessend, ein Mann ohne Haß. Doch wie viele Russen hat er auch noch eine zweite Natur. Plötzlich kann er hart werden, Todesurteile unterschreiben, ja den Revolver selbst in die Hand nehmen.

Woroschilow bleibt nach dem Bürgerkrieg beim Militär. Vervollständigt sein militärisches Wissen, kommandiert eine Armee. Doch gleichzeitig bleibt er auch aktiver Politiker, der an dem Leben der Partei regen Anteil nimmt.

Nach dem Tode Lenins zieht ihn Stalin nach Moskau. Als Trotzki vom Posten des Kriegsministers abgesetzt wird, wird Frunze Volkskommissar für den Krieg. Und als Frunze auf dem Operationstisch stirbt, überträgt Stalin Woroschilow dieses wichtige Amt. Seit 1926 ist er im Politbüro. Bis heute. Seit damals ist er ein treuer Gefolgsmann Stalins. 1934 wird die Marschallwürde in der Sowjetunion geschaffen. Fünf Marschälle werden ernannt. Zwei ehemalige kaiserliche Offiziere — Tuchatschewski und Jegorow. Ein ehemaliger kaiserlicher Berufsunteroffizier, Budenny, der ehemalige Arbeiter, im Bürgerkrieg zum Berufsmilitär gewordene Blücher und endlich Woroschilow, bei dem man kaum sagen kann, daß er Berufssoldat ist, eher Parteipolitiker in Uniform. Drei von diesen Marschällen wurden 1937 hingerichtet — nur zwei blieben. Bis dahin trug Woroschilow eine vollkommen abzeichenlose Uniform. Traditionsgemäß sah der Kriegsminister wie ein gewöhnlicher Soldat aus. Jetzt trägt er einen goldenen Kragen, später die goldenen Achselstücke des Marschalls. Immer noch liebt der alternde Marschall Feste und schäumende Gelage. Nach dem großen Empfang und Ball an jedem 7. November für das diplomatische Korps im Palais Spiridonowka 17, wenn alle ausländischen Gäste sich bereits verabschiedet haben, geht es noch einmal hoch her. Noch einmal wird aufgetischt, noch einmal stimmt die Musik an und der Marschall und Kriegsminister tanzt den russischen Reigen...

Doch die Armee vertraute man ihm nur im Frieden an. Knapp vor Eintritt der Sowjetunion in den zweiten Weltkrieg mußte er seinen Posten als Kriegsminister abgeben. Man sagt, er habe ihn im Winterkrieg gegen Finnland verloren. Doch er bleibt einflußreiches Mitglied des Politbüros, behält eine Art Oberaufsicht über die Streitkräfte. Noch einmal wird sein Name genannt, als er als Vorsitzender der Kontrollkommission nach dem Kriege nach Ungarn gesandt wird.

Nach der Sowjetverfassung ist die Stellung eines Bundespräsidenten ein rein repräsentativer Posten ohne jede persönliche Macht. Der offizielle Titel ist etwas langatmig: „Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Rates der Sowjetunion“. Dieses Präsidium ist das kollektive Staatsoberhaupt. Es besteht aus dem Vorsitzenden und 16 Vizepräsidenten, den 16 Staatspräsidenten der Bundesrepubliken und nur noch aus 4 weiteren Mitgliedern.

Und doch ist Woroschilow persönlich von großem Einfluß. Ist er doch auch Mitglied des Parteipräsidiums. In diesem Parteipräsidium, der eigentlichen Regierung Rußlands, repräsentiert er die Tradition der Revolution und die Kontinuität der kommunistischen Politik. Denn nur er und Molotow sind noch die einzigen, die aus der Zeit des Zarismus in die Gegenwart hineinragen. Und Woroschilow ist kein Ja-Sager. Das hat gelegentlich sein Freund und Meister Stalin erfahren, damals, als er 1932 die Soldatenbriefe auf den Tisch warf und ein Einlenken in der Bauernpolitik verlangte.

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