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Die Verunsicherung der Willkür

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Weil die sowjetischen Schriftsteller Andrej Sinjawski und Julij Daniel ihre literarischen Werke im westlichen Ausland erscheinen ließen, wurden sie 1966 wegen „antisowjetischer Propaganda“ zu sieben beziehungsweise fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Seit Mitte 1972 befinden sie sich wieder in Freiheit. Berichte über ihre Lagerjahre gelangten kürzlich in den Westen.

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Weil die sowjetischen Schriftsteller Andrej Sinjawski und Julij Daniel ihre literarischen Werke im westlichen Ausland erscheinen ließen, wurden sie 1966 wegen „antisowjetischer Propaganda“ zu sieben beziehungsweise fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Seit Mitte 1972 befinden sie sich wieder in Freiheit. Berichte über ihre Lagerjahre gelangten kürzlich in den Westen.

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Der Prozeß gegen die beiden Schriftsteller und das harte, unangemessene Urteil waren ein deutlicher Schlußpunkt hinter die Tauwetterperiode der Chruschtschow-Ära und zugleich der Anfang einer Solidari-sierungsbewegung unter der sowjetischen Intelligenz, die sich noch immer fortsetzt. Bereits kurz nach ihrer Verhaftung fand eine zweihundertköpfige Demonstration statt, bei der für die Einhaltung der Rechts-

und Verfassungsgarantien in der UdSSR plädiert wurde. 62 bekannte Literaten bezeichneten den Prozeß in einem offenen Brief als:;„außer-ordentlitfh gefährlichen Pcäzendeiiz-fall“, der sowjetische Oppositionelle Alexander Ginsburg gab ein Weißbuch über den Prozeß heraus, in dem er die unrechtmäßige Prozeßführung dokumentierte. Obwohl diese Protestaktionen am Urteil nichts ändern konnten, schärften sie doch das Rechtsempfinden der Intelligenz und verunsicherten das Regime, das seine Willkürakte einer plötzlichen und unerwarteten Kritik ausgesetzt sah.

Die Lagerjahre verbrachten Sin-jawski und Daniel in den mordwinischen Wäldern, etwa 500 km nördlich von Moskau, einer sumpfigen, unwirtlichen Region, in der es nicht einmal Straßen gibt — die einzelnen Lager sind durch Bahngeleise miteinander verbunden. Während der ganzen Lagerzeit trafen sich Sinjaw-skij und Daniel nur ein einziges Mal. Sinjawski verbrachte die Anfangszeit in einem kleinen Lager tief in den Wäldern; die Insassen waren keine politischen Häftlinge, auch keine Kriminellen, sondern Angehörige der verschiedensten religiösen Sekten, die in der Sowjetunion verboten sind — Zeugen Jehovas, Baptisten, Adventisten und andere. Manche von ihnen hatten schon Jahrzehnte in Lagern verbracht. Bin Gefangener fragte einmal einen der Männer: „Wie lange bist du schon im Lager, Großvater?“ „Seit 43 Jahren“, antwortete der weißhaarige Mann. „Dann kennst du also das Sowjetregime so gut wie gar nicht?“ fragte der andere Häftling. „Gott hat mir seine Gnade hier gezeigt“, lautete die Antwort. Die geistige Festigkeit der Gefangenen und ihre kameradschaftliche Solidarität entsprachen Sinjaw-skis eigener Stimmung recht gut. Die russisch-orthodoxe Religion und das Problem der zahlreichen Sekten in Rußland hatten ihn schon früher interessiert. Nun befand er sich in einer lebendigen Enzyklopädie über dieses Thema. Nach einem ruhigen Jahr bei den Holzfällern wurde er in das Hauptlager der Region versetzt. Hier war eine bunte Schar von sowjetischen „Verrätern“ versammelt: Leute, die im Krieg mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten und nun das dritte Jahrzehnt

ihrer Strafzeit abbüßten, ukrainische Guerillakämpfer der Nachkriegszeit, andere antikommunistische Nationalisten und intellektuelle Abweichler neuesten Stils aus den Städten arbeiteten Seite an Seite mit gewöhnlichen Kriminellen in einer Möbelfabrik. Später wurde Sinjawski noch einmal versetzt.

Die Gefangenschaft empfand er nicht als bloß sinnlose Strafe: er lernte die Extreme des religiösen Gefühls, die farbige und furchteinflößende Welt der Diebe und Verbrecher, Tod und Krankheit in ihren absoluten Formen kennen. Diese Bereiche waren ihm während seiner Tätigkeit als erfolgreicher Literaturkritiker verborgen geblieben. Während dieser Jahre wuchs Sinjawskis Sohn heran. Er war bei der Verhaftung seines Vaters ein Jahr alt gewesen. Sinjawskis Abwesenheit wurde dem Kind mit einer „langen Studienreise“ erklärt, und vielleicht enthielt diese elegante Erklärung ein Kömchen Wahrheit. Sinjawski sagte später, er sei sich manchmal selber wie auf einer etwas ungewöhnlichen und doch fesselnden Studienreise vorgekommen.

Fast während seiner ganzen Lagerzeit arbeitete Sinjawski als Holzauflader. Er zog diese manuelle Tätigkeit etwa der eines Hilfsbibliothekars vor, denn eine solche Propagandaarbeit war ihm mehr zuwider als körperliche Schwerarbeit. Hungern mußte er nie, doch litt er bald an Vitaminrnarvgelkrankheitsen., Außerdem bot ihm die Tätigkeit als Holzauflader wegen der häufigen'Arbeit*--' pausen viel freie Zeit, die er vor allem zum Schreiben nutzte. Schreiben ist im Lager nicht verboten, aber literarische Manuskripte werden den Häftlingen natürlich abgenommen. So schrieb Sinjawski „Briefe“, deren Länge unbeschränkt war. Seine Frau erhielt regelmäßig zweimal im Monat fünfzehn bis zwanzig engbeschriebene Seiten. Sinjawski schrieb nicht über das Leben im Lager, sondern über russische und westliche Kultur, eine ausgedehnte Untersuchung über Puschkin und Gogol, die er nun in einem neuen Zusammenhang sah, vor dem Hintergrund der seltsamen und komischen Geschichten, die unter den einfachen und ungebildeten Gefangenen über sie im Umlauf waren. Auch die Lagerfolklore — vor allem Lieder, Sprichwörter, farbige

Intellektueller Sinjawski: Gefangenschaft ist nicht bloß Strafe

Anekdoten — ging in Sinjawskis Briefe ein. Er beklagte sich weder über das Essen noch über die Wachen, noch über die harte Arbeit. Als Gegenleistung ließ die Lagerleitung die Briefe ungekürzt hinaus.

Schließlich wuchsen diese Botschaften auf 1500 Seiten an und bildeten nach seiner Entlassung die Grundlage für seine neuesten literarischen Arbeiten, vor allem für seinen neuen

400 Seiten langen Roman „Eine Stimme aus dem Chor“. Das Buch steht in der langen Tradition der russischen Gefängnisliteratur, die von Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ bis zu Solsche-ntzyn reicht, behandelt aber das Thema in völlig neuer Form. Der Roman beruht auf der Gegenüberstellung zweier Elemente, der „Stimme“ als dem individuellen Gedankenfluß, und dem Chor, der den polyphonen Lärm des Lagerlebens zum Ausdruck bringt. Die „Stimme“ überlegt, argumentiert oder erzählt, und der Chor unterbricht sie mit beißenden Bemerkungen, Jargonausdrücken, Bruchstük-ken ausschweifender Gefängnislieder, Anekdoten und Geschichten. Berichten zufolge vermittelt die Lektüre von „Eine Stimme aus dem Chor“ das Gefühl, den betäubenden Lärm Russlands selbst zu hören, die Stimme eines Volkes, dessen phantastische Gaben durch weniger phantastische gesellschaftliche Verhältnisse verstümmelt worden sind.

Wie Sinjawskis Leben weitergehen wird, ist unbestimmt. Heute lebt er mit seiner Familie in Moskau. Natürlich ist in der offiziellen Sowjetliteratur kein Platz für ihn. Wird er das Risiko eingehen und seinen neuen Roman im Ausland erscheinen lassen?

Julij Daniel ist eine ganz andere Persönlichkeit als Sinjawski und die Gefangenschaft hatte deshalb auch eine völlig andere Wirkung auf ihn. Verhielt sich Sinjawski kontemplativ und nachdenklich, so reagierte Daniel äußerst lebhaft auf die Rechtlosigkeit des Lagerlebens, protestierte immer wieder gegen Ungerechtigkeiten, kämpfte für die anderen Lagerinsassen, seine neuen Freunde, die gedemütigt wurden, hungerten, nach der Abbüßung ihrer Strafen zu neuen Strafen verurteilt wurden. Seine rebellische Stimmung brachte ihn in ständige Konflikte mit der Lagerverwaltung, die ihn häufig in Strafzellen versetzte und schließlich in das berüchtigte Wladimir-Gefängnis, wo die Essensrationen, die Zahl der Verwandtenbesuche und die der erlaubten Briefe auf die Hälfte gekürzt waren.

Wie Sinjawski, schrieb auch Daniel während der Lagerzeit, allerdings Gedichte. Diese gelangten in den Samisdat und auf irgendeine Weise fanden sie auch den Weg in den Westen. Eines dieser Gedichte unter dem Titel „In biblischer Tonart“ ist bezeichnend für Daniels exponierte, kämpferische Position innerhalb der sowjetischen Gesellschaft:

Dos aber sei euch gesagt: Wer Ich Bin

Größe — 1,77 Gewicht — 66 Meine Hände: zart Meine Muskeln: dünn Die Arbeit ist hart Die Norm macht mich hin 40 Jahre alt Meiste Zeit gelebt Zuviel Lehrgeld gezahlt Gekämpft und gebebt Gegen MICH die Truppen Gegen MICH Bajonette GeatritMlCH die Trauer (Meine Hände: zart) Alle Rundfunksender . Haben vor mir gewarnt Graue nasse Kellerwände

Haben mich umarmt Man kann mich zerschmettern Und vorwerfen jedem Hund Der wird mein Fleisch zerfleddern Meine 132 schwachen Pfund Man kann mich auseinandernehmen Und wieder zusammensetzen Man kann die kochende Volksseele zähmen Oder beliebig auf mich hetzen Man kann mich jederzeit

schnappen Mit dem Staatsapparat und noch

Ein Drittel meines Leben

kappen (bin 1,77 hoch)

Ein Sieg ist für mich nicht drin Hab Mitleid mit dir, Daniel (Meine Muskeln: dünn) Gerben kann man mein Fell Man kann mir das Licht ab-drehn

Man kann auch noch härter sein

Man kann ... man kann..:? Nein!

Das bin ich: die Unperson (Größe 1,77)

Menschlichkeit — ich bin Dein Schützengraben (Gewicht: 66) Ich bin der Sehschlitz (Meine Hände: zart) Und deiner Kanone Kugel (Meine Muskeln: dünn) Bin Stein in deiner Schleuder

Auch Daniels Zukunft ist völlig unbestimmt und auf keinen Fall rosig. Da er Jude ist, wäre es für ihn möglich, aus Rußland nach Israel zu emigrieren. Vorschläge dieser Art bebeantwortete er jedoch mit einem kategorischen Nein. „Ich bin zu sehr an Rußland gebunden“, sagte er. „Seine Kultur ist ein Teil von mir. Ich werde nie in einer anderen Sprache schreiben können. Und dann gibt es noch andere Gründe.“ Diese anderen Gründe sind wohl seine Freunde, jene, die noch immer hinter Stacheldraht leben, und jene, die, dieses Schicksal jederzeit treffen kann. So paradox es klingen mag, vielleicht verbindet gerade die Lagerhaft Daniel besonders eng mit Rußland.

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