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Die Selbstkritik blieb aus

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Der kürzlich in Moskau mit allen Anzeichen des Ungewöhnlichen über die Bühne gegangene Prozeß gegen die Schriftsteller A. D. Sinjawskij und J. Daniel ließ vor allen wegen der kompromißlosen Härte des Urteils und einer der Gerichtsverhandlung vorangegangenen leidenschaftlichen Verdammung der Angeklagten in der Sowjetpresse die Welt in Ost und West aufhorchen. Was war geschehen? Sind die Urteile die ersten Hinweise auf eine Verschärfung des Kurses in der sowjetischen Kunst und Literatur? Ein Rückfall in die Zeit der schrecklichen Jahre? So oder ähnlich fragten sich bestürzt Schriftsteller, Künstler oder Beobachter, die zuweilen vermeinen, in Rußland das Gras wachsen zu hören.

Ein realistisches Bild

Der Pall Sinjawskij und Daniel: Vergleicht man diese zwei Schriftsteller mit allen anderen verfolgten russischen Dichtem, so kann man sich der Tatsache nicht verschließen, daß diese ausnahmslos, erst nachdem sie zu Berühmtheit gelangt waren, unter Verfolgung zu leiden hatten, das heißt, sie waren zumindest in Rußland bekannt geworden und haben erst dann Werke verfaßt, derentwegen man sie später verfolgte; so veröffentlichte Tolstoi erst nach seinem „Krieg und Frieden” Schriften, welche das Mißfallen der Behörden erregten. Aber all diese Dichter bekannten sich mit ihrem Namen zu ihren Werken; weder Puschkin noch Gumilew, der übrigens im Sowjetgefängnis noch zarentreue Gedichte unter seinem Namen schrieb. Keinem dieser Dichter wära es eingefallen, ihre Bücher unter einem Pseudonym und noch dazu im Ausland zu veröffentlichen, obwohl die Zensur im Rußland des 19. Jahrhunderts alles eher als nachsichtig und großzügig war. Sie wußten, was ihnen in einem solchen Fall drohte, nahmen ihrer schriftstellerischen Überzeugung zuliebe das Risiko der Verfolgung auf sich und wurden so echte Opfer ihres Glaubens; die aufrichtige Wertschätzung und Hochachtung des Volkes war ihnen sicher. Wir können ohne weiteres annehmen, daß auch Daniel und Sinjawskij ihrer Heimat aus tiefer Überzeugung durch einen wahren und kritischen Bericht dienen wollten. Sie sahen darin, daß sie sich insgeheim einem ausländischen Verleger anvertrauten, den einzig möglichen Weg, der Welt ein realistisches Bild vom Leben in ihrer Heimat zu vermitteln und auf Grund des zu erwartenden Wider-

halls die Verhältnisse in dieser ihrer Heimat korrigieren zu helfen. Sicherlich wußten sie dabei, was sie erwartete, falls sie indentiflziert würden.

Die Sowjetpresse nahm in ihren Attacken vor allem Sinjawskij aufs Korn und warf ihm ganz besonders vor, einerseits Lobeshymnen — etwa auf Gorkij — zu schreiben und unter dem Pseudonym Abram Tertz den gleichen Gorkij als einen Feind des Besten der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts darzustellen.

Im Hinblick auf das Gewicht, das seitens der sowjetischen Behörden dem Prozeß beigemessen wurde, ist es angezeigt, sich auch mit dein Personen der Verurteilten etwas näher zu befassen:

Daniel war bis zu seiner Verhaftung schon im Hinblick auf seine Tätigkeit als Übersetzer in der So-wjetliteratur eine wenig bekannte Erscheinung und wäre es wohl auch geblieben; der Prozeß aber machte ihn weltbekannt, und seine Werke erfreuen sich daher bei Freund und Gegner einer gesteigerten Nachfrage. Es würde wohl mancher mittelmäßige Literat viel dafür geben, könnte sein Name aus dem Meer der Namenlosen in ähnlich kometenhafter Weise emporsteigen und sich einen festen Platz an der Sonne erobern.

Weg vom Klischee

Komplizierter ist schon der Fall A. D. Sinjawskijs, der immerhin Vortragender am Gorkij-Institut in Moskau war; das ist eine bedeutende Stellung im Reich der sowjetischen Literatur, denn das Gorkij-Institut ist eine der führenden und exklusivsten Hochschulen der Sowjetunion. Dorthin zu gelangen ist eine Auszeichnung, um die sich Tausende bemühen, aber nur wenigen gelingt es, durch das engmaschige Sieb der Auslese zu dringen. Gelingt dies aber einem Bewerber, so ist er ein gemachter Mann, denn dieses Institut muß absolviert werden, um Schriftsteller oder Journalist werden zu können. Bei dem hohen Ansehen, das die Literatur seit jeher in Rußland genießt, kann man sich auch die Bedeutung dieser Literaturhochschule leicht vorstellen. Dementsprechend ausgesucht ist auch der Lehrkörper dieses Instituts: Und hier war Sinjawskij, wie das demonstrative Eintreten einer Anzahl von Stundenten dieses Instituts für ihn schon während seiner Untersuchungshaft im Dezember beweist, beliebter Vortragender. Er hatte es verstanden, seine Studenten mitzu- reißen und ihnen geistiger Führer zu sein. Gleichzeitig ist aber Sinjawskij als bekannter Literarhistoriker zu nennen. Seine bedeutendsten Arbeiten über Gorkij und Bagrickij sind aber ein klassisches Beispiel dafür, wie man sich hinter hohlen Phrasen verstecken kann und wie ein echter Schriftsteller nicht schreiben soll. Im großen und ganzen bestehen nämlich diese Arbeiten aus Klischeesätzen, die man nach Belieben mischen kann, eine Kunst, die Sinjawskij wohl virtuos beherrscht, die jedoch nichts Besonderes für einen begabten Menschen ist Diese Klischeemanie, die zwar auch in der Sowjetunion als unwürdig und hohl angegriffen wird, ist jedoch sehr bequem, wenn man die Klaviatur so gut beherrscht. Und doch mußte es für einen begabten Menschen vom Schlage Sinjawskijs eine wahre Qualsein, so zu schreiben. Das Klischee ist ein überaus ernstes Problem für das schöpferische Geistesleben der Sowjetunion; es ist eine Erscheinung, die sich nur in einer unter ständigem Druck befindlichen, keinen Spielraum übriglassenden Gesellschaftsordnung in so reichem Maße entwickeln konnte und die noch immer das Denken und Handeln vieler der heute führenden Köpfe der älteren Generation bestimmt.

So nimmt es nicht wunder, daß ein weltaufgeschlossener „angry young man” sich aus der schwülen Atmosphäre der Klischees Luft zu schaffen, dem Bisherigen etwas vollkommen Entgegengesetztes zu tun sucht. Schon die Idee, sich einen jüdisch klingenden Namen „Abram Tertz” (die Juden werden in der Sowjetunion öfters „Abrascha” — Abkürzung für Abraham — genannt) zuzulegen, klingt mehr nach einem Witz, und der ganze Angriff gegen Marxismus und Leninismus kann wohl als eine natürliche Reaktion auf die dogmatische Sturheit, auf das Klischeehafte gewertet werden. Auch darin haben wir, die wir es als Selbstverständlichkeit betrachten, daß jedermann seine Ansichten ohne Gefahr der Beschneidung seiner persönlichen Freiheit publizieren darf, einen neuen, urplötzlich ins grelle Licht der Weltöffentlichkeit gerückten Akzent in der Einstellung der jungen russischen Schriftstellergeneration zu sehen: das Ausbrechen um jeden Preis aus dem geistigen Ghetto des Klischees. Noch ein weiteres Faktum setzte die Weltöffentlichkeit in Erstaunen, etwas, das in früheren Zeiten untrennbar zu einem Schauprozeß gehörte: die zerknirschte Selbstkritik und Selbstbeschiuidigung der Angeklagten. Selbst nach monatelanger Untersuchungshaft hatten sie bei der Gerichtsverhandlung noch die Kraft, der Frage des Gerichtshofvorsitzenden, ob sie sich im Sinne der Anklage als schuldig bekannten, ihr „Njet” entgegenzuhalten. Und Sinjawskij ging in seinem Schlußwort so weit, daß er, statt reuig Selbstkritik zu üben, in leidenschaftlichen Worten für die freie Meinungsäußerung der Schriftsteller eintrat und für sich das Recht forderte, Nichtmarxist sein zu dürfen, ohne deswegen als Gegner des Regimes gebrandmarkt zu werden. Wahrhaft an den ideologischen Grundfesten rüttelnde Worte und ein absolutes Novum in der neueren Geschichte sowjetischer Strafprozesse.

Märtyrer und Bestseller

Man mag vielleicht einwenden, es sei taktlos und hinterhältig, seine Heimat, noch dazu vom Ausland aus und versteckt hinter einem Pseudonym, derart anzugreifen; aber ist nicht die Heimat selbst daran schuld, wenn sie ihre begabten Söhne dazu zwingt, ihre — wenn auch divergierende — Meinung auf diesem — man ist fast versucht zu sagen, heute nicht mehr ganz ungewöhnlichen — Weg der Welt bekanntzumachen, sich etwas frische Luft zu schaffen und die langweiligen Klischees einmal abzulegen, abzugehen vom alten Denken? Schließlich sollte man meinen, es könne einer von ihrer absoluten Richtigkeit überzeugten Gesellschaftsordnung nichts anhaben, wenn sie sich einige Schattenbilder und philosophische Kritik leistet, statt Märtyrer zu schaffen. Die Russen haben diesbezüglich genug Erfahrung aus ihrer eigenen Geistesgeschichte und wissen ganz genau, wie gefährlich das unterdrückte Wort eben für die Unterdrücker werden kann.

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