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Das Gewissen Rußlands

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Nun ist es bereits wieder etwas stiller um Alexander Solschenlzyn und seine „in den Kreml geworfene Buchbombe“ geworden. Die Journaille, für die er wochenlang die Sensation gewesen ist, hat sich längst wieder anderen Objekten zugewendet. Ein Dichter, der nichts als die Wahrheit schreibt, ist langweilig, ein Systemgegner, der nicht mehr inmitten des Grauens haust, ist uninteressant. (Solschenizyns Buchtitel konnte gerade noch zur albernsten aller Farcen herhalten, als die Studenten der Wiener Musikhochschule mit ihrer Aktion Archipel Gulasch gegen zu hohe Mensa-Preise protestierten.)

Dieses Buch fällt völlig aus dem Rahmen der bisherigen Werke Solschenizyns. Von der historischen Retrospektive August 14 abgesehen, gaben seine Romane eigene Erfahrungen und Erlebnisse aus dem Lagerleben in objektivierter epischer Form wieder. (Solschenizyn hat elf Jahre in Lagern verbracht.) Archipelf Gulag (das der Lagerhauptverwaltung unterstehende Inselreich der Straflager) ist zunächst eine Chronik der Jahre 1918 bis 1956, eine Übersicht über die Ströme von Millionen Verhafteter und Deportierter, die durch die „düsteren stinkigen Rohre unserer Gefängniskanalisation geschleust“ wurden, wie es der Autor formuliert. Es ist weiters eine Auseinandersetzung mit dem Sowjetregime, der Versuch einer Geschichte des Staatssicherheitsdienstes, der Tscheka, GPU, NKWD, um festzustellen, wie es zur Entstehung des unheimlichen Inselreiches und zur Ausrottung von Millionen Menschen kommen konnte. Das Buch enthält ferner ein Stück schonungsloser Autobiographie: Verhaftung, Verhör, Verurteilung, Irrfahrten von Lager zu Lager, die wachsende Selbsterkenntnis des einstigen Gläubigen der Revolution, der lange und für alles eine Rechtfertigung gefunden hatte. „Wo sind nur Groß-mutters Unterweisungen vor der Ikone geblieben! Und wo die Träume des kleinen Pioniers über das künftige Reich der Gleichheit!“

Solschenizyn hat den Archipel Gulag zwischen 1958 und 1968 geschrieben, in den Jahren, als auch die Krebsstation und Der erste Kreis der Hölle entstanden sind. Seine Möglichkeiten, in die Vergangenheit vorzudringen, waren beschränkt, die offiziellen Archive ihm verschlossen. Über seine Hauptquelle sagt er im Vorwort: „Dieses Buch allein zu schaffen, hätte ein einzelner nicht die Kraft gehabt. Außer dem, was Ich vom Archipel mitnahm, am Leib, im Gedächtnis, durch Aug und Ohr, dienten mir als Material die Erzählungen, Erinnerungen und Briefe von 227 Personen... In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen, noch erfundene Ereignisse. Menschan und Schauplätze tragen ihren eigenen Namen.“ Da das verborgene Manuskript in die Hände des Sicherheitsdienstes geraten war, der den Verrat des Verstecks aus Solschenizyns ehemaliger Sekretärin erpreßt hatte, kam es zur überraschenden Veröffentlichung, um so wenigstens die in dem Buch namentlich Genannten vor Repressalien zu schützen. Die Wiedergabe dieser Berichte bilden den wichtigsten Kern des Buches, das im Grunde kaum bisher unbekannte Tatsachen oder Enthüllungen bringt. Aber in den Hunderten von nacherzählten Schicksalen erweist sich Soscheni-zyn als der große Schriftsteller und Menschendarsteller; die anschaulich geschilderten Tragödien Einzelner stehen stellvertretend für Millionen von Hingerichteten und zu Zwangsarbeit Verurteilten.

Solschenizyn geht bei seiner Abrechnung mit dem Sowjetregime nicht von den späten dreißiger Jahren aus, als der vernichtende Schlag gegen die Spitzen der Partei, der Verwaltung, des Militärs und die obersten Funktionäre der GPU-NKWD geführt wurden, sondern von 1917. Er sieht nicht in Stalin den allein Schuldigen, den Urheber des Terrors, sondern bereits in Lenin, dem Gründer der Tscheka. Im Jänner 1918 hatte Lenin als gemeinsames, einheitliches Ziel „die Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer“ gefordert. Was alles damals der Bezeichnung „Ungeziefer“ zuzuordnen war, ist heute in vollem Umfang nicht mehr festzustellen. Am 17. Mai 1922 (zehn Tage vor seinem ersten Schlaganfall) schrieb Lenin in einem Brief: „Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen — das zu versprechen wäre Selbstbetrug oder Betrug —, sondern ihn grundsätzlich, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern.“ Und in einem Brief Lenins an den Tscheka-Chef Dserschinski vom 19. Mai 1922 heißt es: „Zur Frage der Ausweisung von Schriftstellern und Professoren, die der Konterrevolution helfen. Dies muß sorgfältig vorbereitet werden.Ohne Vorbereitungen werden wir Dummheiten machen ... Die Sache muß so organisiert werden, daß diese „Kriegsspione“ beständig und systematisch aufgespürt, gefangen und ins Ausland geschickt werden.“ Das geschah denn auch, und Ende 1922 wurden rund 300 der führenden russischen Geisteswissenschaftler ins Ausland abgeschoben, darunter so prominente wie Berdjajew, Stepun, Bulgdkow u. a. Schon Gorfci hatte von ihm den Rat bekommen, sich nicht „durch das Gewinsel verrotteter Intellektueller aufreiben“ zu lassen.

Das Kapitel Die Geschichte unserer Kanalisation bringt die kaum faßbare Übersicht über die drei großen Gefangenenströme (neben zahllosen kleineren), welche die „Rohre unserer Gefängniskanalisation beinahe zum Bersten brachten“. Weitere Abschnitte des Buches gelten der nie abreißenden Reihe von Schauprozessen. 1929/30 wurden mehr als 15 Millionen Muschiks mitsamt ihren Familien, ohne jede Habe, in die nördliche Einöde der Tundra und Taiga verschickt, primitive Bauern, „weder der Sprache noch des Schreibens kundig. Sie schrieben keine Memoiren“. „Kein Verbrechen Stalins wog schwerer als dieses“, kommentiert Solscheni-zyn. „Die ganze russische Geschichte hat nichts auch annähernd Vergleichbares anzubieten. Es war eine erzwungene Völkerwanderung, eine ethnische Katastrophe.“ Sein lakonischer Kommentar zu einem der „kleineren“ Ströme: „Die totale Ausmerzung der Religion ... eines der Hauptziele der GPU-NKWD während der zwanziger und dreißiger Jahre, konnte erst durch Massenverhaftung unter den orthodoxen Gläubigen erreicht werden.“ Die am Beichtgeheimnis festhaltenden Priester fielen unter „Spitzeldienstverweigerer“. „Die Organe hatten rasch begriffen, daß aus der Beichtgewohnheit der einzige Nutzen der Religion zu ziehen wäre.“ „Du kannst in voller Freiheit beten, doch ... daß nur Gott allein dich hört“, verkündete eine Dichterin. Sie bekam zehn Jahre wegen des Gedichts.

Der Strom des siebenunddreißiger Jahres schwemmte weitere Straf-lingsscharen in die Lager des unersättlichen Archipels. Dazu kamen die Hinrichtungen. Es gibt zwar keine Sonderarchive, die genaue Zahlen liefern würden (oder sie stehen unter Geheimnisschutz), aber laut Berichten von damals gestürzten hoch- und mittelrangigen Parteileuten sollen 1939/40 eine halbe Million „Politischer“ und 480.000 Krimineller erschossen worden sein. Da die Exekutionen nicht in zwei sondern nur in eineinhalb Jahren abgewickelt wurden, ergibt sich eine durchschnittliche Monatsziffer von 28.000 Hinrichtungen. Andere Gerüchte sprechen von 1,7 Millionen Erschießungen bis Ende 1938. Es gab weit mehr als 150 Exekutionsorte. Folter- und Erschießungskammern wurden u. a. in früheren Einsiedlerzellen unterhalb der Kirchen eingerichtet. Seitenlang mutmaßt der Autor über die Empfindungen der Verurteilten in den Todeszellen: „Den Menschen gibt es nicht, dessen Phantasie gereicht hätte, sich, sagen wir, die Todeszellen des Jahres 1937 auszumalen. — Was soll also die Literatur mit ihrem Wissen um die Todesqualen.“ Und er muß schon den Namen des großen Stromes zum Vergleich heranziehen: „Eine Wolga von menschlichem Leid!“ Bitter klingt die Schlußfolgerung: „Es fehlte uns an Freiheitswillen. Und vorher noch — an Einsicht in die wahre Lage der Dinge. Wir hatten uns in dem ungestümen Aufbruch des Jahres 17 verausgabt und beeilten uns danach, wieder gefügig zu werden, fanden Freude daran, wieder gefügig zu sein. — Wir haben alles weitere einfach verdient.“ Den Satz: ,3s hat niemals leere Gefängnisse gegeben, entweder volle oder überfüllte“ ergänzt er mit der glaubhaften Schätzung, daß nie mehr als 12 Millionen Gefangene gleichzeitig in den Lagern untergebracht waren. (Nach Unterlagen der Sozialdemokraten Nikolajewski und Danilin hätte man mit 15 bis 20 Millionen zu rechnen.) Zornig klingt, was er an die Adresse des Westens zu sagen hat, über die Hinterhältigkeit der Amerikaner und Engländer bei der zwangsweisen Auslieferung von Sowjetbürgern nach Kriegsende, über die „Kurzsichtigkeit, ja sogar Dummheit“ von Roosevelt und Churchill auf der Konferenz von Jal'ta, über die „überhebliche Sturheit“ der Deutsohen, die den russischen Hilfstruppen nichts anderes erlaubten, „als für ihr REICH zu sterben“.

Und dann setzt er zur alle westlichen Sinne verwirrenden Schilderung des Lageralltags an: „Wo in einer Zelle von der Größe eines mittleren Wohnzimmers 100 Menschen untergebracht waren, nachts bei grellem Lampenlicht einer am andern klebend, nackt, schwitzend, von Fliegen und Wanzen zerbissen. Wo es für Ruhr, Flecktyphus keine Medikamente gab, Kriminelle sich als Sanitäter betätigten, den Toten die Goldzähne ausrissen und sich auch bei den Lebenden keinen Zwang antaten. Wo jede Häftlingssolidarität aufhörte, tagsüber alles im Laufschritt geschehen mußte, kein Geschirr zum Essenfassen vorhanden war und sie einem den Schöpfer voll des Fraßes aus Graupenhäcksel und Fischgräten einfach in die Mütze oder in das druntergehaltene Gewand schütteten, und das Allerschändlichste: wo in der zwanzigfach überfüllten Zelle der Pißkübel fehlte und sie einen nur einmal am Tag zum Austreten holten.“ „Die Phantasie des Schriftstellers versagt“, stöhnt der Autor immer wieder, „versagt aufs kläglichste vor dem Alltag der Eingeborenen des Archipels.“

Der letzte große Strom in den GULAG setzte im Frühjahr 1945 naoh Kriegsende ein und hielt jahrelang an. Bitter und hart wurde bestraft, wer in Europa gewesen war. Als Kriegsverbrecher wegen „Väterlandsverrat“ pauschal angeklagt und verurteilt wurden alle heimflutenden russischen Kriegsgefangenen und Ostarbeiter. Die Kanäle des GULAG fingen auch noch die Ströme russischer Emigranten aus Europa und der Mandschurei auf. Den echten Gegner des Sowjetsystems, den Wlassow-Leuten und Krasnow-Kosaken, wurde allerkürzester Prozeß gemacht. Gerechtigkeitshalber sei erwähnt, daß 1947, erstmals seit 30 Jahren, Priester freigelassen wurden — . „zwecks Festigung der wiederaufzubauenden Kirche“.

Inmitten der Anklagen betreibt Solschenizyn seine eigene Gewissenserforschung, fragt nach dem Ursprung der „Wolfsbrut“ im Volke, der „Zehntausenden auf Folter und peinliche Befragung gedrillten Menschenbestien an Millionen von Opfern“. Und fragt: „Was, wenn mein Leben anders verlaufen wäre — wäre nicht aus mir ein gleicher Henker geworden?“ Er forscht nach dunklen Punkten in seinem Leben und erzählt eine Episode, als er bald nach seiner Verhaftung und Degradierung als Hauptmann einfach darüber hinwegsah, „wie ein Sergeant des Sonderdienstes einen gefangenen Wlassow-Russen mit seinem Pferd vor sich hertreibt, immer wieder seine Knute über den blutüberströmten nackten Leib seines Opfers sausen läßt, ein wehrloser Mensch, wie ein Stück Vieh weitergetrieben. Dieses Bild ist mir für immer geblieben. Denn es ist beinahe ein Symbol des Archipels und würde bestens auf den Buchumschlag passen.“

Das ist das wichtige, das mutige Buch eines Gerechten unter Millionen — und völlig unbrauchbar für eine antisowjetische Hetze. Man hat Alexander Solschenizyn das Gewissen Rußlands genannt — er ist es nicht nur Rußlands, denn er spricht für den Menschen schlechthin in seiner Frage nach der ganzen Wahrheit und seinem leidenschaftlichen Protest gegen jede Gewalt und Unterdrückung. Und so endet das Buch mit einer Frage: „Wird nicht gerade hier in den Gefängniszellen die große Wahrheit gewonnen? Eng ist die Zelle, doch noch enger vielleicht die freie Welt?“

DER ARCHIPEL GULAG: Von 1918 bis 1956. Von Alexander Solschenizyn. Versuch einer künstlerischen Bewältigung. Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Anna Peturnig. Scherz-Verlag, Bern, 608 Seiten, S 148.40.

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