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Am Beispiel Bulganins

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Der an Überraschungen gewohnte Zeitgenosse wird von seiner Zeitung doch verwundert aufgeblickt haben, als er von der Anwesenheit des mit Acht und Bann belegten einstigen Ministerpräsidenten Bulganin beim traditionellen Silvesterempfang im Kreml las. Seit Lenin war es nicht mehr vorgekommen, daß eine gestürzte Größe wieder in den Kreis der Sowjetprominenz Zugang finden konnte. Daß sich die Zeiten und Methoden geändert haben, davon zeugt nicht nur diese Sensation auf auf dem Parkett der diplomatischen Bühne, nein, wir bemerken eine Umwälzung, die alle Bereiche des Lebens der sowjetischen Gesellschaft“ “erfaßt, wenn sie auch nicht so spektakulär wie auf dem Gebiet der Politik zum Ausdruck kommt.

Nehmen wir auf dem Gebiet der Literatur den vor einiger Zeit im Westen Furore machenden Dichter Evtuschenko. Man jubelte ihm zu, weil „man“ in ihm den Boten einer neuen Zeit zu sehen glaubte und weil man in ihm die auferstandene russische Literatur, ein entfesseltes Genie zu begrüßen vermeinte. Doch Evtuschenko ist ein moderner junger Dichter, der es verstand, alte Fehler vergangener Jahre geschickt auf- und anzugreifen, mit ein paar gut gezielten Zeilen ins Schwarze zu treffen und durch eine auch für russische Ohren zumindest ungewöhnliche Vortragsweise Erfolge einzuheimsen, ohne daß ihm ein gewisser Grad von Begabung abzusprechen wäre. Im Westen wurde nun mit einer gewissen Überraschung vermerkt, daß im letzten Septemberheft der Zeitschrift „Ju-nost“ (Jugend) ein Gedicht Evtu-schenkos mit dem Titel „Wieder auf der Station Zima“ abgedruckt wurde. So glaubte man denn, daraus den Schluß ziehen zu können, daß Evtuschenko nach seiner Reise in einige westeuropäische Länder, die einen Strom offizieller Rügen in der Sowjetunion auslöste, nicht freiwillig nach Sibirien ging. Es wäre jedoch leicht gewesen, zu erfahren, daß Evtuschenko in der genannten Station geboren wurde, also dort beheimatet ist, und schon einmal über die Station Zima schrieb, ohne daß damals von Verbannung gesprochen worden wäre. Allerdings lassen einige Äußerungen in diesem Gedicht aufhorchen: Über die Liebe zur Heimatscholle führt die Liebe zur größeren Heimat und zur Welt. Und dann bekennt der Dichter, daß er nach Reisen in die Fremde im Staub der Gerüchte und nicht auf hohem Rosse nach Zima zurückgekommen sei, und der Heimat weiter ein treuer Sohn sein wolle. Doch gegen die Schadenfreude muß man standhaft ankämpfen, um zu bestehen. Im Gedicht „Es lachten die Leute hinter der Wand“ zeigt uns der Dichter das Bild vom kleinen Spießer, der seinen einmal großen, doch jetzt gefallenen Nachbar (das Ist der Dichter selbst) verhöhnt.

Evtuschenko, dieses Enfant ter-rible der zeitgenössischen sowjetischen Literatur, ist für den westlichen Beobachter irgendwie zu einem Symbol individualistischen Freiheitsstrebens geworden, und von dieser Warte aus gesehen ist er für den Westen interessanter geworden als für die Sowjetunion selbst, wo er vornehmlich als einer der vielen modernen Stimmungsmacher gilt.

Daß es heute in der Sowjetunion bedeutend leichter ist, trotz vorangehender Verdammung von höchster ßtelle zu überleben und weiter sein Werke veröffentlichen zu können, illustriert beredt der Fall des Schriftstellers Viktor Nekrasov, der vor einiger Zeit die Runde in der westlichen Presse machte.

Es war am 8. März 1963, als Chruschtschow in einer Rede vor Schriftstellern und Künstlern schonungslos gegen Nekrasov folgendermaßen vom Leder zog:

„Manchmal wird die ideologische Klarheit von Literatur- und Kunstwerken unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Rhetorik und Beleh-rungsdrang angegriffen. Am unverblümtesten zeigen sich solche Strömungen in Nekrasovs Skizzen .Diesseits und jenseits des Ozeans', die in der Zeitschrift ,Novyj mir' erschienen.“

Nachdem Chruschtschow noch seiner Empörung über die „in einem aristokratisch-arroganten Ton gehaltenen Äußerungen“ Nekrasovs Ausdruck verlieh, stellte er fest, daß es völlig unzulässig sei, daß ein sowjetischer Schriftsteller einen solchen Ton anschlägt. Einige Monate später, am 21. Juni, nimmt Chruschtschow in seiner Rede vor dem Plenum des ZK der KPdSU wiederum Nekrasov zur Zielscheibe seiner mit unverminderter Schärfe vorgetragenen Angriffe und bezichtigt ihn, die kostbarste Eigenschaft eines Kommunisten, das Parteizugehörigkeitsgefühl, verloren zu haben. „Was soll man in einem solchen Fall machen?“, fragt Chruschtschow, um im selben Atemzug auch gleich die Antwort zu geben: „Es ist klar, daß man solche Leute... korrigieren muß.“

Doch wie staunt der westliche Leser, von demselben Nekrasov, den er ob des von höchster Stelle ausgesprochenen vernichtenden Urteils längst in der Versenkung verschwunden wähnt, im Novemberheft des „Novyj mir“, Jahrgang 1963, zwei Erzählungen, „Der Neuling“ und „Aus dem Notizbuch“, abgedruckt zu sehen!

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