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Das Gremium der weisen Männer

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Nikita Chruschtschow ist jetzt nach außen hin der einzige Mann, der die Verantwortung für die Innen- wie auch die Außenpolitik der Sowjetunion trägt. Man ist daher leicht geneigt, jede politische Aeußerung in der Sowjetunion als die persönliche Politik Chruschtschows zu bezeichnen. Die Vergleiche mit der . Machtstellung Stalins“ wollen nicht abreißen. Es ist daher einmal interessant, zu untersuchen, wie die oberste Spitze des sowjetischen Machtapparates überhaupt arbeitet.

Es ist allgemein bekannt, daß in Wirklichkeit die Partei und ihr Apparat es sind, welche die eigentliche Regierung der Sowjetunion darstellen. Der Sowjetapparat, also die Staatsverwaltung, ist nur ein reiner Vollzugsorganismus, und zwar von der untersten Stelle bis hinauf zum Ministerrat, von der Partei kontrolliert und geleitet. In den letzten Jahren indes hat man sich bei der Beurteilung sowjetischer Verhältnisse an sehr viele Vereinfachungen gewöhnt. So ist bekanntlich die eigentliche Sowjetregierung das Präsidium des Zentralkomitees der Partei. Früher hieß das analoge Organ Politbüro. Heute bezeichnet man darum noch oft das 'Parteipräsidium mit dem alten Namen Politbüro. Das ist jedoch eine Vereinfachung, die der Wirklichkeit nicht mehr ganz entspricht. Als etwa zwei Jahre vor dem Tode Stalins die Reorganisation der Partei durchgeführt wurde, war eine solche Gleichsetzung noch in etwa berechtigt, heute jedoch ist sie das schon längst nicht mehr.

Die in Rußland herrschende Partei basiert auf ihren Organisationen in den einzelnen Industriebetrieben und in den Kolchosen auf dem Lande, früher Zellen genannt. Rein statutenmäßig vereinigen sich die Abgeordneten dieser Zellen periodisch, um das lokale ständige Parteiorgan und die Delegierten für die entsprechenden Bezirkskongresse zu wählen. Alle paar Jahre tritt einmal der Kongreß der Gesamtpartei zusammen, gebildet aus den Delegierten aller Bezirksorganisationen. Stalin hat bekanntlich viele Jahre lang den Parteikongreß nicht einberufen, erst knapp vor seinem Tode den neunzehnten. Später, nach seinem Tode, trat der 20. Kongreß zusammen mit der berühmten Rede Chruschtschows gegen Stalin und all den Folgen in und außerhalb der Sowjetunion. Als oberstes Organ der Partei ist der PaVteikongreß auch der Souverän des Sowjetstaates.

Seit 1903, also seit dem offiziellen Bestehen des bolschewistischen Flügels innerhalb des russischen Sozialismus, gab es im ganzen nur 20 Parteikongresse in einem Zeitraum von mehr. als 50 Jahren. Dabei folgten diese Kongresse unmittelbar nach der Revolution kurz aufeinander, um dann zur Zeit Stajins jeweils länger als ein Jahrzehnt auszubleiben. Die wichtigste Funktion des Parteikongresses ist jeweils die Wahl des Zentralkomitees. Dieses, das wenigstens jährlich statutengemäß zusammenzutreten hat, ist der eigentliche Inhaber der Macht. Stalin hatte es jedoch weitgehend entmachtet. Inzwischen hat dieses Parteiparlament wieder die alte Macht wie unter Lenin zurückerhalten.'

Hinzu kommen noch andere wesentliche Veränderungen. Früher bestand die ständige Verwaltung des Zentralkomitees aus sogenannten Abteilungen. An der Spitze jeder Abteilung stand ein vom Zentralkomitee gewählter Parteisekretär. Die bekanntesten Abteilungen sind: die Abteilungen für Agitation und Propaganda, die landwirtschaftliche Abteilung, die Abteilung für den Verkehr mit dem Auslande, also die Zentrale, der die Leitung der Parteien im Ausland unterstand, die Abteilung für die Verwaltung der Kader u. a. m. Dazu wählte das Zentralkomitee noch sogenannte Büros. Diese bestanden nicht aus Parteibeamten, sondern aus Mitgliedern des Zentralkomitees und hatten die Aufgabe, in der Zeit, während der das Zentralkomitee nicht tagte, für die Durchführung der Beschlüsse besorgt zu sein. Die beiden wichtigsten Büros waren das politische Büro (Politbüro) und das Organisationsbüro der Partei (Orgbüro). Offiziell waren diese beiden Büros gleichrangig. Dazu kam im Laufe der Jahre das Gremium der Parteisekretäre, das Parteisekretariat. Doch mit der Zeit errang das Politbüro, das über alle politischen Fragen zu entscheiden hatte, einen gewissen Vorrang, denn schließlich waren auch die Ernennungen auf die hohen Posten in Partei und Staat eine politische Angelegenheit. Trotzdem, obwohl etwas im Hintergrund und Schatten, blieben das Orgbüro als die eigentliche Leitung der Partei und das Personalbüro sehr mächtige Instanzen. Stalins Machtfülle erfloß nicht zuletzt daraus, daß er in diesen beiden Büros Mitglied war.

Was früher nur de facto war, nämlich der Primat des Politbüros, ist heute auch de jure so. Das Präsidium der Partei, das die Rolle des einstigen Politbüros übernommen hat, ist heute offiziell die höchste Instanz als Parteiexekutive, welcher der ganze übrige Parteimechanismus untersteht. Nur das Sekretariat ist geblieben, alle anderen Büros sind verschwunden. Die Funktion des Präsidiums ist in Wirklichkeit zweifach: es hat die Beschlüsse des nun öfter zusammentretenden Zentralkomitees durchzuführen, gleichzeitig aber ist es auch jene Instanz, die dem Zentralkomitee selbst Vorschläge zur Genehmigung unterbreitet und damit die gesamte Sowjetpolitik initiativ beeinflußt. Diese Neuregelung im obersten Führungsgremium der bolschewistischen Partei schließt weitgehend die Diktatur eines einzelnen Mannes aus. Unrichtig ist darum die Annahme, daß eine einzelne Persönlichkeit, heute etwa Chruschtschow, persönlich bestimmte Pläne und Programme ausarbeitet, sie dann im Parteipräsidium und im Zentralkomitee durchsetzt und so den Gang der Sowjetpolitik eigenmächtig bestimmt. Der Mechanismus der Beschlußbildung in der obersten Parteileitung ist weitaus komplizierter, als man sich dies vorzustellen pflegt. +

Früher, etwa noch zehn Jahre vor dem Tode Stalins, wußte man genau, wie das Politbüro funktionierte. Die Sitzungen dieses Gremiums fanden jeweils am Donnerstag statt. Die Tagesordnung und , die Traktanden wurden vom Parteisekretariat vorbereitet. Der Ort der Sitzung wechselte. Meistens fand die Sitzung im Kreml selbst statt, sehr selten am Sitze der Parteizentrale an der Stareja Bloschjad, außerhalb des Kremls. Wenn die Sitzung nicht ausdrücklich als geheim erklärt worden war, hatte eine Reihe von Personen das Recht, als Zuhörer anwesend zu sein. Dieses Privileg besaßen alle Mitglieder des Zentralkomitees, alle Mitglieder der Sowjetregierung und der Regierungen der einzelnen Bundesrepubliken, schließlich die Botschafter und Gesandten der Sowjetunion im Auslande, wenn sie sich gerade in Moskau befanden. Wenn man während, einer solchen Sitzung des Politbüros einen Blick in gewisse Nebensäle warf, konnte man daselbst ernst konzentrierte Männer mit dicken Aktenmappen, oft auch mit Plänen und Zeichnungsrollen erblicken. Manche wurden in. den Sitzungssaal des Politbüros berufen, manche verließen das Gebäude wieder, ohne gehört worden zu sein. All diese Männer waren sogenannte Sachverständige, entweder einzelne Gelehrte oder die Vertreter wissenschaftlicher Institute, denen von der Parteileitung aufgetra-

gen worden war, gewisse Projekte auszuarbeiten oder zu gewissen Vorhaben Stellung zu nehmen.

Aehnlich ist es auch heute noch, nur daß das Parteipräsidium ebenso wie das Zentralkomitee sehr oft nicht mehr im Kreml tagt. Einige Dutzend Kilometer von Moskau entfernt, etwas abseits von der Autostraße nach Mpschajsk, auf welcher Straße Napoleon einst in Moskau eingezogen .ist, liegt das Gut Gorki, von den Eingeweihten der kleine Kreml genannt. Es gehörte einst einem der großen adeligen Magnaten Rußlands. Es besitzt ein schönes Schloß im Empirestil, zahlreiche bequeme Nebengebäude und einen herrlichen Park. Alles befindet sich in tadellosem Zustande. Am Schloß sieht man noch die Marmortafel, die kundtut, daß hier einst Kaiser Alexander I., Herrscher über alle Reußen, zu Gaste geweilt hat. Hier verlebte Lenin seine letzten Jahre, als er gelähmt war, hier starb er auch. Hier befand sich auch jahrzehntelang die eigentliche Wohnung Stalins und einiger anderer hohen Funktionäre. Sie wohnten jedoch alle nicht im Schloß, sondern in den bequemeren Nebengebäuden. Die Viehhöfe, der Gemüse- und Obstgarten lieferten die Lebensmittel und die prachtvollen Orangerien den Blumenschmuck für die Wohnungen.

Seitdem die Tore des Kremls für das Publikum wieder geöffnet sind und im Kremlpalast ein Bienenschwarm von Beamten arbeitet, wer-, den also die Sitzungen des Parteipräsidiums und sehr oft auch die des Zentralkomitees nach dem Schloß Gorki verlegt. Die Zahl der Zuhörer ist jetzt weit beschränkter als einst. Die vielen wissenschaftlichen Institute jedoch spielen heute noch dieselbe, wenn nicht vielleicht noch größere Rolle als einst.

1935 und 1936 wurde bekanntlich in der Sowjetunion die Mehrzahl der Historiker verhaftet und in einem Prozeß unter Ausschluß der Oeffentlichkeit wegen Sabotage verurteilt. Ob der Prozeß berechtigt war oder nicht, kann heute noch niemand beurteilen. Doch bei der Rolle, welche die Historiker, darunter auch Nichtmitglieder der Partei, spielen, könnte man sich wohl vorstellen, daß ein übelwollendes Kollegium von Historikern der Sowjetpolitik schweren Schaden zufügen könnte. Tatsache ist, daß die Arbeit der Historiker in der sowjetischen Außenpolitik in den letzten Jahrzehnten sehr klar zum1 Ausdruck gelangt. Es ist sehr deutlich erkennbar, daß den sowjetischen Annexionen während und nach dem zweiten Weltkrieg intensive Arbeiten der Historiker, der Ethnographen und Geographen vorausgegangen sind. Bis zur kleinsten Insel im Stillen Ozean sind alle jene Gebiete wiederum erworben worden, die einmal russischer Besitz' gewesen sind. Sehr sorgfältig sind die Ansprüche der Zaren durch alle Jahrhunderte hindurch auf gewisse Territorien durchgearbeitet und so ein gewaltiges Material gesammelt worden, um die Erneuerung dieser Ansprüche zu untermauern. In Ostgalizien zum Beispiel haben die Russen 1939 ganz genau gewußt, wie weit sie das Land besetzen wollten. Die historische Grenze des alten Königreiches Galizien und Lodomerien fiel hier mit der ethnographisch politischen Grenze zusammen. Dabei war die Demarkationslinie so geschickt gezogen, daß sie wieder mit der berühmten Curzon-Linie zusammenfiel, die 1919 die drei westlichen Großmächte als Grenze zwischen Polen und der westukrainischen Republik bestimmt hatten. In Potsdam lief denn auch diese Grenze der sowjetischen Gebietsforderungen unter dem Namen Curzon-Linie und war deshalb mit Argumenten vom Westen nur schwer zu bekämpfen.

Offenkundig haben die sowjetischen Historiker in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben übertragen erhalten. Dabei geht es darum, abzuklären, wie das eine oder andere der noch heute bestehenden Probleme seinerzeit von den zaristischen Regierungen zu lösen versucht worden war und welche Resultate dabei gezeitigt wurden. Dieses so erarbeitete Material geht dann an die juristischen Institute über, die nun die zeitgemäße Fassung der betreffenden Gesetze vornehmen.

Hinter der monolithischen Fassade der regierenden Partei hat sich im Laufe der Jahre eine Kaste von Wissenschaftlern gebildet, verteilt auf Hunderte von Instituten, deren Einfluß, von der Oeffentlichkeit aus nicht sichtbar, immer größer wird. Dabei ist es nämlich wie bei den Ingenieuren. Man kann einen einzelnen Ingenieur, selbst eine Gruppe von solchen verhaften und deportieren. Gegen die Gesamtheit der Ingenieure kann die Sowjetregierung nicht vorgehen. Die Wissenschaftler aber haben in den paar Jahren nach dem Tode Stalins soviel Macht erworben, daß man nicht einmal einen einzelnen von ihnen heute angreifen kann. Auch das Parteipräsidium würde hier in ein Wespennest greifen.

Damit ist auch die heutige Rolle eines Chruschtschows, der nun Ministerpräsident und Parteipräsident in einer Person ist, eine ganz andere als die Stalins vor etwa zwanzig Jahren. Es gibt keine ausschließlich Chruschtschowschen Pläne wie etwa der neueste Plan der Reorganisation der Landwirtschaft, sondern nur Pläne der entsprechenden wissenschaftlichen Körperschaften. Es ist wahrscheinlich, daß in den jeweiligen Sitzungen des Parteipräsidiums die Meinung Chruschtschows zugunsten des einen oder anderen Planes schwer wiegen mag. Auf jeden Fall muß er mit seinem Namen der Oeffentlichkeit gegenüber den einmal gewählten Weg decken. Man gibt ihm hierfür einen langfristigen politischen Kredit, doch Alleinherrscher ist er nicht. Es kann leicht in einigen Jahren passieren, daß auch ein Chruschtschow das Opfer fehlerhafter Theorien sowjetischer Wissenschaftler wird. Das Gremium der „weisen Männer“ in der Sowjetunion hat Chruschtschow vorgeschoben und ihm die Alleinvertretung übertragen, weil seine ganze Art und Weise und der naturhafte Stil, wie er sich gibt, am besten geeignet zu sein scheinen, die in der angegebenen Art und Weise zustande gekommenen Beschlüsse der Regierung beim russischen Volk populär zu machen.

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