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Budapest in diesen Tagen

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DASS DER POSTEN an der Brücke steht, die Maschinenpistole im Anschlag, ist ein Regiefehler. Das Bild ist aus vergangenen Szenen, und man vergaß, es wegzuräumen. Nun steht der Posten aber da, auf der Brücke nach der Grenze, und gibt dem neuen Szenenbild eine Farbe, die vom Regisseur nicht gewollt ist. Auf der Fahrt von der Grenze nach Budapest vergißt man den Pasten bei gutem Essen und besserem Wein im Speisewagen. Aber der Schatten bleibt, auch wenn man aussteigt, ins Hotel fährt und diese Stadt genießt. Man kann sie genießen, es ist sehr viel da zum Genießen.

Auch die Musik aus den Lautsprechern rings um den Bahnhofsplatz winkt deplaciert. Hillbilly-Songs, amerikanische, englische, französische Schlager, herausgegrölt wie früher die Stimmen der Parteiführer und die Marschlieder der kamimuinistischen Armee, wirken hier noch immer forciert, aufgepfropft, unecht. Nicht, daß die westlichen Schlager in Budapest noch nicht zu Hause wären, man hört sie, wenn man abends durch die Straßen geht, aus Wohnungen, in denen private Parties stattfinden. Man hört die ganze Skala der modernen Musik in den Konzertcafes und in den Tanzsälen; aber gedämpft, verhalten, im Grundton dieser Stadt, die es schwer, aber nicht drückend zu empfinden saheint, daß sich in ihr zwei Welten überschneiden; die politische Welt des europäischen Ostens, die Welt des Lebensstils und der Lebensform des europäischen Westens — mit einem Hauch des Westens von vorgestern.

ICH KAM NICHT ALS TOURIST und Reisereporter nach Budapest, sondern zu einem politischen Anlaß, zum Besuch Chruschtschows. Als Zeuge des Empfanges und der Anwesenheit Chruschtschows in Ungarn kam ich näher an das heran, was in dieser Stadt echt ist. Der Soldat mit der Maschinenpistole war endlich aus dem Szenenbild verschwunden, auch sein Schatten. Er tauchte immer wieder auf, wenn ich durch die Straßen ging, mit einer Neugier, die dort noch unziemlich erscheint, oder wenn ich mit Menschen sprach, die sehr frei sprachen, bis das freie Sprechen plötzlich abbrach oder auslief oder versickerte. Vorsicht, las ich aus ihren Mienen. Der Soldat war an der Grenze gehlieben, die Lautsprecher am Bahnhofsplatz waren abgeschaltet, als man auf Chruschtschow wartete, und in der Zeremonie des Empfangs spiegelte sich dann das Bild des Budapest von heute.

DER EMPFANG WAR DURCHAUS ECHT. Ich sah und ich fühlte, daß nichts forciert worden war und nichts vorgespielt wurde. Die Bevölkerung hatte von dem Ereignis im großen und ganzen keine Notiz genommen, und sie war weder feindselig noch enthusiastisch. Chruschtschow kommt! Der „Sieger“ von 1956. Aber die Jahreszahl 1956 scheint ein Beispiel dafür zu sein, daß es Verdrängungen auch im politischen Bereich gibt. 1956, was war damals geschehen? Warum nennen Sie diese Jahreszahl? Die an der Saite des „Siegers“ gestanden waren, frohlocken nicht, die Besiegten scheinen keine Bitterkeit mehr zu fühlen. Als Chruschtschow kam, schlug ihm nicht der Jubel der wenigen entgegen, die unter dem Schutz seiner Panzer am Sieg beteiligt gewesen waren, aber auch nicht der Haß der vielen, die damals nicht glaubten, daß die Wunde verheilen könnte. Am Bahnhofsplatz standen rund 10.000 Menschen. Es dürften nicht viel mehr gewesen sein, aber auch nicht viel weniger. Die gekommen waren, schrien sich nicht heiser. Doch man konnte gerade aus der Verhaltenheit, mit der sie den Sowjetführer empfingen, etwas wie Sympathie erkennen; die Sympathie der 10.000 am Bahnhofsplatz.

Chruschtschow mußte empfunden haben, wie ernst dieser Empfang war und daß die Sympathie der 10.000 am Bahnhofsplatz eine Insel ist im Meer aus Gleichgültigkeit und Resignation. Er wußte, daß hinter den 10.000 am Bahnhof die Millionen stehen, für die er heute nicht mehr der Schlächter von 1956 ist, doch bestenfalls Gast Kadars, mit dem man vorliebnehmen muß. Es war ein Chruschtschow ohne Flarn-boyance, ohne die große Geste der rauhen Herzlichkeit, ein gedämpfter Chruschtschow, der durch Wärme und verhaltene Sympathie über den Kreis der zehntausend am Bahnhof hinaus wirken wollte. Man möchte nicht glauben, wie vielseitig Chruschtschow sein kann, wenn er will, sogar taktvoll. Chruschtschows Bemühen blieb nicht erfolglos. Drei Tage, nachdem er gekommen war, begann Budapest langsam von ihm Notiz zu nehmen.

KADAR, ABER NICHT CHRUSCHTSCHOW, war der wahre Mittelpunkt aller Empfänge, Reisen und Geschehnisse bei dessen Besuch in Budapest; optisch, aber auch im Bewußtsein der Parteileute und der Bürger. Weit davon entfernt, diese Situation zu ändern, spielte der Schauspieler Chruschtschow die Rolle des Gastes hinter einem dominierenden Gastgeber voll aus und trat bescheiden zurück, um die Scheinwerfer auf Kadar strahlen zu lassen. Unausgesetzt tanzte der rundliche Sowjetführer um Kadar herum, der steif und ziemlich unbewegt dastand. Immer wieder ging Chruschtschow auf Kadar zu, fast nie kam Kadar auf Chruschtschow zu. Hier klappte die Regie ganz ausgezeichnet und gab den Parteifunktionären, und über sie dem ungarischen Volk, das Bild der völligen Gleichwertigkeit der beiden Staatsbürger und der beiden Staaten, den Eindruck einer kongenialen Weggemeinschaft.

MIT FEINER HAND war das Bild so gezeichnet worden, daß die Weggemeinschaft in die Richtung eines humanistischen Sozialismus zu führen schien und vor dem Einbruch der Geister der Vergangenheit geschützt werden mußte. Als Budapest Notiz nahm, daß Chruschtschow da war, verstand es auch die Botschaft und nahm sie nicht ohne Genugtuung und Wohlwollen auf. Chruschtschows Pantomime der Gleichrangigkeit und der Anerkennung Kadars wirkte wohltuend auf das nationale Sentiment. Nur wenige haben dieses Regime

lieben gelernt seit 1956. Aber man lernte, sich damit abzufinden. Man verstand, daß es gut ist. wenn sich dieses Regime gegen die Geister der Vergangenheit wehrt, die heute Peking heißen.

EIN KONTRAPUNKT MIT großer politischer Wirksamkeit fiel der Regie in den Schoß. Vor einem internationalen Publikum aus Intellektuellen sprach die stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes des kommunistischen China, Frau Han Yi-tung, eine Art Hilde Benjamin Pekings. Sie sprach kalt, persönlich unberührt, daß es mir und wahrscheinlich den meisten der kommunistischen Intellektuellen kalt den Rücken hinunterlief. Zur Zeit der Anwesenheit Chruschtschows in Budapest tagte im Haus der Ungarischen Gewerkschaften der 8. Weltkongreß der „Internationalen Vereinigung demokratischer Juristen“, einer kommunistischen Frontorganisation. Vom ersten Moment an war der Abgrund zwischen der Moskauer Fraktion und den kommunistischen Juristen Asiens weit und unüberbrückbar aufgerissen. Für die Sache Moskaus sprach der Präsident der Vereinigung, Pierre Cot, eine ausgebrannte Leuchte der französischen Volksfront, der wie eine Karikatur auf einen bürgerlichen Pazifisten wirkte, aus einem Magazin des Kommunismus der zwanziger Jahre. Auf der anderen Seite des Abgrunds sprach die Chinesin erbarmungslos, mit unantastbar marxistisch-leninistischer Logik vom Klassenkampf und Krieg.

Die ungarischen Zeitungen berichteten wenig vom Kongreß der Juristen und schwiegen die Rede der Chinesin tot. Sie gehörte nicht zum Bestand der Regie des Besuches Chruschtschows. Doch mit erstaunlicher Schnelle wurde die Rede der Frau Han Yi-tung in ganz Budapest bekannt und projizierte drohend die Geister der Vergangenheit auf den Hintergrund, vor dem Chruschtschow und Kadar ihren neuen Kommunismus des Friedens und der Arbeit vorspielten. Ein Kontrast, wie er von einer kommunistischen Regie nie erfunden und beabsichtigt werden könnte.

Die Alltäglichkeit in Budapest zur Zeit des Besuchs Chruschtschows war ein Erfolg der Regie und der Kommunisten. Es hätte auch anders sein können. Forcierter Enthusiasmus hätte den Haß von 1956 wieder heraufbeschworen und das Szenenbild zerrissen, das Kadar seit 1957 langsam und behutsam aufbaut. Die Menschen in Budapest bewegen sich aber schon im Rahmen der neuen Szene, die Kadar gestellt hat, sie leben sich ein. Die Grundlage ist eine Art Niohtinterventionsabkommen, das Kommunisten und Volk ziemlich bald nach 1956 geschlossen hatten. Die Kommunisten lassen das Privatleben der Burger in Frieden; die Bürger scheren sich nicht allzusehr

um die Politik der Kommunisten, und beide tasten sich den Weg entlang, womöglich vorwärts. Das heißt aber nicht, daß die Bürger in Budapest politisch apathisch sind. Die jungen Intellektuellen sind hellwach und wissen ganz genau den engen Zusammenhang zwischen der persönlichen und kulturellen Freiheit, die sie wollen, und dem Weg der Politik. Sie nehmen an der Politik der Regierung nicht teil, aber sie widersetzen sich ihr auch nicht; interessierte Beobachter. Die jungen Menschen gestehen Kadar erstaunlich viel guten Willen zu. „Er will einen Kommunismus ohne Nägelausreißen“, sagte mir einer. Aber er mußte einschränken: „Die Leute sind noch da, die am Nägelausreißen beteiligt waren, sie haben die Zangen weggelegt Sie beobachten nur.“ Ein anderer ging weiter. „Kadar hat den Willen, einen kommunistischen Humanismus aufzubauen, aber der Kommunismus hat nicht die Organisation dazu und auch nicht die Kraft.“ Überall die Anerkennung Kadars, das Abfinden mit der politischen Situation, doch Zweifel und Resignation, wenn über die Möglichkeiten und über die Zukunft gesprochen wird. Allerdings eher politische Resignation als persönliche. Die jungen Menschen in Budapest leben, und sie haben Ambitionen — auch geistig.

DIE STRASSEN UND GESCHÄFTE in Budapest sprechen noch von Dürftigkeit und Bedürftigkeit. Die Menschen verdienen um rund ein Drittel weniger als in Österreich, so zwischen 1000 Forint für den Hilfsarbeiter und das Ladenmädchen und 2500 Forint für den qualifizierten Arbeiter, Filialleiter und Akademiker. Natürlich gibt es auch Löhne von 3000 und 4000 Forint. Die sind sehr selten. Die Preise einiger elementarer Existenzbedingungen sind sehr niedrig. Man zahlt zwischen 30 und 50 Forint für -echt passable Wohnungen. Doch die Fassaden der Häuser sind in einem erbarmungswürdigen Zustand. Nahrungsmittel und Kleider liegen auf dem Preisniveau der Wiener Randbezirke.

Es dürfte Elend geben in den Fugen des kommunistischen Wohlfahrtsstaates, besonders unter den alten Menschen. Ich sah eine alte Frau eine Orange kaufen, sie nahm Dutzende Orangen in die Hand, ob sie weich und vielversprechend seien, und wählte dann eine, wie man ein Geschenk zu einem Jahresfest wählt. Es gibt Kleinstgeschäfte, in denen alte Frauen verkümmern, und Personenwaagen auf der Leninstraße, hinter denen alte Frauen warten, bis sich einer für 20 Filier wiegen läßt; Restbestände des freien Unternehmertums, Rückzugsgebiete des Elends.

Auf den großen Operationsflächc-n des kommunistischen Staates herrscht aber nicht Warenmangel, auch nicht Elend, sondern gesteuerte Bedürftigkeit. Die Menschen wirken gut ernährt und sind gut angezogen. Die Mädchen bringen das Wunder zustande, schicke Kleider zu tragen, die sehr kurz sind, gepflegt zu wirken, und ihre Beine stecken in dunklen Nylons, von denen das Paar 60 Forint kostet.

Doch Budapest ist arm, wenn man Armut nicht als einen absoluten Begriff nimmt, sondern dort sieht, wo eine große Kluft den niederen Standard vom Durchschnitt trennt, und wenn man Ungarn, als ein Land des westlichen Lebensstils, am westlichen Durchschnitt mißt. Sicher wird der Lebensstandard in Ungarn steigen. Wahrscheinlich auch im Westen, und die Kluft wird bleiben. Je „westlicher“ das Regime sich gestaltet, ahne das Produktionssystem und die Praduktionsorganasation zu ändern, desto drückender diese „Armut“.

DER LEBENSSTIL DER STADT ist bedeutend weniger proletarisch als in Wien. Die Kaffeehäuser sind etwas fadenscheinig, aber noch Kaffeehäuser. Man stellte schon die ersten Sessel und Tische in den Kaffeehausgärten auf, und die Menschen genossen es. Die Monumente und Brücken sind abends sorgfältig beleuchtet und nicht ordinär angestrahlt. An den Ufern der Donau sitzen die Liebespaare den ganzen Abend lang. Vielleicht kommt die Noblesse dieser Stadt aus der Melancholie, die über Budapest an einem Vorfrühlingsabend liegt.

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