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CHRUSCHTSCHOW IN WIEN

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Es geziemt sich, in unserer leichtvergeßlichen Zeit einige Tatsachen festzuhalten. Eine gewisse Wiener Tagespresse hat in den letzten Jahren die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus mit Waffen geführt, die nicht die unseren sind. Halten wir kurz einige Aussprüche eines Wiener Mittagblattes jeweils aus den Wochenend-Ausgaben der letzten Wochen fest:

Wien, Samstag, den 26. September:

„’Vielleicht war es doch nicht ganz falsch, Nikita Chruschtschow nach Amerika einzuladen. Die Erwartung, daß der Anblick der Vereinigten Staaten aus ihm einen Menschen wachen werde, war natürlich unsinnig.“ Wien, Samstag, den 3. Oktober:

„Was hat Nikita Chruschtschow in Amerika erreicht? Nichts. Was hat er dort gewacht? Einen schlechten Eindruck. Das ist die Bilanz seiner Reise.“

Nun, was Chruschtschow in Wien erreicht hat, zeigt die Titelseite desselben Blattes schon wenige Tage später, am 16. Oktober: der Chefredakteur im Bild mit Chruschtschow im Interview. Ueberschrift:

„N. Chruschtschow nach Wien! Abrüstungs-Erklärung für den Chefredakteur des .. “

Das war zur ebenen „Erde". Im „ersten Stock“ — auf weit höherem Niveau — lesen wir folgende Merksätze: . „Zurück aus Moskau", so lichste unter den Persönlichkeiten des deutschsprachigen Theaters ist nach einjährigem schwerem Leiden einer akuten Herzschwäche erlegen. Die Lücke, die er hinterläßt, ist nichlt zu schließen, der Thron, den ihm alle, die Ihn auf der Bühne sehen durften, errichtet haben, wird leer bleiben. Der Thron Richards II., Philipps und Rudolfs …

Vor einem Menschenalter zog er aus, der unscheinbare Pfarrerssohn aus Gestingshausen, um im Laufe eines Menschenalters in kometenhaftem Karrierenflug, der aus Breslau über Aachen, Nürnberg, München, Berlin und Wien in einsame Höhen führte, alle großen Rollen der dramatischen Literatur zu spielen. Zu spielen? Zu leben, zu e r leben, zum überwältigenden Erlebnis zu gestalten: Ungezählte Verwandlungen und Masken und Charaktere und Menschenantlitze, vom Jago bis zum Virchow im Film, vom Peer Gynt über den Julius Cäsar, den Hauptmann von Köpenick und Malvolio zum Faust und Mephisto. Unvergeßliche Figuren des Theater, unvergleichliche Leistungen der Ko- mödiantlk, der Darstellungskraft, des überschäumenden Humors.

Moissi und Reinhardt haben ihn entdeckt. Nun ja, entdeckt — er kam, und war nicht mehr wegzudenken. Er kam wie eine Naturerscheinung über die Menschen. Ein Phänomen der kleinen, der kleinsten Geste und des souveränen Blicks, die genügten, um sich Rolle und Stjick, Bühne und Ztischauerraum untertan zu machen. Ein Taschenipieler der Schauspielkunst. Ein Genie des Theaters.

Jetzt ging er, fünfundsiebzigjährig, unerreicht und unerreichbar. Die Worte fehlen, um den Verlust zu beklagen. Und dennoch: An seiner Bahre stehen drei Generationen, die er beglückt hat, die er beschenkt hat.

„Wir haben viel gesehen auf dieser kurzen und doch so langen Fahrt durch Rußland, und so manches gelernt. Wenn auch ein Großteil unserer Eindrücke… durch die Kürze der Zeit oberflächlicher Natur sein wußten, so werden sich doch viele von uns gezwungen gesehen haben, so manche Klischees und Auffassungen über den großen Koloß, den die Sowjetmacht iw Osten darstellt, zu revidieren… Es wird uns ferner nicht erspart bleiben, uns mit dem sowjetischen Schlagwort von der Koexistenz etwas intensiver auseinanderzusetzen . . .“

Sollen wir uns über diese „neue Schau“ freuen? Mitnichten. Die „Furche" hat, mitunter angegriffen und mißverstanden, einen gewissen „kalten Krieg" nicht mitgemacht — sie war auch jetzt in Moskau nicht dabei — es könnte sein, daß wir in absehbarer Zeit als letzte Antikommunisten gelten werden, da wir, wie zuvor, der Ueberzeugung sind, daß die großen Auseinandersetzungen weitergehen, nur eben in neuen Formen ausgetragen werden müssen: in Formen, wie sie in Oesterreichs Presse und Publizistik weithin noch nicht gefunden sind. Der Mann von der Straße ist in den letzten Jahren in einer Weise mißleitet worden, die mitunter an üble Vorbilder erinnert. Wie war es doch vor genau zwanzig Jahren? Damals wachte er eines Tages auf und erfuhr vom Abkommen des „Führers“ mit der Sowjetunion. Schon kam auch Molotow nach Berlin. Desorientiert schlitterte dieses Volk dann in den Krieg. Wir wissen nicht, was diese „unsere“ Presse morgen schreiben wird, wenn der Wind, aus Ost oder West, sich vielleicht wieder dreht: Demokratie, echte politische Meinungsbildung und politischer Charakter werden auf diese Weise nicht gebildet.

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