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Hämmerer an der Kremlmauer

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Ein kalter Herbstwind fuhr über den Roten Platz. Es war wenige Tage nach Chruschtschows Sturz und der Zufall wollte es, daß an dem Nachmittag das Lenin-Mauso- leum geschlossen war und man somit auch keinen Zutritt zu den Grabstätten hinten an der Kremlmauer erhielt, wo man nach den bekannten dramatischen Ereignissen auch Stalin beigesetzt hatte. Man sah bloß, daß dort bei den Gräbern zwei Arbeiter standen und an der Mauer herumhämmerten. Es wirkte gespenstisch, und der erste Gedanke war: Graben sie nun den Stalin wieder aus, um ihn zurück ins Mausoleum zu tragen?

Die Wirklichkeit war glücklicherweise weniger gespenstisch und das Geheimnis der Hämmerer an der Kremlmauer bald aufgeklärt: sie bereiteten die Grabstätte vor für den soeben bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommenen Sowjetmarschall Birjusow. Den anderen Marschall ließ man in Frieden. Und soweit offene Gespräche mit politisch Interessierten möglich waren, hieß es übereinstimmend, daß eine Rückkehr zum Stalinismus undenkbar sei. Freilich schien Moskau, das ohnehin ein abweisend-verschlossenes Gesicht besitzt und dessen Bewohner einem auf der Straße kaum je in die Augen blicken, in diesen Tagen den Kragen nicht nur um des harschen Windes willen hochgekrempelt zu haben. Das Volk hatte ja keine Ahnung, was wirklich geschehen war, und sowenig auch eine starke Unruhe zu spüren war, sowenig zeigte man sich Ausländern gegenüber bereit, eine Ansicht über das Vorgefallene zu äußeren.

Später in Leningrad erlebten wir es sogar, daß eine Dolmetscherin, mit der wir uns in einem „offiziellen“ Auto auf deutsch über Chruschtschow unterhielten, bei der Nennung dieses Namens den Finger auf die Lippen legte und auf den Chauffeur zeigte. Das war zwar eine Ausnahme, gehört aber doch zum Bild: Man ist, nachdem man unter Chruschtschow Geschmack am freieren Diskutieren gewonnen hatte, wieder etwas vorsichtiger geworden. Und nach dem wenigen zu schließen, das in Gesprächen mit dem Volke herauszubringen war, scheint die Ansicht ziemlich weit verbreitet zu sein, daß die gegenwärtige Zweiteilung der Gewalt nicht von Dauer sein könne und bald einmal wieder einer Einmannherrschaft weichen werde. Jemand sprach sogar von „Marionetten“, die von. einer geheimnisvollen, für den Sturz Chruschtschows verantwortlichen höheren Macht gelenkt würden. Eines Tages werde diese Macht sich zu erkennen geben. Wo das Volk nicht

ordentlich informiert wird, gedeihen die Mythen

Offener und ergebnisreicher waren private Gespräche mit einigen Moskauer Persönlichkeiten, die dank ihrer relativ hohen Position einerseits über die Vorgänge im Kreml informiert sind, anderseits dank besonderer Umstände zu sprechen bereit waren. Aus diesen Gesprächen ließ sich folgender Eindruck gewinnen:

• Der Sturz Chruschtschows . war die Folge einer Revolte des „Apparats“, wobei subjektive und objektive Gründe maßgebend waren. Zunächst die subjektiven: Unter Stalin hatte sich im „Apparat“, und das heißt vor allem in den oberen Rängen von Partei und Verwaltung, die Korruption eingenistet. Wer .zum Apparat gehörte, erhielt mancherlei Privilegien. Er konnte in besonderen Geschäften kaufen, er erhielt besondere Wohnungen, er konnte Staatsautos mit Chauffeur für private Zwecke benutzen usw. Wer in-, der Verwaltung etwas . erreichen wollte, der legte damals dem zuständigen Beamten beim Weggehen ein Kuvert mit einem Geldschein hin. Als Chruschtschow an die Macht kam, begann er sogleich, die Korruption zu bekämpfen und gab zum Beispiel die Parole aus: „Keine Kuverts mehr!“ Er ließ Tausende von Dienstautos in Taxis verwandeln und verordnete, daß die verbliebenen Dienstwagen ausschließlich für Dienstfahrten benutzt werden durften. Er ging gegen die weitverbreitete Korruption bei der Wohnungszuteilung an und brachte die Verwaltung vor allem mit der Verfügung gegen sich auf, daß jeder Beamte bis hinauf zum Minister verpflichtet sei, sich Beschwerden über seine Amtsführung anzuhören. Kurz — Chruschtschow beschnitt der „neuen Klasse“ drastisch ihre Privilegien, was sich übrigens auch auf deren Einkommen ausgewirkt haben soll. Was den Apparat in der Armee anbelangt, so verscherzte Chruschtschow sich teilweise dessen Sympathien durch jenen großzügigen Abbau des Mannschaftsbestandes der Sowjetarmee vor einigen Jahren, durch den Tausende von Offizieren in ein recht hartes Zivilleben zurückgeworfen worden waren.

• Doch zu diesen, für den Apparat nicht eben schmeichelhaften subjektiven kommen auch noch objektive Gründe. Es ging nicht nur um die Privilegien der Partei, es ging letztlich um die Partei und den Staat selbst. Das Sprunghafte, Unberechenbare in Chruschtschows Wesen, seine selbstherrlichen Entscheidungen, gewisse unüberlegte politische und wirtschaftspolitische Maßnahmen, seine Starrköpfigkeit im Verhalten gegenüber den Rumänen, Italienern, Jugoslawen, seine vorschnellen Versprechungen in Sachen Übergang zum Kommunismus usw. haben in einem Augenblick, da die Sowjetpartei wie der Sowjetapparat sich ungeheuren Problemen und Aufgaben gegenübersehen, den Apparat zum raschen Handeln veranlaßt, um wieder Ordnung ins Land und in die Politik zu bringen. Dabei ging und geht es zu 90 Prozent um innenpolitische Probleme. Wer wie wir Gelegenheit hatte, sich in Moskau, Leningrad und hinter dem Kaukasus in Armenien etwas mit den ökonomischen, sozialen, technischen Problemen dieses in manchem doch noch ungemein rückständigen Landes vertraut zu

machen, der bringt für diese Unruhe im Apparat volles Verständnis auf. Da gibt es noch für mindestens zwei Generationen übergenug zu tun, was den Wert des bisher Erreichten freilich keineswegs schmälert. Ein Gesprächspartner formulierte es so: „In einem so riesigen Land mit so riesigen Problemen kann man nicht einen alten starrsinnigen Mann an der Spitze haben.“ Ob die nun eingeführte Zweiteilung der obersten Gewalt tatsächlich einem Willen zum weiteren Abbau des Personenkults und der Alleinherrschaft entspricht, kann allerdings erst die Zukunft zeigen.

• Aber auch außenpolitisch drohten die Felle einem davonzuschwimmen. Die Aufsplitterung des Weltkommunismus und der Konflikt mit China beschworen die Gefahr einer Isolierung der — bis vor kurzem alleinherrschenden! — Sowjetpartei herauf. Deren Autorität war gleichzeitig innenpolitisch durch Chruschtschows Liberalisierungsexperimente und durch seine Vorliebe für pragmatische Entscheidungen sowie durch die wachsende Bedeutung der Wissenschaftler und Techniker im

Staate geschwächt worden.

Alles in allem: der Sturz Chruschtschows erscheint auf Grund dieser Darstellung als ein Versuch des zu Konformismus, Immobilismus und Bürokratismus neigenden Apparats in Partei und Staat, die Zügel wieder an sich zu reißen, die ihm in der Ära Chruschtschow etwas entglitten waren. Wenn diese Deutung der Vorgänge im Kreml zutrifft, dann würde dies bedeuten, daß zwar von einem politischen Rückfall kaum die Rede sein kann, jedoch eine Art Periode des politischen Stillstandes zu erwarten ist.

Bezeichnend für die Stimmung in jenen Kreisen, die auf eine Demokratisierung des Regimes drängen, ist die Bemerkung eines prominenten Gesprächspartners, er könnte sich heute die Zunge abbeißen, wenn er denke, was er früher Kritisches über Chruschtschow gesagt habe. Es besteht die Gefahr, daß nun der gesichtslose Funktionär wieder an Macht gewinnt. Freilich konnten wir., uns in zahlreichen Gesprächen mit teilweise recht prominenten PersöhC lichkeiten davon überzeugen, daß ės nicht an Gegenkräften fehlt.

Mitteleuropa

Wir kennen die Geschichte von Atlantis. Es. ist die Kunde von einem versunkenen Kontinent, verschlungen vom Meer. In der letzten Oktoberwoche wurden die Gipfel eines von der Sturmflut der Geschichte überspülten politischen Kontinents das erstemal nach vielen Jahren wieder sichtbar. Sie tauchten auf aus dem. breiten schmutziggrauen Strom, als der sich die Donau im Spätherbst in Budapest darbietet. Unter dem verhangenen Oktoberhimmel wurden die ersten noch sehr verschwommenen Konturen von Mitteleuropa wieder sichtbar.

Mitteleuropa! Dieses Wort von den ungarischen Gastgebern Außenminister Kreiskys und seiner Begleitung nicht einmal, sondern einige Male ganz beiläufig in Gespräche eingestreut, machte bald die Runde. Es wurde von den Gästen aufmerksam gehört.

Was meinten die Ungarn damit? Die offiziellen Sprecher der Regierung Kadar und die ganz unoffiziellen Männer und Frauen der ungarischen Metropole, in deren Ohren dieses Wort auch einiges zum Klingen brachte? Zunächst wollen sie ein auch hierzulande mit Vorliebe gebrauchtes Klischee gerne korrigiert wissen. Bis Klingenbach reicht „der Westen", und drüben vor Hegyeshalom beginnt „der Osten". „Den Osten“ als monolythischen Block gibt es nicht mehr. Ebensowenig wie „der Westen“ eine Hilfskonstruktion geworden ist. Dafür Verständnis haben, sollte gerade uns Österreichern nicht sehr schwerfallen. Die „Lockerungsübungen“, geduldet und zum Teil gefördert von den heutigen Inhabern der Macht in unserem Nachbarstaat, haben einen Punkt erreicht, wo man ein Bekenntnis zum wahren, durch Geschichte und Geographie vorgezeichneten Standort wieder wagt. Und die Geschichte hat stets die Politik nachgezogen.

Mitteleuropa! Was meinen die Ungarn damit? Zunächst das Gespräch mit „dem Schwager“ — als solcher gilt der Österreicher nach wie vor — wieder aufzunehmen. Es gibt sehr viel zu erzählen, auf beiden Seiten. Und es gibt — das war in der Vergangenheit nicht immer so — dabei so gut wie keine Ressentiments. Im Gegenteil: Das Bekenntnis zu gemeinsamen Passagen der Geschichte ist heute auch in offiziellen Gesprächen gar nicht unüblich. Während in Prag gelegentlich unsichtbar Hus mit bei Tisch sitzt und der Weiße Berg seine langen Schatten wirft, sind Kossuth und die Toten von Arad keine Realitäten mehr. Es hat hier zu viele Tote in der Zwischenzeit gegeben.

Mitteleuropa! Was meinen die Ungarn darunter nicht? Wer sich zu Träumereien an abendländischen Kaminen hergibt, wer gar Gedanken an Restaurationen alter Gesellschaftsordnungen und Regierungsformen hegt, geht weit in die Irre. Er kennt die Menschen der Gegenwart nicht, er hat in die Tiefen ihrer Gedanken keinen Einblick.

Eines ist sicher: Das „Prinzip Hoffnung“ ist ein kleines, aber zähes Flämmchen im Nachbarland. Ein starker Luftzug muß es auslöschen. Gleichgültig ob er vom Osten oder vom Westen kommt.

Der Hauch, der aus einem neutralen, in sich selbst ruhenden Österreich kommt, kann es anfachen — aus einem Österreich, das seine Aufgabe und Berufung erkennt und ihr treu bleibt. Als „einen der großen Umschlagplätze der Welt“ erkannte gerade der Gründer der „Furche“, Friedrich Funder, Österreich, dessen Aufgabe es sei, „dem europäischen und dem Weltfrieden zu dienen“.

Deshalb müssen wir bleiben, was wir sind.

Kurt Skalnik

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